TE Bvwg Erkenntnis 2019/2/12 G314 1261727-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.02.2019
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Entscheidungsdatum

12.02.2019

Norm

AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AVG §39 Abs2
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52 Abs4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §17

Spruch

G314 1250715-4/2E

G314 1261727-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerden 1. des XXXX, geboren am XXXX, und 2. der XXXX, geboren am XXXX, beide Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina, beide vertreten durch den XXXX, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 15.11.2018, jeweils berichtigt mit Bescheid vom 19.11.2018, Zl. XXXX und XXXX, betreffend die Erlassung von Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot beschlossen und zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerdeverfahren werden gemäß § 17 VwGVG iVm § 39 Abs 2

AVG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

B) Den Beschwerden wird Folge gegeben und die angefochtenen

Bescheide ersatzlos behoben.

C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) verfügt über einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus", seine Ehefrau, die Zweitbeschwerdeführerin (BF2), über einen Aufenthaltstitel "Niederlassungsbewilligung".

Mit Schreiben vom 21.03.2018 ersuchte die Bezirkshauptmannschaft XXXX als NAG-Behörde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) um Überprüfung fremdenrechtlicher Maßnahmen gegen die Beschwerdeführer (BF), die seit November 2016 Bedarfsorientierte Mindestsicherung beziehen würden, sodass die in § 11 Abs 2 Z 4 NAG normierte Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht erfüllt sei. Bei der BF2 könne kein Bemühen festgestellt werden, die Integrationsvereinbarung zu erfüllen oder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Am 18. und 21.09.2018 wurden die BF vor dem BFA zu ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet und zu möglichen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vernommen.

Mit den oben angeführten Bescheiden sprach das BFA aus, dass gegen die BF jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 Z 2 FPG erlassen und ihnen ein Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchpunkt I.), nach § 52 Abs 9 FPG festgestellt werde, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei (Spruchpunkt II.), gemäß § 53 Abs 1 FPG jeweils ein zweijähriges Einreiseverbot erlassen werde (Spruchpunkt III.) und die Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 Abs 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Dies wurde zusammengefasst damit begründet, dass sich die BF seit 2008 in Österreich aufhielten, wo auch ihre volljährigen und selbsterhaltungsfähigen Kinder lebten, den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen aber nach wie vor in Bosnien und Herzegowina hätten. Dort hätten sie keine Verfolgung zu befürchten. Sie gingen im Bundesgebiet keiner Erwerbstätigkeit nach und erhielten seit November 2016 Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Die BF2 habe die Deutschprüfung für das Sprachniveau A2 bislang nicht bestanden.

Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG und den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbots geht das BFA aktenwidrig davon aus, dass die BF im Bundesgebiet Straftaten begangen hätten. So weist es darauf hin, dass ihnen ihr Aufenthaltstitel "in Unwissenheit [ihrer] Verurteilung nach dem Verbrechen/Suchtmittelgesetz erteilt" [sic] worden sei, dass die Unterbindung des Aufenthalts straffälliger Personen zum Schutz des wirtschaftlichen Wohls des Landes bedeutsam sei, dass die für die Integration wesentliche soziale Komponente durch von Fremden begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt werde und das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung insbesondere "im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Tathergangs und das große öffentliche Interesse an deren Bekämpfung" [sic] überwiege, dass der Tatbestand des § 53 Abs 3 Z 1 FPG erfüllt sei und das Verhalten der BF nicht nur eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle, sondern auch geeignet sei, "die Volksgesundheit nachhaltig zu gefährden".

Dagegen richten sich die Beschwerden mit den Anträgen, eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen und die angefochtenen Bescheide ersatzlos zu beheben. Hilfsweise stellen die BF jeweils einen Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag. Weitere Eventualanträge sind auf die Aufhebung der Rückkehrentscheidung, die Aufhebung des Einreiseverbots, die Reduktion der Dauer des Einreiseverbots und dessen Beschränkung auf das Bundesgebiet gerichtet. Die Beschwerden werden im Wesentlichen damit begründet, dass die vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten der BF hätte ausgehen müssen. Diese hielten sich seit zehn Jahren im Bundesgebiet auf und hätten hier ihren Lebensmittelpunkt etabliert. Sie seien um den Erwerb von Deutschkenntnissen bemüht und strafrechtlich unbescholten. Sie seien arbeitswillig; die Suche nach einem Arbeitsplatz scheitere jedoch bislang an gesundheitlichen Problemen und am Alter des BF1. Dieser sei Diabetiker und habe Augenprobleme; die BF2 leide an Migräne und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die benötigten Behandlungen seien in Bosnien und Herzegowina zwar vorhanden, aber für die BF nicht leistbar.

Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo sie am 28.01.2019 einlangten, und erstattete eine Gegenäußerung zur Beschwerde.

Feststellungen:

Die BF stammen aus der bosnisch-herzegowinischen Stadt XXXX, die heute in der Republika XXXX liegt. Ihre Muttersprache ist Bosnisch, sie bekennen sich zum Islam und sind seit 1991 miteinander verheiratet. Sie haben drei mittlerweile volljährige Kinder, von denen zwei in Österreich leben.

Die BF halten sich seit November 2008 durchgehend in Österreich auf, nachdem sie bereits zuvor erfolglos internationalen Schutz beantragt hatten. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 07.11.2008 wurde am 12.11.2008 zugelassen.

Mit den Bescheiden des Bundesasylamts vom 02.04.2009 wurden die Anträge auf internationalen Schutz vom 07.11.2008 vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.) und die BF aus dem Bundesgebiet nach Bosnien und Herzegowina ausgewiesen (Spruchpunkt III). Die BF erhoben dagegen jeweils eine Beschwerde. Bei der Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 23.01.2015 zogen sie die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. der Bescheide vom 02.04.2009 zurück. Mit dem am selben Tag mündlich verkündeten Erkenntnis des BVwG zu GZ G304 1250715-3 und G304 1261727-2 wurde der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen die BF auf Dauer unzulässig sei.

Die BF bezogen von November 2008 bis Ende März 2015 Leistungen der Grundversorgung und waren als Asylwerber krankenversichert.

Die BF verfügen jeweils über am 08.05.2015 in XXXX ausgestellte und bis 08.05.2025 gültige bosnisch-herzegowinische Reisepässe. Nach der Entscheidung des BVwG erhielten sie zunächst jeweils eine bis 16.03.2016 gültige Aufenthaltsberechtigung. Danach wurde dem BF1, der am 22.02.2016 erfolgreich eine Prüfung über vertiefte elementare Kenntnisse der deutschen Sprache zur Kommunikation und zum Lesen und Schreiben von Texten des Alltags auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen abgelegt hatte, ein zunächst bis 16.03.2017 gültiger Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" erteilt, der zuletzt bis 16.03.2020 verlängert wurde und freien Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Der BF2, die zwar Deutschkurse besucht, die Prüfung für das Sprachniveau A2 jedoch nicht bestanden hatte, wurde ein zunächst bis 16.03.2017 gültiger Aufenthaltstitel "Niederlassungsbewilligung" erteilt, der zuletzt bis 16.03.2020 verlängert wurde und sie nur zu selbständiger Erwerbstätigkeit berechtigt.

Die BF lebten in Österreich stets in einem gemeinsamen Haushalt. Seit Juli 2016 wohnen sie in einer kleinen Mietwohnung in XXXX. Ihr am XXXX geborener Sohn XXXX, der Ende 2008 gemeinsam mit ihnen nach Österreich gekommen war und hier zunächst mit ihnen zusammengelebt hatte, absolvierte in Österreich eine Lehre; er verfügt über einen bis 16.03.2020 gültigen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" und wohnt seit September 2018 in XXXX. Die am XXXX geborene Tochter der BF, XXXX, die in XXXX lebt und zu der die BF weniger Kontakt haben, ist österreichische Staatsbürgerin. Zu einer weiteren Tochter haben die BF seit längerem keinen Kontakt; ihr Aufenthalt ist ihnen nicht bekannt.

Der BF1 leidet an Diabetes mit diversen Komplikationen, unter anderem Polyneuropathie, diabetische Netzhauterkrankung und Minderung der Sehschärfe. Sein Sehvermögen ist deutlich vermindert. Die BF2 ist in Österreich wegen Migräne und posttraumatischer Belastungsstörung in ärztlicher Behandlung.

Die BF gingen im Bundesgebiet nie einer Erwerbstätigkeit nach. Der BF1 hatte vor 2008 in seinem Herkunftsstaat als Kellner gearbeitet; die BF2 war bislang nie außerhäuslich erwerbstätig. Sie verfügt über keine nennenswerte Schulbildung, ist Analphabetin und spricht Deutsch gebrochen auf einfachem Niveau. Das Absolvieren einer Deutschprüfung für das Sprachniveau A2 kann ihr nach dem (weiterhin gültigen) amtsärztlichen Schreiben vom 25.04.2016 aufgrund ihres psychischen Gesundheitszustands nicht zugemutet werden.

Der BF1 war in Österreich immer wieder beim Arbeitsmarktservice (AMS) als Arbeit suchend vorgemerkt und besuchte vom AMS vorgeschlagene Kurse; seine Arbeitssuche blieb jedoch - trotz diverser Bewerbungen - erfolglos. Eine berufliche Integration ist nach arbeitsmedizinischer und -psychologischer Einschätzung erst nach deutlicher Verbesserung seines Gesundheitszustands und seiner Deutschkenntnisse realistisch.

Zwischen Mai 2015 und Februar 2016 erhielten die BF Sozialhilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes nach dem Steiermärkischen Sozialhilfegesetz. Der BF1 verfügte zwischen 31.03.2015 und 29.09.2016 über eine Selbstversicherung gemäß § 16 Abs 1 ASVG; zwischen 30.09. und 04.11.2016 sowie zwischen 02.07. und 03.08.2018 bezog er während des Besuchs der vom AMS vorgeschlagenen Kurse Arbeitslosengeld. Von November 2016 bis Juni 2018, von 15. bis 18.09.2018 und seit 15.10.2018 erhalten die BF Bedarfsorientierte Mindestsicherung und sind so auch krankenversichert.

Die BF haben in Bosnien und Herzegowina, wo sie seit vielen Jahren nicht mehr waren, keine Bezugspersonen. Sie haben Angehörige in Deutschland.

Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten; ein Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der unrechtmäßigen Inanspruchnahme von sozialen Leistungen nach § 119 FPG wurde eingestellt. Der BF1 ist in seinem Herkunftsstaat wegen einer vor 2008 begangenen Straftat vorbestraft.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich ohne entscheidungserhebliche Widersprüche aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Akten des Verwaltungsverfahrens und des Gerichtsakts des BVwG.

Die Feststellungen basieren ebenfalls auf dem weitgehend widerspruchsfreien Akteninhalt, insbesondere auf den von den BF vorgelegten Urkunden, ihren Angaben vor dem BFA und den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), Fremdenregister, Strafregister und GVS-Betreuungsinformationssystem.

Die Reisepässe, die Heiratsurkunde und die den BF in Österreich erteilten Aufenthaltstitel wurden vorgelegt. Aus dem Geburtsort der BF und dem Ort ihrer Eheschließung wird abgeleitet, dass sie aus XXXX stammen. Ihre bosnische Muttersprache ist aufgrund ihrer Herkunft nachvollziehbar, zumal die Verständigung mit dem vom BFA beigezogenen Dolmetsch für diese Sprache problemlos möglich war und Bosnischkenntnisse auch im Erkenntnis des BVwG vom 23.01.2015 festgehalten wurden. Das Religionsbekenntnis der BF ergibt sich z.B. aus dem Auszug aus dem GVS-Betreuungsinformationssystem. Die BF gaben ihre in Österreich lebenden Kinder in ihren Anträgen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln an. Der Aufenthaltstitel ihres Sohnes ist aktenkundig.

Der sporadische Kontakt zu ihrer Tochter XXXX kann aus dem

Erkenntnis des BVwG vom 23.01.2015 ("Eine weitere Tochter ... lebt

in XXXX. Sie steht unter der Vormundschaft des dortigen Jugendamtes und steht die BF2 in regelmäßigem telefonischen Kontakt zu ihrer Tochter. Sie besucht die Familie auch von Zeit zu Zeit") und aus der arbeitspsychologischen Stellungnahme vom 23.10.2018 ("Tochter habe Büroausbildung und studiere, Beziehung sei belastet, kaum Kontakt") abgeleitet werden.

Die BF2 gab vor dem BFA an, sie habe ihre zweite Tochter "verloren und nicht mehr gefunden". Damit in Einklang wird im Erkenntnis des BVwG vom 23.01.2015 eine möglicherweise noch in Bosnien und Herzegowina lebende Tochter der BF erwähnt, über deren Verbleib seit mehreren Jahren nichts bekannt sei.

Der Aufenthalt der BF in Österreich seit November 2008 ergibt sich aus ihren durchgehenden Hauptwohnsitzmeldungen laut dem Zentralen Melderegister (ZMR), die auch ihren gemeinsamen Haushalt belegen, und aus ihren entsprechenden Angaben vor dem BFA. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sie das Bundesgebiet seither (außer für kurzfristige, z.B. anhand der Grenzkontrollstempel in ihren Reisepässen dokumentierte Auslandsaufenthalte) verließen, zumal ihre Reisepässe in der Botschaft von Bosnien und Herzegowina in XXXX ausgestellt wurden.

Die Anträge der BF auf internationalen Schutz sind im Fremdenregister und im GVS-Betreuungsinformationssystem dokumentiert. Der Verfahrensgang nach dem Antrag vom 07.11.2008 kann insbesondere anhand des Erkenntnisses des BVwG vom 23.01.2015 festgestellt werden. Die Zulassung des Antrags ergibt sich aus dem Fremdenregister, der Bezug von Grundversorgungsleistungen aus dem GVS-Betreuungsinformationssystem. Die Krankenversicherung der BF ist auch im Versicherungsdatenauszug dokumentiert.

Das Zeugnis über die vom BF1 absolvierte Deutschprüfung wurde vorgelegt. Die Feststellung, dass die BF2 zwar Deutschkurse besuchte, die Prüfung aber nicht erfolgreich ablegte, beruht auf ihren Angaben vor dem BFA, die durch das vorgelegte Diplom vom 30.09.2014 und durch das amtsärztliche Schreiben vom 25.04.2016 untermauert werden.

Die gesundheitlichen Probleme der BF gehen aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen hervor, die fehlende Erwerbstätigkeit im Inland aus dem Versicherungsdatenauszug, in Bezug auf den BF1 auch aus den vorgelegten Betreuungsvereinbarungen mit dem AMS und aus den arbeitsmedizinischen Unterlagen. Daraus ergibt sich auch seine Erwerbstätigkeit im Herkunftsstaat.

Die fehlende Schulbildung der BF2, ihre beschränkten Deutschkenntnisse und die fehlende Zumutbarkeit der Absolvierung einer Deutschprüfung werden anhand der amtsärztlichen Stellungnahme vom 25.04.2016 festgestellt, die laut dem aktenkundigen Aktenvermerk über ein Gespräch mit dem Amtsarzt am 07.02.2017 weiterhin aufrecht ist. Damit steht im Einklang, dass laut dem Erkenntnis des BVwG vom 23.01.2015 die (mündlichen) Deutschkenntnisse der BF2 für eine Gesprächsführung ausreichend sind und sie erst in Österreich begann, Lesen und Schreiben zu erlernen.

Die Feststellungen zur Arbeitssuche des BF1 basieren auf den vorgelegten Betreuungsvereinbarungen mit dem AMS, den vorgelegten Bewerbungen bzw. Bewerbungsergebnissen und den arbeitsmedizinischen Unterlagen. Der Bezug von Sozialhilfe und von Bedarfsorientierter Mindestsicherung geht aus den dazu vorliegenden Bescheiden und aus dem damit korrespondierenden Versicherungsdatenauszug hervor.

Die fehlenden Bindungen der BF zu ihrem Herkunftsstaat ergeben sich aus ihren insoweit übereinstimmenden Aussagen gegenüber dem BFA, die mit dem Erkenntnis des BVwG vom 23.01.2015 ("Keiner der BF hat Kontakte ins Herkunftsland.") gut in Einklang gebracht werden können. Die BF2 erwähnte vor dem BFA Verwandte in Deutschland.

Die Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus dem Strafregister, in dem keine Verurteilungen aufscheinen. Die Einstellung des (vom BFA im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eingeleiteten) Ermittlungsverfahrens wegen § 119 FPG ergibt sich aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft XXXX vom 23.01.2019. Die Vorstrafe des BF1 in Bosnien und Herzegowina wird anhand des Erkenntnisses des BVwG vom 23.01.2015 festgestellt (wobei diese Verurteilung schon damals nicht zum Anlass genommen wurde, eine vom BF ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit anzunehmen, weil keine neuerliche Straffälligkeit befürchtet wurde).

Die Unrichtigkeit der aus den angefochtenen Bescheiden hervorgehenden Annahme des BFA, die BF seien in Österreich straffällig geworden, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Spruch der angefochtenen Bescheide mit Bescheid vom 19.11.2018 dahin berichtigt wurde, dass die (eine entsprechende strafgerichtliche Verurteilung voraussetzende) Bestimmung des § 53 Abs 3 Z 1 FPG aus dem Spruch eliminiert wurde. Eine Berichtigung der Begründung der angefochtenen Bescheide erfolgte dagegen nicht.

Für weitere private oder familiäre Anknüpfungen oder zusätzliche Integrationsmomente gibt es weder im Akteninhalt noch im Vorbringen der BF Hinweise.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Das BVwG kann nach § 17 VwGVG iVm § 39 Abs 2 AVG unter Bedachtnahme auf möglichste Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis mehrere in seine Zuständigkeit fallende Rechtssachen zur gemeinsamen Entscheidung verbinden, soweit dies im Rahmen der Geschäftsverteilung möglich ist (Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10 Rz 276/1 und 798).

Da die BF in Familiengemeinschaft leben und die angefochtenen Bescheide sowie die Beschwerden inhaltlich weitgehend übereinstimmen, sodass in beiden Beschwerdeverfahren ähnliche Tatsachen- und Rechtsfragen zu klären sind, sind die Verfahren, die derselben Gerichtsabteilung des BVwG zugewiesen wurden, aus Zweckmäßigkeitsgründen zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden.

Zu Spruchteil B):

Die BF sind als Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina Drittstaatsangehörige iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG.

Da sie über gültige Aufenthaltstitel verfügen, halten sie sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf, sodass eine Rückkehrentscheidung gegen sie nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 52 Abs 4 FPG möglich ist.

Da die Rückkehrentscheidung massiv in das Privat- und Familienleben der BF eingreift, die seit mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet leben, ist überdies unter dem Gesichtspunkt von Art 8 EMRK die Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Nach § 9 Abs 1 BFA-VG ist (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198).

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ergibt sich hier, dass sich die BF seit über zehn Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Ihr Aufenthalt war zunächst als Asylwerber und ab 2015 aufgrund der ihnen erteilten Aufenthaltstitel rechtmäßig. Auch wenn ihr Aufenthalt während des Asylverfahrens nicht als "Niederlassung" iSd § 2 Abs 2 NAG angesehen werden kann, sodass die Einschränkungen für die Erlassung von Rückkehrentscheidungen nach § 9 Abs 5 und 6 BFA-VG, die eine fünfjährige bzw. achtjährige Niederlassung voraussetzen, nicht anzuwenden sind, wurde eine Rückkehrentscheidung aufgrund der überwiegenden privaten und familiären Interessen der BF an einem Verbleib im Inland schon 2015 für auf Dauer unzulässig angesehen, wobei ihre Anknüpfungen im Bundesgebiet seither schon aufgrund der längeren Aufenthaltsdauer stärker geworden sind.

Die BF haben aufgrund der Beziehung zu ihren volljährigen Kindern, einer österreichischen Staatsbürgerin und einem in Österreich aufenthaltsberechtigten Sohn, ein schützenswertes Privatleben im Inland. Sie sind hier unbescholten und haben sich keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zuschulden kommen lassen.

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden ist nach der Rechtsprechung des VwGH regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl zuletzt z.B. VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120).

Auch wenn eine Integration der BF am österreichischen Arbeitsmarkt bislang nicht gelungen ist und sie nach wie vor auf Sozialleistungen angewiesen sind, kann nicht gesagt werden, dass sie die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht für ihre Integration genützt haben. Beide BF haben sich um den Erwerb von Deutschkenntnissen bemüht, wobei der BF1 eine Prüfung für das Sprachniveau A2 abgelegt hat und die BF2, deren Ausgangssituation aufgrund der fehlenden Alphabetisierung ungleich schwieriger war, zumindest einfache Gespräche auf Deutsch führen kann. Von der Pflicht zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung ist sie gemäß § 9 Abs 5 Z 2 IntG ausgenommen. Der fehlende Erfolg der Arbeitssuche des BF1 ist nicht auf Arbeits- oder Integrationsunwilligkeit zurückzuführen, sondern auf die langjährige Beschäftigungslosigkeit während des Asylverfahrens, gesundheitliche Probleme, vor allem ein eingeschränktes Sehvermögen, begrenzte Sprachkenntnisse und auch auf sein Alter. Auch der BF2 kann die fehlende Selbsterhaltungsfähigkeit angesichts ihrer Gesundheitssituation und des Fehlens jeglicher Berufserfahrung nicht zum Vorwurf gemacht werden, zumal sie ihr Aufenthaltstitel nur zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt, was aufgrund der fehlenden Basisbildung kaum denkbar ist.

Aufgrund des langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts der BF in Österreich und ihrer Sozialkontakte, insbesondere zu ihren hier lebenden Kindern, haben sie nach wie vor - wie Anfang 2015 - ein erhebliches privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet. Die Rückkehrentscheidung greift - auch aufgrund der gelockerten Bindung zu ihrem Herkunftsstaat, in dem sie seit vielen Jahren nicht mehr gelebt haben und wo sie keine nahen Bezugspersonen haben - unverhältnismäßig in ihre Rechte nach Art 8 EMRK ein, obwohl sie weder erwerbstätig noch selbsterhaltungsfähig sind und für ihren Lebensunterhalt durch den Bezug von Sozialleistungen aufkommen.

Angesichts der Integration der BF während ihres langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich ist daher von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen sie Abstand zu nehmen. Ihr privates Interesse an einem Verbleib überwiegt das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Dies bedingt auch den Entfall der übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids, der somit in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben ist.

Da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist, entfällt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG.

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es keine Rechtsgrundlage dafür gibt, aus Anlass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 FPG gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG von Amts wegen zu prüfen und darüber im Bescheid abzusprechen (vgl VwGH 15.03.2018, Ra 2017/21/0260).

Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG ist nicht zulässig, weil das BVwG keine grundsätzlichen Rechtsfragen im Sinne dieser Gesetzesstelle zu lösen hatte.

Schlagworte

Einreiseverbot, Interessenabwägung, private Interessen,
Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:G314.1261727.3.00

Zuletzt aktualisiert am

16.04.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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