Entscheidungsdatum
22.03.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W115 2118035-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:
A)
I.
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
II.
Der Antrag auf unentgeltliche Beigabe eines Verfahrenshelfers wird gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG iVm § 8a VwGVG iVm § 52 Abs. 1 BFA-VG als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.1. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Befragt zu seiner Religionszugehörigkeit gab der Beschwerdeführer an, dass er nur an Gott glaube. Seine Muttersprache sei Dari. Er beherrsche aber auch die Sprache Farsi in Wort und Schrift. Er sei in Afghanistan in der Provinz XXXX geboren und habe dort bis zu seinem sechsten Lebensjahr gelebt. Danach sei er gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gezogen. Dort habe er von seinem siebten bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr die Schule besucht. Danach habe er als Schuhmacher gearbeitet. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig sei und keine Kinder habe. Seine Eltern, seine fünf Schwestern sowie sein Bruder würden alle im Iran leben. In Afghanistan habe er niemanden mehr. Seine Familie habe Afghanistan verlassen müssen, da seine Mutter Sängerin gewesen sei. Sie habe auch auf Hochzeiten gesungen. Seine Familie sei sehr modern und habe deswegen Probleme bekommen. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er im Iran beim Sex mit einem anderen Mann erwischt worden sei. Aufgrund dieses Vorfalles habe die Polizei nach ihm gesucht und er habe den Iran verlassen müssen. Vor ca. vier Monaten habe er schlepperunterstützt den Iran verlassen und sei über die Türkei bis nach Griechenland gereist. Nachdem er in Griechenland erkennungsdienstlich behandelt worden sei, habe er sich einige Monate in Griechenland aufgehalten und sei schließlich mit Hilfe eines Schleppers über ihn unbekannte Länder bis nach Österreich gebracht worden.
1.2. Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der Beschwerdeführer am XXXX in Griechenland erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.3. Nach Zulassung des Verfahrens durch Ausfolgung einer Aufenthaltsberechtigungskarte wurde der Beschwerdeführer am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen.
Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Befragt zu seinem Gesundheitszustand gab er an, gesund zu sein. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Befragt zu seiner Religionszugehörigkeit gab der Beschwerdeführer an, dass er früher Schiite gewesen sei. Nunmehr sei er kein Moslem mehr. Er glaube nur mehr an Gott. Er sei in der Provinz XXXX geboren, habe aber bereits als Kind gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan verlassen und habe seither im Iran gelebt. Seine Familie habe Afghanistan verlassen müssen, da seine Mutter auf Hochzeiten gesungen und getanzt habe. Aus diesem Grund sei sie von den anderen Dorfbewohnern für freizügig gehalten worden und es sei ihr vorgeworfen worden, andere junge Mädchen mit ihrer Tätigkeit zu verderben. Einmal seien seine Eltern auch mit Messern attackiert worden. Zum jetzigen Zeitpunkt würden seine Eltern, vier von seinen insgesamt fünf Schwestern und sein Bruder in der Türkei leben. Sie hätten den Iran verlassen müssen, weil sie keine Aufenthaltsberechtigungskarten mehr gehabt hätten. Nur mehr eine Schwester von ihm würde im Iran leben, da diese dort verheiratet sei. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er im Iran beim Sex mit einem Mann erwischt worden sei. Da im Iran darauf die Todesstrafe stehe, habe er flüchten müssen. Auf Befragung der belangten Behörde verneinte der Beschwerdeführer homosexuell zu sein. Befragt, was er bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, gab der Beschwerdeführer an, dass er sich mit der dortigen Gesellschaft nicht identifizieren könne. Er wolle frei leben und sich nicht dafür rechtfertigen müssen, wenn er z.B. nicht faste, Alkohol trinke oder irgendwelche religiösen Gebote nicht einhalten würde. Er komme mit einer so religiösen Gesellschaft, wie sie in Afghanistan bestehe, nicht zurecht. Dort werde alles vom Islam beherrscht. Weiters wurden dem Beschwerdeführer von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer gab diesbezüglich an, dass er eine schriftliche Stellungnahme dazu einbringen wolle.
Eine schriftliche Stellungnahme wurde vom Beschwerdeführer in weiterer Folge nicht erstattet.
1.4. Am XXXX wurde vom Beschwerdeführer eine Kopie der Tazkira seines Vaters sowie ein Foto betreffend seine Mutter in Vorlage gebracht.
1.5. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).
Nach Darlegung des Verfahrensganges und Wiedergabe der Einvernahmeprotokolle traf die belangte Behörde Feststellungen zur Lage in Afghanistan und führte begründend im Wesentlichen zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen sei, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) genannten Gründen glaubhaft zu machen. So habe der Beschwerdeführer selbst angegeben nicht homosexuell zu sein. Sein Vorbringen in Zusammenhang mit der Auslebung seines Glaubens stelle für sich genommen ebenfalls keinen intensiven Verfolgungsgrund nach der GFK dar. Aufgrund der vorliegenden Länderfeststellungen würde im Falle des Beschwerdeführers derzeit eine Rückkehrgefährdung vorliegen, da aufgrund der in Afghanistan herrschenden allgemeinen Lage von einer unmenschlichen Behandlung gleichzusetzenden Situation im Falle einer Rückkehr ausgegangen werden müsse. Aus diesem Grund sei der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
1.6. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
2. Gegen Spruchpunkt I. des im Spruch genannten Bescheides wurde vom Beschwerdeführer - unterstützt von dem von der belangten Behörde beigegebenen Rechtsberater - fristgerecht eine Beschwerde erhoben und der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und die unentgeltliche Beigabe eines Verfahrenshelfers beantragt.
Begründend wurde vom Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass er keiner Religion mehr angehöre und seine Lebensweise bzw. seine Einstellung nicht den traditionellen afghanischen Wertvorstellungen entsprechen würden. Seine Überzeugungen seien derart tief verwurzelt und von großer Bedeutung für seine Identität, sodass er nicht gezwungen werden könne, diese bei einer Rückkehr nach Afghanistan wieder aufzugeben. Aufgrund seiner weltoffenen Haltung und seiner Ablehnung der konservativen bzw. religiösen Wertvorstellungen der afghanischen Gesellschaft drohe ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung aufgrund der ihm zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung.
3. Die gegenständliche Beschwerde samt Verwaltungsakt langte der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein. Im Rahmen der Beschwerdevorlage wurde von der belangten Behörde mitgeteilt, dass sie auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht verzichtet.
3.1. Mit Bescheid der belangten Behörde vom XXXX wurde die gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung bis XXXX verlängert.
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte in der Folge eine mündliche Verhandlung an und übermittelte gleichzeitig aktuelle Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan. Eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen wurde vorab nicht erstattet.
3.3. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX brachte der Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass er damit einverstanden sei, dass die heutige Verhandlung in Abwesenheit seines Rechtsberaters durchgeführt werde. Seine bisherigen Angaben würden der Wahrheit entsprechen. Er sei gesund und es würden keine Hinderungsgründe vorliegen, der heutigen Verhandlung zu folgen. In weiterer Folge führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er aus Afghanistan stamme und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Er sei in der Provinz XXXX geboren, sei aber bereits im Alter von fünf oder sechs Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gezogen. Dort habe er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten. Im Iran habe er die Grundschule und anschließend sowohl die Unter- als auch die Oberstufe eines Gymnasiums absolviert. Er habe das Gymnasium auch erfolgreich abgeschlossen. Nach seiner Schulausbildung habe er in einer Plastikfabrik sowie als Schuhmacher und auch als Installateur gearbeitet. Er beherrsche die Sprachen Dari und Farsi und könne in diesen Sprachen auch Lesen und Schreiben. Mittlerweile könne er auch in der Sprache Deutsch Lesen und ein wenig Schreiben. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass seine Eltern und vier seiner Schwestern in der Türkei leben würden. Die fünfte Schwester würde mittlerweile in Amerika leben. Sein Bruder sei nach Deutschland geflüchtet, wo er jedoch am XXXX verstorben sei (Anmerkung: In diesem Zusammenhang wurde vom Beschwerdeführer ein Schreiben des Institutes für Gerichtsmedizin der Universität XXXX in Vorlage gebracht, aus dem hervorgeht, dass der Bruder des Beschwerdeführers am XXXX verstorben ist). Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass seine Mutter in Afghanistan sehr an der Kunst interessiert gewesen sei. Sie habe auf verschiedenen Festen gesungen, getanzt und Instrumente gespielt. Weiters habe sie in ihrer Freizeit Zusammenkommen für Frauen organisiert, wo gesungen, getanzt und musiziert worden sei. Durch diese Tätigkeit habe sie die Dorfbewohner gegen sich aufgebracht, da diese der Meinung gewesen seien, dass ihre Frauen durch diese Tätigkeiten "moralisch verdorben" werden würden. Deswegen seien seine Eltern von den Dorfbewohnern bedroht und schließlich auch körperlich angegriffen worden. Aus diesem Grund habe seine Familie Afghanistan verlassen. Befragt, warum er den Iran verlassen habe, gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er einmal betrunken mit einem Mann Sex gehabt habe. Dabei seien sie von dessen Frau erwischt worden. Aufgrund dieses Vorfalles habe die Polizei nach ihm gesucht und er habe daraufhin den Iran verlassen. Er sei jedoch nicht homosexuell. Nur aufgrund seiner Alkoholisierung sei es zu diesen sexuellen Handlungen gekommen. Er sei heterosexuell und habe kein Interesse an sexuellen Beziehungen zu Männern. Auf richterliche Befragung gab der Beschwerdeführer weiters an, dass seine Familie sehr liberal sei und sie im Iran nach den Vorschriften des Islams leben hätten müssen, obwohl sie dies nicht gewollt hätten. Befragt zu seiner Religionszugehörigkeit gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst an, dass er nicht religiös sei. Er halte sich an keine islamischen Wertvorstellungen und Regelungen. So würde er z.B. nicht fasten, öfters auch Alkohol trinken und keine Moschee besuchen. Für ihn sei Religion Privatsache. Wenn jemand in eine Moschee gehen wolle, sei dies für ihn in Ordnung, er selbst könne damit jedoch nichts anfangen. Er habe überhaupt keine Beziehungen mehr zum Islam. Seine Ansichten würde er auch gegenüber seinen Freunden vertreten, nur gegenüber Fremden sei er etwas vorsichtiger. Befragt, wie er seine Weltanschauung beschreiben würde, antwortete der Beschwerdeführer, dass er liberal eingestellt sei. Er sei für die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Frauen sollten selbst entscheiden dürfen, wen sie heiraten wollen würden. Ihm selbst sei es egal, ob er einmal eine österreichische oder afghanische Frau heiraten werde. Ihm sei nur wichtig, dass sie gemeinsam ein glückliches Leben führen könnten. Er wolle sich hier in Österreich eine Zukunft aufbauen und hier arbeiten. Auf richterliche Befragung gab der Beschwerdeführer an, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan sich nicht vorstellen könne, nach den traditionellen islamischen Werten zu leben. Er lebe diese Werte nicht und könne sich daher nicht an die sehr konservative afghanische Gesellschaft anpassen.
In weiterer Folge wurden ergänzend zu den mit der Ladung übermittelten Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan durch den verfahrensführenden Richter aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers in der heutigen Verhandlung folgende Unterlagen in das Verfahren eingebracht:
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UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016
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ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von
1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159], 1. Juni 2017
Nach Erörterung dieser Unterlagen und der mit der Ladung übermittelten Länderfeststellungen, gab der Beschwerdeführer dazu an, dass er auf eine Stellungnahme verzichte.
3.4. Mit Bescheid der belangten Behörde vom XXXX wurde die gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung bis XXXX verlängert.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch genannten Namen und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Der Beschwerdeführer ist in der Provinz XXXX geboren und ist im Alter von ca. sechs Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gezogen. Dort hat er bis zu seiner Ausreise nach Österreich gelebt. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Die Eltern und vier seiner Schwestern leben nach den Angaben des Beschwerdeführers nunmehr in der Türkei. Seine fünfte Schwester lebt in Amerika. Der Bruder des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer keine Verwandten mehr.
Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch die Sprache Farsi und kann in beiden Sprachen Lesen und Schreiben. Weiters verfügt er über weit fortgeschrittene Kenntnisse der deutschen Sprache. Der Beschwerdeführer hat im Iran die Grundschule sowie die Unter- und Oberstufe eines Gymnasiums besucht und dieses auch erfolgreich abgeschlossen. Nach seiner Schulausbildung hat er in einer Plastikfabrik, als Schuhmacher und als Installateur gearbeitet.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Situation des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:
Der Beschwerdeführer bekannte sich früher zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams, folgt aber nunmehr keiner Religion (mehr). Er hat sich aus freier persönlicher Überzeugung und von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen, von seiner (bisherigen) Religion des Islams abgewendet. Er lehnt den konservativen Islam ab und haben für ihn Religion und Glauben keine Bedeutung. Der Beschwerdeführer fastet nicht, er betet nicht, er besucht keine Moschee und er verzichtet nicht auf Alkohol. Weiters entspricht die Einstellung des Beschwerdeführers, insbesondere seine Moral- und Wertehaltung, nicht dem in Afghanistan vorherrschenden traditionell-konservativen Gesellschaftssystem. Die vom Beschwerdeführer angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Identität geworden und er kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Der Beschwerdeführer ist bestrebt in Österreich wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen, indem er beabsichtigt einen Beruf zu erlernen. In dieser Hinsicht ist er bereits aus eigenem Antrieb aktiv geworden und hat sich bereits vertiefende Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet. Dem Beschwerdeführer kann nicht zugemutet werden, seine bereits verinnerlichte liberale Weltanschauung zu unterdrücken. Aufgrund dieser Einstellung, die sich vor allem durch eine liberale Einstellung zu den Themen Religion, Frauen und Bildung manifestiert, besteht für den Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr, Opfer ernsthafter psychischer und physischer Gewalt zu werden.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Wertehaltung und seiner Abwendung vom islamischen Glauben eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat kann er keinen effektiven Schutz erwarten.
Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:
Aufgrund der mit der Ladung übermittelten Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan und den in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, in der Fassung vom 30.01.2018:
Politische Lage (Verfassung):
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.), und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.1.2004).
Sicherheitslage (Allgemein):
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).
Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).
Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).
Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).
Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).
Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).
Kontrolle von Distrikten und Regionen:
Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal, sind 57,2% der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw. -einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2% gegenüber dem dritten Quartal: zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen, mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit 5 von 6 Distrikten, und Helmand mit 8 von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.1.2017).
Sicherheitslage in der Provinz XXXX :
XXXX ist eine der wichtigsten Zentralprovinzen Afghanistans. XXXX liegt 145 km südlich von Kabul Stadt an der Autobahn Kabul-Kandahar. Die Provinzen (Maidan) Wardak und Bamyan liegen im Norden, während die Provinzen Paktia, Paktika und Logar im Osten liegen; Zabul grenzt gemeinsam mit Uruzgan an den Westen der Provinz. Laut dem afghanischen Statistikbüro (CSO) ist sie die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl (Pajhwok o.D.a), die auf 1.249.376 Bewohner/innen geschätzt wird (CSO 2016).
XXXX ist in folgende Distrikte unterteilt: Jaghuri, Malistan, Nawur, Ajiristan, Andar, Qarabagh, Giro, Muqur, Waghaz, Gelan, Ab Band, Nawa, Dih Yak, Rashidan, Zana Khan, Khugiani, Khwaja Omari, Jaghatu und XXXX City (Vertrauliche Quelle 15.9.2015). XXXX wird aufgrund ihrer strategischen Position, als Schlüsselprovinz gewertet - die Provinz verbindet durch die Autobahn, die Hauptstadt Kabul mit den bevölkerungsreichen südlichen und westlichen Provinzen (HoA 15.3.2016).
XXXX zählt zu den volatilen Provinzen in Südostafghanistan, wo regierungsfeindliche aufständische Gruppen in den verschiedenen Distrikten aktiv sind und regelmäßig Operationen durchführen (Khaama Press 15.10.2016; Khaama Press 8.7.2016; vgl. auch: Truthdig 23.1.2017). Die Bevölkerung der Provinz kooperiere bereits mit den Sicherheitskräften. Ein Mitglied des Provinzrates verlautbarte, dass sich die Sicherheitslage verbessern könnte, wenn die Polizei mit notwendiger Ausrüstung versorgt werden würde (Pajhwok 8.1.2017). Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA 2016 keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in XXXX . In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet; dies wird als Abschreckung gewertet (UNMA 6.2.2017).
Rebellengruppen:
Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium (USDOD 12.2016).
Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistischen Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk, und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan - gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden (USDOD 12.2016).
Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).
Rechtsschutz/Justizwesen:
Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia (islamisches Gesetz), Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. auch: USIDP o.D. und WP 31.5.2015). Fast 80% der Dispute werden außerhalb des formellen Justizsystems gelöst - üblicherweise durch Schuras, Jirgas, Mullahs und andere in der Gemeinschaft verankerte Akteure (USIP o.D.; vgl. auch: USDOS 13.4.2016).
Traditionelle Rechtsprechungsmechanismen bleiben für viele Menschen, insbesondere in den ländlichen Gebieten, weiterhin der bevorzugte Rechtsweg (USDOS 13.4.2016, vgl. auch: FH 27.1.2016). Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten (USDOS 13.4.2016). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles Rechtssystem um (FH 27.1.2016).
Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan weitverbreitet akzeptiert ist, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.). Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 13.4.2016).
Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Leistungsfähigkeit um die hohe Zahl an neuen und novellierten Gesetzen zu beherrschen. Der Mangel an qualifiziertem, juristischem Personal behindert die Gerichte. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben erhöht sich weiterhin (USDOS 13.4.2016). Im Jahr 2014 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit mit 1.300 beziffert (SZ 29.9.2014; vgl. auch: CRS 8.11.2016), davon waren rund 200 Richterinnen (CRS 8.11.2016). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin als erste Frau zur Richterin des Supreme Courts ernannt (RFE/RL 30.6.2016). Die Zahl registrierter Anwälte/innen hat sich in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt (WP 31.5.2015). Der Zugang zu Gesetzestexten wird besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar (USDOS 13.4.2016).
Ein Mangel an qualifiziertem Justizpersonal behindert die Gerichte (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: FH 27.1.2016). Manche Amtsträger/innen in Gemeinden und Provinzen verfügen über eine eingeschränkte Ausbildung und gründen ihre Entscheidungen daher auf ihrem persönlichen Verständnis der Scharia, ohne jeglichen Bezug zum kodifizierten Recht, Stammeskodex oder traditionellen Bräuchen (USDOS 13.4.2016).
Innerhalb des Gerichtswesens ist Korruption weiterhin vorhanden (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: FH 27.1.2016); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffneten Gruppen (FH 27.1.2016), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 13.4.2016). Afghanische Gerichte sind durch öffentliche Meinung und politische Führer leicht beeinflussbar (WP 31.5.2015). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das Strafrechtszentrum für Anti-Korruption, um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (Reuters 12.11.2016).
Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 9.2016).
Todesstrafe:
Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen. Es gibt ein Präsidialdekret aus dem Jahre 1992, welches die Anwendung der Todesstrafe auf fünf Deliktarten einschränkt: (vorsätzlicher) Mord, Genozid, Sprengstoffattentate (i.V.m. Mord), Straßenräuberei (i.V.m. Mord) und Angriffe gegen die territoriale Integrität Afghanistans. Dieses Präsidialdekret wurde allerdings in jüngster Zeit nicht beachtet. Unter dem Einfluss der Scharia droht die Todesstrafe auch bei anderen "Delikten" (z.B. Blasphemie, Apostasie). Die Entscheidung über die Todesstrafe wird vom Obersten Gericht getroffen bzw. bestätigt und kann nur mit Zustimmung des Präsidenten vollstreckt werden. Die Todesstrafe wird durch Erhängen vollstreckt. In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig wahrgenommenen Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können (AA 9.2016).
Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hatte und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die eine Umwandlung von Todesstrafen in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, werden weiter Todesurteile vollstreckt. Im Mai 2016 fand die Hinrichtung von sechs verurteilten Terroristen statt. Die Vollstreckung der bereits rechtskräftigen Todesurteile war Teil einer von Präsident Ghani angekündigten härteren Politik im Kampf gegen Aufständische und folgte als Reaktion auf öffentliche Vergeltungsrufe nach einem schweren Taliban-Anschlag. Zuvor wurden 2014 und 2012 sechs bzw. 16 Todesstrafen verurteilter Straftäter vollstreckt (AA 9.2016).
Allgemeine Menschenrechtslage:
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage (AA 9.2016). Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (AA 9.2016).
Drohungen, Einschüchterungen und Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger hielten in einem Klima der Straflosigkeit an, nachdem die Regierung es verabsäumt hatte, Fälle zu untersuchen und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.
Menschenrechtsverteidiger wurden sowohl durch staatliche, als auch nicht-staatliche Akteure angegriffen und getötet (AI 24.2.2016).
Haftbedingungen:
Aus dem Bericht der UNAMA, dem eine fast zweijährige Studie (1. Februar 2013 bis 31. Dezember 2014) in 221 Anstalten in 28 verschieden Provinzen Afghanistans vorrausgegangen war, geht hervor, dass allgemein die Zahl der interviewten Häftlinge, die misshandelt bzw. gefoltert wurden, um 14% niedriger ist als im Vergleichszeitraum (Oktober 2011 bis Dezember 2013). Von den 790 befragten Häftlingen gaben 278 an misshandelt oder gefoltert worden zu sein, was in etwa 35% entspricht (UNAMA 2.2015; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). Ein staatliches Komitee führte Interviews, um die im UNAMA-Bericht 2013 vorgebrachten Folteranschuldigungen zu prüfen. Die Feststellungen des Komitees wurden nicht veröffentlicht. Die Regierung hat die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (USDOS 13.4.2016). In einem Fall wurden zwei Beamte des nationalen Geheimdienstes (NDS) aufgrund von Folter strafrechtlich verfolgt (OHCHR 11.2.2016).
Im Juni 2015 erließ der NDS eine Anordnung, in der nachdrücklich auf das Verbot von Folter, insbesondere bei Polizeiverhören, hingewiesen wurde; trotzdem kam es zu Folter und anderen Misshandlungen und Isolationshaft, im afghanischen Strafvollzugssystem (AI 24.2.2016).
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind in den meisten Provinzen ein Problem. Beobachtern zufolge, werden Individuen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten, auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert (USDOS 13.4.2016; vgl. AI 24.2.2016). Teilweise auch deshalb weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, die Festgenommenen in gegebener Zeit weiter zu beamtshandeln (USDOS 13.4.2016). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen "moralischer" Vergehen, Vertragsbruch, Familiendisputen usw. zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass ausschließlich Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: AI 24.2.2016).
Religionsfreiheit:
Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7 - 89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch:
CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).
Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).
Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:
CSR 8.11.2016).
Im Strafgesetzbuch gibt es keine Definition für Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, für Frauen lebenslange Haft, sofern sie die Apostasie nicht bereuen. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte - dennoch hatten Individuen, die vom Islam konvertierten, Angst vor Konsequenzen. Christen berichteten, dass sie aus Furcht vor Vergeltung, Situationen vermieden, in denen es gegenüber der Regierung so aussehe, als ob sie missionieren würden (USDOS 10.8.2016).
Nichtmuslimische Minderheiten, wie Sikh, Hindu und Christen, sind sozialer Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, und in manchen Fällen, sogar Gewalt. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht systematisch (USDOS 10.8.2016). Dennoch bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften vereinzelt Ämter auf höchster Ebene (CSR 8.11.2016). Im Mai 2014 bekleidete ein Hindu den Posten des afghanischen Botschafters in Kanada (RFERL 15.5.2014). Davor war Sham Lal Bathija als hochrangiger Wirtschaftsberater von Karzai tätig (The New Indian Express 16.5.2012).
Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Bildungsplan einrichten und umsetzen, der auf den Bestimmungen des Islams basiert; auch sollen religiöse Kurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime ist es nicht erforderlich den Islam an öffentlichen Schulen zu lernen (USDOS 10.8.2016).
Nichtmuslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die sunnitische-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Religion (AA 9.2016). Für die religiöse Minderheit der Schiiten gilt in Personenstandsfragen das schiitische Recht (USDOS 10.8.2016).
Militante Gruppen haben sich unter anderem als Teil eines größeren zivilen Konfliktes gegen Moschen und Gelehrte gerichtet. Konservative soziale Einstellungen, Intoleranz und das Unvermögen oder die Widerwilligkeit von Polizeibeamten individuelle Freiheiten zu verteidigen bedeuten, dass jene, die religiöse und soziale Normen brechen, anfällig für Misshandlung sind (FH 27.1.2016).
Blasphemie - welche anti-islamische Schriften oder Ansprachen beinhaltet, ist ein Kapitalverbrechen im Rahmen der gerichtlichen Interpretation des islamischen Rechtes. Ähnlich wie bei Apostasie, gibt das Gericht Blasphemisten drei Tage um ihr Vorhaben zu widerrufen oder sie sind dem Tod ausgesetzt (CRS 8.11.2016).
Ein Muslim darf eine nichtmuslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin der zwei anderen abrahamitischen Religionen, Christentum und Judentum, ist. Einer Muslima ist nicht erlaubt einen nichtmuslimischen Mann zu heiraten. Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht-muslimischen Glauben deklariert (USDOS 10.8.2016).
1.3.2. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016:
UNHCR geht unter anderem von folgendem möglicherweise gefährdeten Personenkreis in Afghanistan aus:
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Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen
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Personen, die angeblich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen
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Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen:
Die Verfassung garantiert, dass Angehörige von anderen Religionen als dem Islam "innerhalb der durch die Gesetze vorgegebenen Grenzen frei sind in der Ausübung und Erfüllung ihrer religiösen Rechte". Allerdings wird in der Verfassung auch festgestellt, dass der Islam die offizielle Religion des Staats ist und "kein Gesetz gegen die Lehren und Bestimmungen der heiligen Religion des Islam in Afghanistan verstoßen darf." Darüber hinaus sollen die Gerichte gemäß der Verfassung in Situationen, in denen weder die Verfassung noch andere Gesetze Vorgaben enthalten, der Hanafi-Rechtsprechung folgen, einer sunnitisch-islamischen Rechtslehre, die unter zwei Dritteln der muslimischen Welt verbreitet ist. Afghanische Juristen und Regierungsvertreter wurden dafür kritisiert, dass sie dem islamischen Recht Vorrang vor Afghanistans Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsabkommen in Situationen einräumen, in denen ein Widerspruch der verschiedenen Rechtsvorschriften vorliegt, insbesondere in Bezug auf die Rechte von afghanischen Staatsbürgern, die keine sunnitischen Muslime sind, und in Bezug auf die Rechte der Frauen.
Religiöse Minderheiten:
Nichtmuslimische religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, Hindus und Sikhs, werden weiterhin im geltenden Recht diskriminiert. Wie oben dargestellt gilt gemäß der Verfassung in Situationen, in denen weder die Verfassung noch das kodifizierte Recht Afghanistans entsprechende Bestimmungen enthalten, die sunnitische Hanafi-Rechtsprechung. Dies gilt für alle afghanischen Bürger, unabhängig von ihrer Religion. Die einzige Ausnahme bilden Personenstandsachen, bei denen alle Parteien Schiiten sind. In diesem Fall wird das schiitische Recht für Personenstandsachen angewendet. Für andere religiöse Minderheiten gibt es kein eigenes Recht. Nicht-Muslime dürfen Berichten zufolge nur dann untereinander heiraten, wenn sie sich nicht öffentlich zu ihren nicht-islamischen Überzeugungen bekennen.
Das Strafgesetzbuch enthält Bestimmungen für "Straftaten gegen Religionen", denen zufolge Personen, die Angehörige einer jeglichen Religion angreifen, zu einer kurzen Gefängnisstrafe von mindestens drei Monaten und einer Geldbuße verurteilt werden sollen. Ungeachtet dessen erfahren nichtmuslimische Minderheiten Berichten zufolge weiterhin gesellschaftliche Schikanierung und in manchen Fällen Gewalt. Berichten zufolge vermeiden es Mitglieder religiöser Minderheiten wie Baha'i und Christen aus Angst vor Diskriminierung, Misshandlung, willkürlicher Verhaftung oder Tötung, sich öffentlich zu ihrer Religion zu bekennen oder sich offen zum Gebet zu versammeln.
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Konversion vom Islam:
Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten "ungeheuerlichen Straftaten", die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen. Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist. Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grunds und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren.
Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden.
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Personen, die angeblich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen:
Die Taliban haben Berichten zufolge Personen und Gemeinschaften getötet, angegriffen und bedroht, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen haben.
In Gebieten, in denen die Taliban versuchen, die lokale Bevölkerung von sich zu überzeugen, nehmen sie Berichten zufolge eine mildere Haltung ein. Sobald sich jedoch die betreffenden Gebiete unter ihrer tatsächlichen Kontrolle befinden, setzen die Taliban ihre strenge Auslegung islamischer Prinzipien, Normen und Werte durch. Es liegen Berichte über Taliban vor, die für das Ministerium der Taliban für die Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters tätig sind, in den Straßen patrouillieren und Personen festnehmen, weil diese sich den Bart abrasiert haben oder einen Haarschnitt tragen, der ihrer Auffassung nach eitel ist. Frauen ist es Berichten zufolge nur in Begleitung ihres Ehemanns oder männlicher Familienmitglieder gestattet, das Haus zu verlassen und ausschließlich zu einigen wenigen genehmigten Zwecken wie beispielsweise einen Arztbesuch. Frauen und Männer, die gegen diese Regeln verstoßen, wurden Berichten zufolge mit öffentlichen Auspeitschungen bestraft.
In Gebieten, die von mit ISIS verbundenen Gruppen kontrolliert werden, wird Berichten zufolge ein sittenstrenger Lebensstil durch strikte Vorschriften und Bestrafungen durchgesetzt. Vertriebene Familien, die sich im östlichen Teil Afghanistans aufhielten, haben berichtet, dass Frauen strenge Regeln, einschließlich Kleidungsvorschriften, und eingeschränkte Bewegungsfreiheitauferlegt wurden.
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Die Fähigkeit des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen:
Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der Verpflichtungen Afghanistans, nach nationalem und internationalem Recht diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsgewalt Afghanistans und die Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen, die Zufriedenheit der Öffentlichkeit mit der Regierungsarbeit und das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen sanken Berichten zufolge im Jahr 2015 auf drastische Weise.
Die Fähigkeit der Regierung, die Menschenrechte zu schützen, wird in vielen Distrikten durch Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) untergraben. Ländliche und instabile Gebiete leiden Berichten zufolge unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden. Von der Regierung ernannte Richter und Staatsanwälte sind Berichten zufolge oftmals aufgrund der Unsicherheit nicht in der Lage, in diesen Gemeinden zu bleiben.
Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung. Wie oben angemerkt, begehen einige staatliche Akteure, die mit dem Schutz der Menschenrechte beauftragt sind, einschließlich der afghanischen nationalen Polizei und der afghanischen lokalen Polizei, Berichten zufolge in einigen Teilen des Landes selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.
Berichten zufolge betrifft Korruption viele Teile des Staatsapparats auf nationaler, Provinz- und lokaler Ebene. Es wird berichtet, dass bis zu zwei Drittel der afghanischen Bürger, die Kontakt zu Staatsbediensteten auf Provinz- und Distriktebene hatten, Schmiergelder zahlen mussten, um öffentliche Dienstleistungen zu erhalten. Innerhalb der Polizei sind Berichten zufolge Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung ortstypisch. Das Justizsystem ist Berichten zufolge auf ähnliche Weise von weitreichender Korruption betroffen.
In einigen Gebieten bevorzugen Berichten zufolge lokale Gemeinschaften parallele Justizstrukturen, etwa Gerichte der Taliban, um zivile Streitfälle auszutragen. UNAMA stellt nichtsdestoweniger fest, dass diese Strukturen in der Regel den Gemeinschaften auferlegt werden und dass über diese Strukturen verhängte Bestrafungen wie Hinrichtungen und Amputationen gemäß afghanischem Recht kriminelle Handlungen darstellen. Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die durch diese parallelen Justizstrukturen begangen wurden, haben Berichten zufolge keinen Zugang zu staatlichen Rechtsschutzmechanismen. UNAMA stellt fest, dass die Unfähigkeit der Regierung, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die im Rahmen paralleler Justizstrukturen derartige Straftaten begehen, selbst eine Verletzung von Menschenrechten nach den Prinzipien der Sorgfaltspflicht darstellen kann.
1.3.3. Auszug aus der ACCORD - Anfragebeantwortung zu Afghanistan:
Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) vom 01.06.2017:
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Vom Islam abgefallene Personen (Apostaten):
Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als "Weggehen" vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe:
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Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die "heilige Religion des Islam" als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten:
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Bezugnehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landin