TE Bvwg Beschluss 2019/2/28 W256 2201374-1

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Veröffentlicht am 28.02.2019
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Entscheidungsdatum

28.02.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W256 2201374-1/4E

W256 2201372-1/5E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Caroline KIMM als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1 XXXX , geboren am XXXX und 2. XXXX geboren am XXXX , beide StA. Somalia, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11. Juni 2018, 1. Zl. XXXX und 2. Zl. XXXX :

A) Die angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz

VwGVG aufgehoben und die Angelegenheiten zur Erlassung von neuen Bescheiden an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

Die Erstbeschwerdeführerin stellte am 9. September 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

Am 3. März 2015 stellte sie als gesetzliche Vertreterin für ihre am XXXX geborene Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin, einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde am 25. Mai 2017 vor einem Organ der belangten Behörde u.a. zu ihren Fluchtgründen befragt. Eine Befragung zu den Fluchtgründen der Zweitbeschwerdeführerin fand dabei nicht statt.

Über Nachfrage der Betreuerin der Erstbeschwerdeführerin am 15. Mai 2018 teilte die belangte Behörde dieser mit E-Mail vom 4. Juni 2018 mit, dass der "Bescheid" "in Kürze finalisiert" werde.

Daraufhin fand laut den Angaben im angefochtenen Bescheid am 5. Juni 2018 eine telefonische Besprechung zwischen einem Mitarbeiter der belangten Behörde und der Betreuerin der Erstbeschwerdeführerin, insbesondere im Hinblick auf die fehlende Angabe, ob für die Zweitbeschwerdeführerin eigene Fluchtgründe oder jene der Erstbeschwerdeführerin gelten würden, statt.

Im Akt der Zweitbeschwerdeführerin befindet sich ein von der Erstbeschwerdeführerin unterzeichnetes und am 6. Juni 2018 an die belangte Behörde übermitteltes Formular der belangten Behörde vom 5. Juni 2018. Darin stellt die Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertretung für die Zweitbeschwerdeführerin einen Antrag auf Durchführung eines Familienverfahrens. Auch wurde darin der im Formular vorgegebene Zusatz "Das Kind ist gesund, hat keine eigenen Flucht- und Rückkehrbefürchtungen, der Antrag bezieht sich ausschließlich auf die Gründe des Vaters bzw. der Mutter" angekreuzt.

Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerinnen nach Somalia zulässig sei.

Begründend führte die belangte Behörde - soweit hier wesentlich - aus, die geltend gemachten Fluchtgründe der Erstbeschwerdeführerin seien nicht glaubhaft und seien für die Zweitbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe angeführt worden. Insbesondere habe die Erstbeschwerdeführerin eine Gefahr der Beschneidung nicht angeführt. Zu einer möglichen Zwangsbeschneidung führte die belangte Behörde wie folgt aus:

"Ihre Mutter gab nicht an im Verfahren, dass Sie im Falle einer Rückkehr nach Somalia in Gefahr wären, beschnitten zu werden. Da dies in Somalia jedoch im Raum stehen kann, wird auch auf diese hypothetische Möglichkeit eingegangen. Um eine Verstümmelung einer Tochter zu vermeiden, kommt es laut Information der Staatendokumentation auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Auch der Bildungshintergrund, der soziale Status sowie die kulturelle und geographische Zugehörigkeit spielen eine Rolle. Es gibt sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen. Leichter ist es aber in Städten, wo die Anonymität eher gegeben bzw. die soziale Interaktion geringer ist. Sie würden mit Ihrer Mutter zu deren Kernfamilie nach Boosaaso zurückehren, der Hauptstadt Puntlands, das FGM verbietet. Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten. Unbeschnittene Frauen sind in der somalischen Gesellschaft sozial stigmatisiert; allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Sie würden in die Hauptstadt Puntlands zurückkehren, wo Anonymität eher gegeben ist. Eine Möglichkeit ist auch, dass eine Mutter vorgibt, dass Ihre Tochter einer Sunna unterzogen wird."

Da insofern insgesamt keine Verfolgung der Beschwerdeführerinnen festgestellt werden habe können, sei spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende Beschwerde der Beschwerdeführerinnen, mit welcher Rechtswidrigkeit u.a. infolge Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend gemacht wird.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A)

Zur Zweitbeschwerdeführerin:

Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Diese Vorgangsweise setzt nach § 28 Abs. 2 Ziffer 2 voraus, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

In seinem Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Zl. Ro 2014/03/0063, hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommen wird, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. jüngst auch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. Jänner 2017, Zl. Ra 2016/12/0109, Rz 18ff.).

Der angefochtene Bescheid ist in Bezug auf die Zweitbeschwerdeführerin mangelhaft:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Im vorliegenden Fall hat die Erstbeschwerdeführerin auch für ihre minderjährige Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin und damit für eine Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

§ 34 Abs. 4 AsylG 2005 ordnet ausdrücklich an, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen und über jeden mit gesondertem Bescheid abzusprechen ist.

Daraus folgt aber, dass für jeden Familienangehörigen allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln sind. Nur wenn solche - nach einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren - nicht hervorkommen, ist dem Familienangehörigen jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde (siehe dazu u.a. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. März 2015, Ra 2014/19/0063 m.v.w.H sowie jüngst das Erkenntnis des Verwaltungsgerichthofes vom 15. Oktober 2018, Ra 2018/14/0143).

In Bezug auf die Ermittlung von Fluchtgründen ordnet § 19 Abs. 2 AsylG eine verpflichtende Einvernahme des Asylwerbers durch den zur Entscheidung berufenen Organwalter an. Damit soll - nach den Erläuterungen zur RV 952 BlgNR XXII. GP - ein Asylwerber die Möglichkeit erhalten, von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter persönlich angehört zu werden.

Von einer solchen Einvernahme kann - wie aus § 19 Abs. 2 AsylG hervorgeht - grundsätzlich nur in jenen Fällen abgesehen werden, in denen der Asylwerber auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen.

Das entbindet die belangte Behörde aber nicht von ihrer oben dargestellten Pflicht, für jeden Familienangehörigen allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln, weshalb sie - dem Zweck des § 19 Abs. 2 AsylG 2005 entsprechend - in solch einem Fall unter Umständen dazu befähigte Personen zu befragen hat.

Im vorliegenden Fall fand eine persönliche Befragung der Mutter und gesetzlichen Vertreterin der aufgrund ihres Alters nicht vernehmungsfähigen Zweitbeschwerdeführerin zu den Fluchtgründen der Zweitbeschwerdeführerin nicht statt. Das im Akt einliegende von der Erstbeschwerdeführerin ausgefüllte und der belangten Behörde lediglich übersendete Formular, wonach die Zweitbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe habe, kann eine - dem Zweck des § 19 Abs. 2 AsylG entsprechende - ordnungsgemäße Einvernahme im vorliegenden Fall jedenfalls nicht ersetzen.

Dies umso mehr, als die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid - im Einklang mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - ohnedies von sich aus eine asylrelevante Verfolgung der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund einer ihr allfällig drohenden Genitalverstümmelung in Betracht gezogen hat (vgl. dazu den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. Juni 2016, Ra 2016/18/0045 u.v.m.), eine solche allerdings aufgrund der "Standhaftigkeit" der Mutter und der ihr diesbezüglich eingeräumten Weigerungsmöglichkeiten in von FGM weniger betroffenen urbanen Gebieten, verneint hat.

Gerade die Beurteilung, ob überhaupt und bejahendenfalls mit welchen Mitteln sich die Erstbeschwerdeführerin als Mutter der Zweitbeschwerdeführerin gegen eine allfällige Genitalverstümmelung der Zweitbeschwerdeführerin wendet, kann von der belangten Behörde aber nicht ohne weiteres und damit eigenständig beurteilt werden.

Dadurch, dass die belangte Behörde dies verkannte und insofern die Erstbeschwerdeführerin zu den Fluchtgründen der Zweitbeschwerdeführerin nicht (ordnungsgemäß) befragt hat, wurde der Zweitbeschwerdeführerin aber die Möglichkeit einer eingehenden und gesonderten Auseinandersetzung mit den eigenen Fluchtgründen genommen.

Da somit der maßgebliche Sachverhalt nicht feststeht, war im Hinblick auf diese besonders gravierende Ermittlungslücke eine Zurückverweisung erforderlich und auch gerechtfertigt (vgl. dazu den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. Oktober 2015, Zl. Ra 2015/09/0088).

Die belangte Behörde wird daher im fortgesetzten Verfahren angehalten, sich mit den Fluchtgründen der Zweitbeschwerdeführerin eingehend und gesondert auseinanderzusetzen und dazu konkrete Ermittlungsschritte, sei es durch eine dem Gesetz entsprechende Befragung, durch Einholung von entsprechenden Länderberichten oder durch weitere sich daraus ergebender Maßnahmen, zu setzen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Denn die belangte Behörde ist als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig. Überdies soll eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind daher im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Folglich war das Verfahren betreffend die Zweitbeschwerdeführerin zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zur Erstbeschwerdeführerin:

Wie bereits oben ausgeführt wurde, handelt es sich bei der Erstbeschwerdeführerin als Mutter um eine Familienangehörige der Zweitbeschwerdeführerin im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Da das die Zweitbeschwerdeführerin betreffende Verfahren hinsichtlich der Gewährung des Status einer Asylberechtigten wieder bei der belangten Behörde anhängig ist und gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 Verfahren von Familienangehörigen "unter einem" zu führen sind, war der die Erstbeschwerdeführerin betreffende Bescheid ebenso an die belangte Behörde zurückzuverweisen (siehe dazu die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. Juni 2011, 2011/23/0098; vom 25. November 2009, 2007/01/1153; sowie vom 26. Juni 2007, 2007/20/0281, ua).

Eine mündliche Verhandlung konnte im vorliegenden Fall gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG unterbleiben, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass die angefochtenen Bescheide "aufzuheben" waren. Dieser Tatbestand ist auch auf Beschlüsse zur Aufhebung und Zurückverweisung anwendbar (vgl. zur gleichartigen früheren Rechtslage Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 22).

Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommt, wenn die Verwaltungsbehörde bloß ungeeignete Ermittlungen gesetzt hat, entspricht der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

aktuelle Länderfeststellungen, Behebung der Entscheidung,
Ermittlungspflicht, Familienverfahren, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W256.2201374.1.00

Zuletzt aktualisiert am

15.04.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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