TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/11 W251 2148007-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.03.2019
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Entscheidungsdatum

11.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W251 2148007-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.01.2017, Zl. 1070183209-150542116, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 21.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er an, in Pakistan aufgewachsen zu sein. Dem Beschwerdeführer sei es in Pakistan sehr schlecht gegangen, weil er nicht offiziell habe arbeiten dürfen. Er habe deshalb Pakistan verlassen. Im Falle einer Rückkehr in seine Heimat fürchte er sich vor den Taliban.

3. Ein eingeholtes Röntgen ergab, dass sämtliche Epiphysenfugen bereits geschlossen seien, sodass sich Zweifel am vom Beschwerdeführer angegebenen Geburtsdatum ergeben haben.

Das eingeholte medizinische Altersfeststellungsgutachten vom 29.12.2015 ergab, dass das höchstmögliche Mindestalter zum Untersuchungszeitpunkt mit 16,6 Jahren anzunehmen ist. Das vom Beschwerdeführer angegebene Geburtsdatum ist mit dem festgestellten Mindestalter vereinbar, so dass die Minderjährigkeit nicht mit dem höchstmöglichen Beweismaß ausgeschlossen werden kann. Die Vollendung des 18. Lebensjahres wurde anhand des vom Beschwerdeführer angegebenen und plausiblen Geburtsdatums am XXXX erreicht.

4. Am 14.11.2016 fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, dass seine Eltern Afghanistan wegen des Krieges und den Taliban verlassen hätten. Im Falle einer Rückkehr befürchte er als schiitischer Hazara von den Taliban getötet zu werden. Pakistan habe er aufgrund eines Anschlages, bei dem er einen Splitter in seine Hand und seinen Fuß bekommen habe, verlassen. Zudem sei er von Anhängern des IS aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit mit Stöcken geschlagen und mit einem Messer verletzt worden.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine konkrete und individuelle asylrelevante Verfolgung geltend gemacht habe. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer sei ein gesunder, junger, arbeitsfähiger Mann mit Schulbildung, der noch über Onkel in seinem Herkunftsstaat verfüge. Er würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan somit nicht in eine ausweglose Situation geraten. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

6. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass ihm in Afghanistan Verfolgung aufgrund seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara sowie Entführung, Zwangsrekrutierung und Ermordung durch die Taliban drohe. Das Bundesamt habe die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan verkannt und die spezielle Gefährdung Minderjähriger nicht berücksichtigt. Bei richtiger Tatsachenfeststellung, Berücksichtigung der Länderberichte und richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dem Beschwerdeführer zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 19.07.2018 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.08.2018 wurde ein Sachverständiger aus dem Fachgebiet Arbeitsmedizin zur schriftlichen Gutachtenserstellung bestellt. Gemäß dem erstatteten arbeitsmedizinischen Gutachten vom 12.10.2018 liegt eine dauerhafte körperliche Behinderung XXXX des Beschwerdeführers vor, die anschließend an die übliche Gliedertaxe mit XXXX anzusetzen ist.

9. Mit Stellungnahme vom 21.11.2018 wurde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines niedrigen Bildungsniveaus jedenfalls auf körperliche Arbeiten zu verweisen sei, die bei realistischer Betrachtung entweder zwingend XXXX oder XXXX ausgestaltet seien. Beides befinde sich außerhalb des Leistungskalküls des Beschwerde-führers. Es liege somit eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit und besondere Vulnerabilität des Beschwerdeführers vor. Ihm sei daher jedenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

10. Mit Parteiengehör vom 06.02.2019 wurde den Parteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, mit Kurzinformation vom 22.01.2019, die auszugsweise Übersetzung der EASO Country Guidance Afghanistan aus Juni 2018, Seite 21 bis 25 und 98 bis 109, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend die Lage in Herat und Mazar-e Sharif aufgrund anhaltender Dürre vom 13.09.2018, die ACCORD Anfragebeantwortung zu den Folgen von Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif vom 12.10.2018, die Stellungnahem von Dr. Rasuly betreffend Akzent und iranische Aussprache vom 19.07.2017 und einen Artikel zum Unterschied zwischen Farsi und Dari übermittelt. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, allfällige Änderungen an der Situation des Beschwerdeführers seit der Verhandlung dem Gericht bekannt zu geben.

11. Mit Stellungnahme vom 21.02.2019 brachte der Beschwerdeführer vor, dass er Afghanistan wegen Grundstücksstreitigkeiten verlassen habe und dies asylrelevant sein könne. Der Beschwerdeführer sei bei

XXXX oder XXXX Tätigkeiten eingeschränkt. Zudem sei er defakto ein Analphabet, sodass er keine intellektuellen Tätigkeiten ausüben könne. Der Beschwerdeführer könne daher bei einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif seine grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse nicht befriedigen. Der Beschwerdeführer sei besonders vulnerabel, er sei qualifiziert schutzbedürftiger als andere Personen. Es sei eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan daher ausgeschlossen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an, bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er ist weder verheiratet noch hat er Kinder (AS 3, 141; Protokoll vom 19.07.2018 = OZ 8, S. 6).

Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul geboren und hat zunächst dort gelebt. Der Beschwerdeführer hat noch nie in Ghazni gelebt. Frühestens im Jahr 2005 ist die Mutter des Beschwerdeführers gestorben und der Vater ist mit dem Beschwerdeführer und seinem jüngeren Bruder von der Stadt Kabul nach XXXX in Pakistan gezogen. Der Beschwerdeführer ist dort gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder in einem Mietshaus aufgewachsen (AS 147). Der Beschwerdeführer hat sechs Jahre lang in Pakistan eine afghanische Schule besucht (AS 3; OZ 8, S. 15 f). Er hat nicht vier Jahre lang einen Englischkurs besucht. Er verfügt über sehr geringe Englischkenntnisse (OZ 8, S. 13). Der Beschwerdeführer hat in Pakistan (gemeinsam mit seinem Vater) Textilien und Gemüse verkauft (AS 141; OZ 8, S. 6 f) und elektronische Geräte zusammengebaut (AS 155; OZ 8, S. 7).

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan zwar bereits im Kindesalter verlassen, er ist mit der afghanischen Kultur jedoch vertraut und spricht Dari auf muttersprachlichem Niveau mit hörbarem Akzent (OZ 8, S. 16). Der Beschwerdeführer kann in Dari lesen und schreiben (AS 141).

Der Beschwerdeführer verfügt über seinen Vater und seinen Bruder sowie über eine Tante mütterlicherseits in Pakistan (AS 145). Der Bruder des Beschwerdeführers arbeitet in einer Bäckerei (AS 147). Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinem Vater (AS 145).

Der Beschwerdeführer verfügt über einen Onkel väterlicherseits in der Stadt Kabul sowie über zwei Onkel väterlicherseits samt deren Familien in der Provinz Ghazni (AS 143 ff). Der Beschwerdeführer kann über seinen Vater Kontakt zu seinen Verwandten in Afghanistan aufnehmen.

Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist. Er ist seit seiner Antragstellung am 21.05.2015, aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig in Österreich aufhältig. (AS 3 ff).

Der Beschwerdeführer hat einen Deutschkurs für die Stufe A1 besucht (Beilage ./B). Er verfügt über geringe Deutschkenntnisse.

Der Beschwerdeführer geht in Österreich weder einer beruflichen Tätigkeit nach noch übt er gemeinnützige Tätigkeiten aus oder hat sich aktiv in seiner Nachbarschaft betätigt. Er lebt von der Grundversorgung.

Er hat freundschaftliche Kontakte in Österreich knüpfen könne. Er verfügt jedoch weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen in Österreich (OZ 8, S. 11).

Beim Beschwerdeführer liegt eine dauerhafte körperliche Behinderung XXXX vor, die anschließend an die übliche Gliedertaxe mit XXXX anzusetzen ist. Die XXXX des Beschwerdeführers ist XXXX . Er ist XXXX keinerlei Einschränkungen unterlegen, XXXX und XXXX Tätigkeiten sind jedoch durch die körperliche Behinderung eingeschränkt. Der Zusammenbau von elektronischen Geräten ist in diesem Zusammenhang nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Schwere Lasten können vom Beschwerdeführer bewegt werden. Handwerkliche Tätigkeiten sind bei beidhändigen Arbeitsanteilen nur eingeschränkt möglich. Eine völlige Wiederherstellung ist nicht möglich. Bei einer operativen Verbesserung kann das Leistungskalkül nicht wesentlich verbessert werden. Das geistige Leistungskalkül entspricht dem eines durchschnittlich gleichaltrigen jungen Mannes (arbeitsmedizinisches Gutachten vom 12.10.2018). Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten (AS 139; OZ 8, S. 11 f). Er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Weder der Beschwerdeführer noch seine Eltern waren in Afghanistan einer Verfolgung durch die Taliban, staatliche Organe oder sonstige Personen ausgesetzt. Aus den Gründen, die zur Ausreise des Vaters des Beschwerdeführers aus Afghanistan geführt haben, kann keine Gefahr von physischer und/oder psychischer Gewalt für den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan abgeleitet werden. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer oder die Familie des Beschwerdeführers in Afghanistan von Grundstücksstreitigkeiten betroffen war.

1.2.2. Weiters droht dem Beschwerdeführer aufgrund seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara keine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt in Afghanistan.

1.2.3. Ebenso wenig droht dem Beschwerdeführer die konkrete und individuelle Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung durch die Taliban in Afghanistan.

1.2.4. Darüber hinaus gilt der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er sich in Pakistan bzw. in Europa aufgehalten hat in Afghanistan nicht als westlich orientiert. Der Beschwerdeführer hat sich auch nicht erkennbar vom islamischen Glauben abgewandt. Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan aufgrund seines Aufenthaltes in Pakistan und Europa keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die Wohnraum- und Versorgungslage ist in Kabul sehr angespannt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Heimatstadt Kabul kann der Beschwerdeführer jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Kabul wieder Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Zudem kann der Beschwerdeführer zumindest vorübergehend Unterstützung durch seinen in Kabul lebenden Onkel väterlicherseits oder finanzielle Unterstützung durch seine zwei Onkel aus Ghazni erhalten.

Zudem kann sich der Beschwerdeführer auch in der Stadt Mazar-e Sharif niederlassen. Der Beschwerdeführer verfügt dort zwar über kein familiäres oder soziales Netzwerk. Als alleinstehender, junger und gesunder Mann kann er jedoch in der Stadt Mazar-e Sharif, auf Grund der dort herrschenden Versorgungs- und Sicherheitslage, Fuß fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten führen.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 29.10.2018 - LIB 22.01.2019, S. 46).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (LIB 22.01.2019, S. 46).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen. Dies ist den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zuzuschreiben (LIB 22.01.2019, S. 49).

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 22.01.2019, S. 57).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 22.01.2019, S. 50).

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 22.01.2019, S. 50). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 22.01.2018, S. 50 ff, 55).

Taliban

Die Taliban konzentrierten sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" nicht. Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren. Das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 ist auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (LIB 22.01.2019, S. 59 f).

Rekrutierung durch die Taliban:

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind. Aus Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlenden Zukunftsperspektiven schließen sich viele den Taliban an (Beilage ./V, S. 12-13). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Beilage ./V, S. 14).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Beilage ./V, S. 18). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Beilage ./V, S. 19).

Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf

4.679.648 geschätzt. In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander. In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer und IDPs wohnen. Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen durch den die Stadt sicher erreichbar ist (LIB 22.01.2019, S. 71 f).

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, die sich überwiegend in der Hauptstadt Kabul ereigneten (LIB 22.01.2019, S. 72).

Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.

Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (LIB 22.01.2019, S. 73).

Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt. Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt. Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt (LIB 22.01.2019, S. 73 f).

Sowohl die Taliban als auch der IS verüben öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriffe in der Stadt Kabul, auch das Haqqani-Netzwerk soll Angriffe in der Stadt Kabul verübt haben. So existieren in der Hauptstadt Kabul scheinbar eine Infrastruktur, Logistik und möglicherweise auch Personal ("terrorists to hire"), die vom Haqqani-Netzwerk oder anderen Taliban-Gruppierungen, Splittergruppen, die unter der Flagge des IS stehen, und gewaltbereiten pakistanischen sektiererischen (anti-schiitischen) Gruppierungen verwendet werden (LIB 22.01.2019, S. 74).

Mazar-e Sharif:

Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana und Pul-e-Khumri und ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst (LIB 22.01.2019, S. 89 f).

In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, durch den die Stadt sicher zu erreichen ist (LIB 22.01.2019, S. 90, 248).

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (LIB 22.01.2019, S. 90).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB 22.01.2019, S. 89 f).

Dürre:

Aufgrund der Dürre wird die Getreideernte geringer ausfallen, als in den vergangenen Jahren. Da die Getreideernte in Pakistan und im Iran gut ausfallen wird, kann ein Defizit in Afghanistan ausgeglichen werden. Die Preise für Getreide waren im Mai 2018 verglichen zum Vormonat in den meisten großen Städten unverändert und lagen sowohl in Herat-Stadt als auch in Mazar-e Sharif etwas unter dem Durchschnitt der Jahre 2013-2014 (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Lage in der Stadt Herat und Mazar-e Sharif aufgrund anhaltender Dürre vom 13.09.2108 - AB vom 13.09.2018, S. 3). Das Angebot an Weizenmehl ist relativ stabil (ACCORD-Anfragebeantwortung Folgen der Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif vom 12.10.2018 - AB vom 12.10.2018, S. 8). Aufgrund der Dürre wurde bisher kein nationaler Notstand ausgerufen (AB vom 13.09.2018, S. 11).

Für die Landflucht spielen die Sicherheitslage und die fehlende Beschäftigung eine Rolle. Durch die Dürre wird die Situation verstärkt, sodass viele Haushalte sich in städtischen Gebieten ansiedeln. Diese Personen - Vertriebene, Rückkehrer und Flüchtlinge - siedeln sich in informellen Siedlungen an (AB vom 12.10.2018, S. 2, S. 5). Dort ist die größte Sorge der Vertriebenen die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, diese sind jedoch mit der Menge und der Regelmäßigkeit des Trinkwassers in den informellen Siedlungen und den erhaltenen Hygienesets zufrieden. Viele Familien, die Bargeld für Lebensmittel erhalten, gaben das Geld jedoch für Schulden, für Gesundheitsleistungen und für Material für provisorische Unterkünfte aus. Vielen Familien der Binnenvertriebenen gehen die Nahrungsmittel aus bzw. können sich diese nur Brot und Tee leisten (AB vom 12.10.2018, S. 6). Arme Haushalte, die von einer wassergespeisten Weizenproduktion abhängig sind, werden bis zur Frühjahrsernte sowie im nächsten Jahr Schwierigkeiten haben, den Konsumbedarf zu decken (AB vom 12.10.2018, S. 11). Es werden, um die Folgen der Dürre entgegen zu treten, nationale und internationale Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen gesetzt (AB vom 12.10.2018, S. 17 ff).

Die Abnahme der landwirtschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten zusammen mit der steigenden Migration sowie der hohen Anzahl an Rückkehrerin und Binnenvertriebenen führt zu einer Senkung der Löhne für Gelegenheitsarbeit in Afghanistan und zu einer angespannten Wohnraum- und Arbeitsmarktlage in urbanen Gebieten (AB vom 12.10.2018, S. 15f).

Von Mai bis Mitte August 2018 sind ca. 12.000 Familie aufgrund der Dürre aus den Provinzen Badghis und Ghor geflohen um sich in der Stadt Herat anzusiedeln. Dort leben diese am westlichen Stadtrand von Herat in behelfsmäßigen Zelten, sodass am Rand der Stadt Herat die Auswirkungen der Dürre am deutlichsten sind (AB vom 13.09.2018, S. 5f). Mittlerweile sind 60.000 Personen nach Herat geflohen (AB vom 12.10.2018, S. 5). Es ist besonders die ländliche Bevölkerung, insbesondere in der Provinz Herat, betroffen (AB vom 12.10.2018, S. 7). Personen die von der Dürre fliehen, siedeln sich in Herat-Stadt, in Qala-e-Naw sowie in Chaghcharan an, dort wurden unter anderem Zelte, Wasser, Nahrungsmittel sowie Geld verteilt (AB vom 13.09.2018, S. 10; AB vom 12.10.2018, S. 2).

Während das Lohnniveau in Mazar-e Sharif weiterhin über dem Fünfjahresdurchschnitt liegt, liegt dieses in Herat-Stadt 17% unter dem Fünfjahresdurchschnitt (AB vom 13.09.2018, S. 8). Es gibt keine signifikante dürrebedingte Vertreibung bzw. Zwangsmigration nach Mazar-e Sharif- Stadt (AB vom 12.10.2018, S. 3; AB vom 13.09.2018, S. 1 und 3). Im Umland der Stadt Mazar-e Sharif kommt es zu Wasserknappheit und unzureichender Wasserversorgung (AB vom 13.09.2018, S. 2).

Religionsfreiheit

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten. Schätzungen zufolge sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (LIB 22.01.2019, S. 291).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Der politische Islam behält in Afghanistan die Oberhand; welche Gruppierung - die Taliban (Deobandi-Hanafismus), der IS (Salafismus) oder die afghanische Verfassung (moderater Hanafismus) - religiös korrekter ist, stellt jedoch weiterhin eine Kontroverse dar. Diese Uneinigkeit führt zwischen den involvierten Akteuren zu erheblichem Streit um die Kontrolle bestimmter Gebiete und Anhängerschaft in der Bevölkerung (LIB 22.01.2019, S. 291).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert (LIB 22.01.2019, S. 292).

Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert; so gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürger/innen unabhängig von ihrer Religion. Wenn weder die Verfassung noch das Straf- bzw. Zivilgesetzbuch bei bestimmten Rechtsfällen angewendet werden können, gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung. Laut Verfassung sind die Gerichte dazu berechtigt, das schiitische Recht anzuwenden, wenn die betroffene Person dem schiitischen Islam angehört. Gemäß der Verfassung existieren keine eigenen, für Nicht-Muslime geltende Gesetze (LIB 22.01.2019, S. 292).

Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt. Die gesellschaftliche Diskriminierung gegenüber der schiitischen Minderheit sinkt weiterhin; in verschiedenen Gegenden werden dennoch Stigmatisierungsfälle gemeldet (LIB 22.01.2019, S. 293).

Mitglieder der Taliban und des IS töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB 22.01.2019, S. 293).

Schiiten

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (LIB 22.01.2019, S. 294).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit (LIB 22.01.2019, S. 294).

Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch kommt es zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (LIB 22.01.2019, S. 294 f).

Angehörige der Shiiten sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit keiner psychischen und physischen Gewalt ausgesetzt.

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (LIB 22.01.2019, S. 301).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet.". Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es werden keine bestimmten sozialen Gruppen ausgeschlossen. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 22.01.2019, S. 301 f).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB 22.01.2019, S. 302).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsächlich dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB 22.01.2019, S. 303 f).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (LIB 22.01.2019, S. 304).

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB 22.01.2019, S. 304).

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Es existiere in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Hazara beschweren sich über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. Arbeitsplatzanwerbung erfolgt hauptsächlich über persönliche Netzwerke; Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (LIB 22.01.2019, S. 304 f).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangs-rekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (LIB 22.01.2019, S. 305).

Angehörige der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner psychischen und physischen Gewalt ausgesetzt.

Medizinische Versorgung

Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Eine begrenzte Zahl staatlich geförderter öffentlicher Krankenhäuser bieten kostenfreie medizinische Versorgung. Alle Staatsbürger haben Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Medikamente sind auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes (LIB 22.01.2019, S. 344 ff).

Wirtschaft

Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu (LIB 22.01.2019, S. 340).

Für ca. ein Drittel der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (inklusive Tiernutzung) die Haupteinnahmequelle. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Mehr als ein Drittel der männlichen Bevölkerung (34,3%) Afghanistans und mehr als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung (51,1%) sind nicht in der Lage, eine passende Stelle zu finden (LIB 22.01.2019, S. 340 f).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Sogar für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen ist es schwierig ohne ein Netzwerk einen Arbeitsplatz zu finden, wenn man nicht empfohlen wird oder dem Arbeitgeber nicht vorgestellt wird. Vetternwirtschaft ist gang und gebe. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Es gibt lokale Webseiten, die offene Stellen im öffentlichen und privaten Sektor annoncieren. Die meisten Afghanen sind unqualifiziert und Teil des informellen, nicht-regulierten Arbeitsmarktes. Der Arbeitsmarkt besteht Großteiles aus manueller Arbeit ohne Anforderungen an eine formelle Ausbildung und spiegelt das niedrige Bildungsniveau wieder. In Kabul gibt es öffentliche Plätze, wo sich Arbeitssuchende und Nachfragende treffen. Viele bewerben sich, nicht jeder wird engagiert. Der Lohn beträgt für Hilfsarbeiter meist USD 4,3 und für angelernte Kräfte bis zu USD 14,5 pro Tag (EASO Afghanistan Netzwerke aus Jänner 2018 - Beilage ./VI, S. 29 - 30).

In Kabul und in großen Städten stehen Häuser und Wohnungen zur Verfügung. Es ist auch möglich an Stelle einer Wohnung ein Zimmer zu mieten. Dies ist billiger als eine Wohnung zu mieten. Heimkehrer mit Geld können Grund und Boden erwerben und langfristig ein eigenes Haus bauen. Vertriebene in Kabul, die keine Familienanbindung haben und kein Haus anmieten konnten, landen in Lagern, Zeltsiedlungen und provisorischen Hütten oder besetzen aufgelassene Regierungsgebäude. In Städten gibt es Hotels und Pensionen unterschiedlichster Preiskategorien. Für Tagelöhner, Jugendliche, Fahrer, unverheiratete Männer und andere Personen, ohne permanenten Wohnsitz in der jeweiligen Gegend, gibt es im ganzen Land Angebote geringerer Qualität, sogenannte chai khana (Teehaus). Dabei handelt es sich um einfache große Zimmer in denen Tee und Essen aufgetischt wird. Der Preis für eine Übernachtung beträgt zwischen 0,4 und 1,4 USD. In Kabul und anderen großen Städten gibt es viele solche chai khana und wenn ein derartiges Haus voll ist, lässt sich Kost und Logis leicht anderswo finden. Man muss niemanden kennen um dort eingelassen zu werden (Beilage ./VI, S. 31).

Rückkehrer:

Im Jahr 2017 kehrten sowohl freiwillig, als auch zwangsweise insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB 22.01.2019, S. 353).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können (LIB 22.01.2019, S. 354 f).

IOM, IRARA, ACE und AKAH bieten Unterstützung und nachhaltige Begleitung bei der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Schulungen an. NRC bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an und hilft bei Grundstücksstreitigkeiten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden (LIB 22.01.2019, S. 355 f).

Psychologische Unterstützung von Rückkehrer/innen wird über die Organisation IPSO betrieben - alle Leistungen sind kostenfrei. Diejenigen, die es benötigen und in abgelegene Provinzen zurückkehren, erhalten bis zu fünf Skype-Sitzungen von IPSO. Für psychologische Unterstützung könnte auch ein Krankenhaus aufgesucht werden; möglicherweise mangelt es diesen aber an Kapazitäten (LIB 22.01.2019, S. 356 f).

Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Nur sehr wenige Afghanen in Europa verlieren den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Dennoch haben alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (LIB 22.01.2019, S. 357 f).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 22.01.2019, S. 358).

Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 22.01.2019, S. 357).

Es kann nicht festgestellt werden, dass Rückkehrer allein aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt sind.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungs- und Gerichtsakt, durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden Beilage ./I bis ./VII (Artikel der New York Times - Beilage ./I; Konvolut Auszüge ZMR, GVS, Strafregister, Schengener Informationssystem - Beilage ./II;

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 29.06.2018 - Beilage ./III; Gutachten Mag. Mahringer vom 05.03.2017 - Beilage ./IV; Landinfo, Rekrutierung durch die Taliban, vom 29.06.2017 - Beilage ./V; EASO Bericht zu Afghanistan betreffend Netzwerke aus Jänner 2018 - Beilage ./VI; Gutachten Dr. Rasuly zur Lage der Hazara in Afghanistan, vom 25.07.2017 - Beilage ./VII) und Beilage ./A bis ./D (Vollmacht - Beilage ./A; Bestätigung Anmeldung Deutschkurs A1 [ident mit AS 159] - Beilage ./B; Konvolut medizinische Unterlagen - Beilage ./C; Unterstützungsschreiben vom 31.03.2018 - Beilage./D) sowie in das arbeitsmedizinische Gutachten vom 12.10.2018 und die mit Parteiengehör vom 06.02.2018 (OZ 21 - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 22.01.2019, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend die Lage in Herat und Mazar-e Sharif aufgrund anhaltender Dürre vom 13.09.2018; ACCORD Anfragebeantwortung zu den Folgen von Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif vom 12.10.2018; auszugsweise Übersetzung der EASO Country Guidance Afghanistan aus Juni 2018, Seite 21 bis 25 und 98 bis 109; Stellungnahme Dr. Rasuly zu Akzent und iranische Aussprache vom 19.07.2017; Standard Artikel zum Unterschied Farsi-Dari vom 08.07.2011) übermittelten Länderberichte.

Dem Erkenntnis werden die EASO Country Guidance Afghanistan aus Juni 2018 sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 zugrunde gelegt.

Die Feststellungen basieren auf den in den Klammern angeführten Beweismitteln.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

2.1.1. Bei der Beurteilung des Vorbringens des Beschwerdeführers findet in die Beweiswürdigung Eingang, dass es sich beim Beschwerdeführer bei den Einvernahmen teilweise um einen Minderjährigen handelte, sodass die Dichte des Vorbringens des Beschwerdeführers nicht mit "normalen" Maßstäben gemessen werden kann (vgl. VwGH 24.09.2014, 2014/19/0020). Der Beschwerdeführer war bei der Erstbefragung am 21.05.2015 16 Jahre alt und bei der Einvernahme beim Bundesamt am 14.11.2016 17 Jahre alt. Bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung war der Beschwerdeführer hingegen bereits volljährig. Das erkennende Gericht nimmt deshalb darauf Bedacht, dass die Einvernahmen des Beschwerdeführers in der Erstbefragung und beim Bundesamt aus der Perspektive eines Minderjährigen erfolgten.

2.1.2. Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

Die Feststellung zur Identität des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie aus dem eingeholten Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung vom 29.12.2015. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu seinem derzeitigen Familienstand gründen auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerde-führers zu zweifeln.

2.1.3. Dass der Beschwerdeführer in der Stadt Kabul geboren ist, ergibt sich aus seinen diesbezüglich schlüssigen Angaben in der Erstbefragung und beim Bundesamt (AS 3, 145). So gab der Beschwerdeführer beim Bundesamt an, dass seine Onkel in der Provinz Ghazni seien und auch seine Familie ursprünglich aus dieser Gegend stamme. Seine Familie sei von Ghazni nach Kabul gezogen, wo der Beschwerdeführer geboren sei und gelebt habe (AS 145). Soweit der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung angegeben hat in Ghazni geboren zu sein und erst danach nach Kabul gezogen zu sein (OZ 8, S. 6), ist dies im Vergleich zu seinen diesbezüglich schlüssigen und gleichgebliebenen Angaben in der Erstbefragung und beim Bundesamt nicht glaubhaft.

Der Beschwerdeführer gab beim Bundesamt an, dass seine Mutter noch in Afghanistan verstorben sei und sein Vater danach nicht nochmal geheiratet habe (AS 143, 147). Das Gericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder dieselbe Mutter gehabt haben. Im Verfahren ist auch nichts Gegenteiliges hervorgekommen. Der Beschwerdeführer gab in der Erstbefragung an, dass sein Bruder ca. 10 Jahre alt sei (AS 7) und führte das Alters seines Bruders beim Bundesamt mit ca. 12 Jahre an (AS 143). Der Bruder des Beschwerdeführers ist somit ca. 5,5 Jahre jünger als der Beschwerdeführer, der zum Zeitpunkt der Erstbefragung 16 und beim Bundesamt 17 Jahre alt war. Da die Mutter des Beschwerde-führers noch in Afghanistan verstorben sei, muss der Bruder des Beschwerdeführers noch in Afghanistan zur Welt gekommen sein. Es waren daher die entsprechenden Feststellungen zum Tod der Mutter des Beschwerdeführers und dem Umzug der Familie des Beschwerdeführers nach Pakistan frühestens im Jahr 2005 zu treffen.

Dass der Beschwerdeführer sechs Jahre lang in Pakistan eine inoffizielle afghanische Schule besucht hat, ergibt sich aus seiner Angabe in der Erstbefragung, wonach er von 2006 bis 2012 die Grundschule in Pakistan besucht habe (AS 3). Soweit er beim Bundesamt und in der Beschwerdeverhandlung angegeben hat, dass er lediglich zwei Jahre zur Schule gegangen sei und danach vier Jahre einen Englischkurs absolviert habe (AS 141; OZ 8, S. 6 f), scheint dies insbesondere vor den fehlenden englischen Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers nicht nachvollziehbar. So konnte der Beschwerdeführer die englischen Wörter eines englischen Zeitungsartikels teilweise nicht aussprechen und hat den Inhalt nicht verstanden (OZ 8, S. 13). Hätte der Beschwerdeführer tatsächlich vier Jahre lang einen Englischkurs besucht, müsste der Beschwerdeführer zumindest in der Lage sein die englischen Wörter richtig auszusprechen. Es war daher festzustellen, dass der Beschwerdeführer sechs Jahre lang die Schule, jedoch keine 4 Jahre lang einen Englischkurs absolviert hat und nur sehr geringe Englischkenntnisse hat.

Die Feststellungen zum Aufwachsen des Beschwerdeführers und seiner wirtschaftlichen Situation in Afghanistan und Pakistan sowie seiner Berufserfahrung als Verkäufer und, dass er elektrische Geräte zusammengebaut hat, ergeben sich aus seinen diesbezüglich schlüssigen Angaben im Verfahren.

2.1.4. Die Feststellung zur Vertrautheit des Beschwerdeführers mit der afghanischen Kultur ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan geboren und dort mindesten fünf Jahre lang gelebt hat. Der Beschwerdeführer hat daher bereits als kleines Kind die Kultur und Gebräuche der Afghanen kennengelernt und ist von seinen Eltern und später in Pakistan von seinem Vater entsprechend erzogen worden. Der Beschwerdeführer hat zudem in Pakistan eine inoffizielle Schule, nur für Afghanen, besucht (OZ 8, S. 15 f). Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Pakistan weiterhin überwiegend mit Afghanen bzw. der afghanischen Kultur in Kontakt gewesen ist und diese auch gelernt sowie gelebt hat. Obwohl der Beschwerdeführer in der Erstbefragung angegeben hat Farsi als Muttersprache zu sprechen (AS 3), ist aufgrund des Umstandes, dass er in Afghanistan aufgewachsen ist und von seinen Eltern erzogen worden sei, davon auszugehen, dass er in der Sprache Dari erzogen worden ist. Zudem hat der Beschwerdeführer sechs Jahre lang eine afghanische Schule in Pakistan besucht, sodass daraus abzuleiten ist, dass der Beschwerdeführer dort in Dari unterrichtet worden ist. Soweit der Beschwerdeführer daher angegeben hat nur etwas bzw. ein bisschen in Dari lesen und schreiben zu können (AS 141; OZ 8, S. 12), wird dies als bloße Schutzbehauptung gewertet. Dies insbesondere auch deshalb, weil der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung zunächst angegeben hat ein bisschen Dari lesen und schreiben zu können und lediglich auf mehrmalige Nachfrage seines Rechtsvertreters ausführte, doch nicht in Dari schreiben und lesen zu können:

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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