TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/4 W129 2202362-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.03.2019
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Entscheidungsdatum

04.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W129 2001300-2/12E

W129 2001301-2/10E

W129 2202362-1/8E

W129 2001304-2/8E

W129 2001303-2/8E

W129 2001302-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter DDr. Markus GERHOLD über die Beschwerden 1.) von XXXX , geb. XXXX , 2.) von XXXX , geb. XXXX , 3.) von XXXX , geb. XXXX , 4.) von XXXX , geb. XXXX ,

5.) von XXXX , geb. XXXX , und 6.) von XXXX , geb. XXXX , StA Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 29.06.2018 1.) 831080205 - 180093968/BMI-BFA_KNT_RD, 2.) 831080303 - 180093984/BMI-BFA_KNT_RD, und 3.) 1181364509 - 180141296/BMI-BFA_KNT_RD, 4.) 831080706 - 180094018/BMI-BFA_KNT_RD, 5.) 831080401 - 180094000/BMI-BFA_KNT_RD und 6.) 831080510 - 180093992/BMI-BFA_KNT_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) stellte am 25.07.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz und gab bei der Erstbefragung am selben Tag an, dass sein Cousin namens XXXX ein Widerstandskämpfer in Tschetschenien sei. Dieser habe ihn im Jänner 2012 besucht und sei etwa eine Woche bei ihm geblieben. Seit dieser Zeit sei er mindestens 20mal von maskierten Männern aufgesucht worden und man habe ihn zum Aufenthaltsort seines Cousins befragt. Immer wieder sei er verschleppt und bedroht worden. Aus Angst getötet zu werden, habe er gemeinsam mit seiner Familie das Land verlassen.

Die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) stellte ebenfalls am 25.07.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz und gab im Zuge der Erstbefragung am selben Tag sinngemäß und zusammengefasst an, dass der Cousin ihres Gatten - XXXX - Widerstandskämpfer in Tschetschenien sei. Er habe sie im Jänner 2012 besucht und sei etwa eine Woche bei ihnen geblieben. Seit dieser Zeit sei ihr Gatte viele Male von maskierten Männern aufgesucht worden, man habe auch sie zum Aufenthaltsort seines Cousins befragt. Immer wieder sei der BF1 verschleppt und bedroht worden. Aus Angst getötet zu werden, hätten sie das Land verlassen.

Weiters gab sie an, dass ihre 3 Kinder - der Viertbeschwerdeführer (BF4), der Fünftbeschwerdeführer (BF5) und die Sechstbeschwerdeführerin (BF6) - seit ihrer Geburt in ihrer Obhut seien und für sie dieselben Asyl- und Fluchtgründe gelten würden wie für sie und ihren Gatten. Sie selber hätten keine eigenen Gründe.

2. Am 03.12.2013 wurde eine niederschriftliche Einvernahme des BF1 durchgeführt. Zum Fluchtgrund befragt gab er im Wesentlichen zusammengefasst an, dass Mitte Jänner 2012 sein Cousin bei ihm gewesen sei. Nach etwa 10 Tagen sei er von Russen und Tschetschenen mitgenommen worden. Er sei festgenommen worden. Sie hätten ihn mitgenommen und gesagt, dass sie wissen würden, dass er - sein Cousin - bei ihm gewesen sei. Sie hätten verlangt, dass er ihnen erzähle, wo sich "die anderen" befinden würden. Sie hätten ihn geschlagen. Sie hätten ihm nasse Tücher auf den Kopf gelegt und ihn mit Stromschlägen gequält. Auch hätten sie ihn mit Schlagstöcken geschlagen. Sie hätten Skorpione in seine Hose gesteckt. Er sei gefoltert und gequält worden. Seine Eltern hätten ihn dann freigekauft. Sie hätten das Geld gesammelt, wobei es nie unter 5.000 Euro gewesen seien. Er sei 20mal mitgenommen worden, das letzte Mal im Mai dieses Jahres. Zwischen den jeweiligen Mitnahmen seien etwa ein Monat oder 20 Tage gelegen. Er sei jedes Mal geschlagen und gefoltert worden. Er sei etwa vier Tage, manchmal eine Woche angehalten worden. Gefragt, was die Männer vom BF1 gewollt hätten, gab er an, sie hätten ihm gesagt, er solle Informationen über Widerstandskämpfer weitergeben. Sein Cousin XXXX sei umgebracht worden. Er sei nachdem er von ihm weggegangen sei, verschwunden. Im Dezember 2012 sei er tot aufgefunden worden. Gefragt, ob er - der Cousin - Widerstandskämpfer gewesen sei, antwortete der BF1, nein.

Am selben Tag erfolgte die niederschriftliche Einvernahme der BF2. Zum Fluchtgrund befragt, gab die BF2 an, sie sei wegen ihres Mannes ausgereist, weil er nicht in Ruhe gelassen worden sei. Gefragt, ob sie und ihre Kinder eigene Fluchtgründe hätten, sagte sie, dass sie keine eigenen Fluchtgründe hätten. Ihr Mann sei ungefähr 20mal mitgenommen worden. Er sei jedes Mal freigekauft worden, wobei der Preis nie unter 5.000 Euro gewesen sei. Die Verwandten hätten ihnen dabei geholfen. Er sei von maskierten Russen und Tschetschenen mitgenommen worden. Es habe sich um Behördenvertreter gehandelt. Sein Cousin - der getötet worden sei - sei einige Zeit bei ihnen gewesen und sei Widerstandskämpfer gewesen. Sie und ihre Kinder seien nicht bedroht worden.

3. Mit Bescheiden vom 12.12.2013 wurden die Anträge der Beschwerdeführer - BF1, BF2, BF4, BF5, BF6 - auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Weiters wurde ausgesprochen, dass sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen werden (Spruchpunkt III.).

4. Dagegen wurde Beschwerde erhoben.

5. Laut Mitteilung der IOM, International Organisation for Migration, vom 29.09.2014 reisten der BF1, die BF2, der BF4, der BF5 und die BF6 am 18.09.2014 unter Gewährung von Rückkehrhilfe aus dem Bundesgebiet in die Russische Föderation aus.

6. Mit Beschluss vom 27.10.2014 wurde das Verfahren betreffend die Beschwerden der Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.12.2013 gemäß § 25 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 als gegenstandslos abgelegt.

7. Nach erneutem Antrag auf internationalen Schutz erfolgte am 26.01.2018 (abermals) eine Erstbefragung des BF1. In dieser führte er zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen aus, dass er 2014 nur nach Tschetschenien zurückgekehrt sei, weil die tschetschenischen Behörden seinen Bruder misshandelt und ihm mit dem Tod gedroht hätten, sollte er nicht zurückkehren. Nach seiner Rückkehr sei er von maskierten Männern mehrere Male verhaftet und gefoltert worden, sodass er einige Verletzungen erlitten habe. Diese Männer hätten ihm im Zeitraum von 2015 bis zu seiner Ausreise gedroht, dass sie einen Invaliden aus ihm machen würden. Er habe sich deshalb die letzten Jahre auch an verschiedenen Orten in Russland wie auch außerhalb aufgehalten. Diese Probleme würden mit seinem Cousin zusammenhängen, der 2011 von den Behörden getötet worden sei. Das seien alle Asylgründe, andere Gründe, weshalb er die Heimat verlassen habe, gebe es nicht. Bei einer Rückkehr habe er Angst, gefoltert oder getötet zu werden.

Die BF2 stellte am 26.01.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz und gab am selben Tag bei der (abermaligen) Erstbefragung zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, dass ihr Mann "Probleme in Tschetschenien mit den Behörden" gehabt habe. Ihr Mann sei öfter von Unbekannten zu Hause aufgesucht und für mehrere Tage mitgenommen worden. Er habe sich dann später an anderen Orten versteckt, mehr wisse sie nicht mehr. Sie kenne die Probleme ihres Mannes nicht genau. Da ihr Mann nun aus Tschetschenien fliehen habe müssen, sei sie mit den Kindern auch mitgereist, um hier gemeinsam zu leben. Auch sei sie im 9. Monat schwanger.

Diesen Asylantrag stelle sie auch für ihre Kinder. Dies seien alle Asylgründe, andere Gründe hätten nicht bestanden oder würden nicht bestehen.

Am 09.02.2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz für die nachgeborene Drittbeschwerdeführerin (BF3) gestellt, in der Erstbefragung am selben Tag wurde angegeben, dass das Kind keine eigenen Verfolgungsgründe oder Rückkehrbefürchtungen habe.

8. Mit Schreiben vom 22.05.2018 stellten die Beschwerdeführer einen Antrag auf unterstützte freiwillige Rückkehrhilfe.

9. Am 13.06.2018 wurde der BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (abermals) einvernommen. Im Zuge dessen führte er im Wesentlichsten zum Fluchtvorbringen aus, dass seine Mutter um eine Amnestie für ihn angesucht habe. Die Regierung habe sie angelogen, sie habe ihr gesagt, dass sie Amnestie erhalten würden, aber hätte ihn einfach "schnappen" wollen. Das sei ihnen aber nicht gelungen. Sein Cousin sei Widerstandskämpfer und habe eine Woche bei ihm verbracht. Er habe sich bei ihm versteckt, seitdem sei sein Leben ein Horror. Die Regierung bzw. der Geheimdienst meine, er müsse alle verraten. Sie würden glauben, er wisse mehr. Er könne sich kaum an etwas erinnern. Im Dezember 2014 sei ein Terroranschlag gewesen, die Regierung habe dann entschieden, dass alle vorherigen Unterlagen von Leuten, die den Kämpfern geholfen hätten, wiederaufgenommen werden würden. Er sei dort als Helfer verzeichnet worden. Er sei 12 bis 20mal verhaftet worden, alle zwei Monate ungefähr. Im Jänner 2018 habe er dann entschieden, dass er erneut ausreisen werde. Weites sei er 1994 bis 2000 politisch aktiv gewesen und habe demonstriert.

Am selben Tag wurde auch die BF2 einvernommen. Dabei gab sie im Wesentlichen zusammengefasst und sinngemäß an, dass sie wegen ihres Mannes hier sei. Sie habe keine Probleme in Tschetschenien.

10. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 29.06.2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Den Beschwerdeführern wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde zum BF1 im Wesentlichen und sinngemäß ausgeführt, dass seine Identität feststehe. Er sei russischer Staatsbürger und gehöre der tschetschenischen Volksgruppe und der muslemischen Religion an. Er sei verheiratet und habe vier Kinder. Der BF1 sei ein gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er leide weder an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit, noch leide er an einer schweren psychischen Störung, welche bei einer Rückkehr in die Russische Föderation eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe. Eine konkrete, gegen seine Person gerichtete Verfolgung habe von ihm nicht glaubhaft gemacht werden können.

Dem Bescheid der BF2 ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass ihre Identität feststehe. Sie sei russische Staatsbürgerin und gehöre der tschetschenischen Volksgruppe sowie der muslemischen Religion an. Sie sei verheiratet und habe vier Kinder. Sie sei eine gesunde und arbeitsfähige Frau. Sie leide weder an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit, noch leide sie an einer schweren psychischen Störung, welche bei einer Rückkehrentscheidung in die Russische Föderation eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde. Sie habe keine eigenen Fluchtgründe angeführt. Die Angaben ihres Mannes zu den Fluchtgründen seien widersprüchlich und nicht glaubhaft gewesen.

Dem Bescheid der BF3 ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass ihre Identität feststehe. Sie sei russische Staatsbürgerin, gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an und sei muslimischen Glaubens. Sie sei gesund, nehme keine Medikamente und befinde sich in keiner Therapie. Festgestellt werden habe können, dass für sie keine eigenen Fluchtgründe angeführt worden seien. Festgestellt werden habe auch können, dass für sie die gleichen Fluchtgründe gelten würden, wie für ihre Eltern. Die Angaben ihrer gesetzlichen Vertretung zu den Fluchtgründen seien widersprüchlich und nicht glaubhaft gewesen.

Den Bescheiden des BF4, des BF5 und der BF6 sei im Wesentlichen zu entnehmen, dass mangels Vorlage eines unbedenklichen Reise- oder Identitätsdokuments ihre Identitäten nicht festgestellt werden habe können. Sie seien russische Staatsangehörige, würden der tschetschenischen Volksgruppe und dem muslimischen Glauben angehören. Sie seien gesund, würden keine Medikamente nehmen und sich in keiner Therapie befinden. Festgestellt werden habe können, dass für sie keine eigenen Fluchtgründe gelten würden. Festgestellt werden habe können, dass für sie die gleichen Fluchtgründen gelten würden, wie für ihre Eltern. Die Angaben ihrer gesetzlichen Vertretung zu den Fluchtgründen seien widersprüchlich und nicht glaubhaft gewesen.

11. Gegen diese Bescheide wurde von den Beschwerdeführern fristgerecht Beschwerde erhoben. Dabei wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF1 im Jahr 2014 freiwillig in die Russische Föderation zurückgekehrt sei, da man seiner Mutter gesagt habe, er werde amnestiert und habe keine Verfolgung mehr zu befürchten. Von September 2014 bis Juni 2015 sei es für die Familie sehr gut gelaufen und es habe der BF1 keine Probleme mit der tschetschenischen Regierung gehabt. Im Juni 2015 sei der Familie plötzlich die Wohnung weggenommen und das Geschäft des BF1 zerstört worden. Zuerst habe die ganze Familie zum Bruder der BF2 ziehen müssen und kurze Zeit später habe der BF1 seine Familie verlassen und habe sich nicht mehr in Tschetschenien aufgehalten, sondern sei in der gesamten Russischen Föderation dauernd auf der Flucht gewesen. Der BF1 habe sich sein Leben durch nicht registrierte Arbeit finanziert und habe seine Familie nur selten besuchen können. Der BF1 sei in dieser Zeit ständig von Verfolgung durch die tschetschenische Regierung bedroht worden und habe sich deswegen schlussendlich mit seiner Familie abermals auf die Flucht nach Österreich begeben. Hätte die belangte Behörde die in der Beschwerde angeführten Berichte in das Ermittlungsverfahren einfließen lassen und hätte die Behörde die eigenen Länderfeststellungen korrekt ausgewertet und genauer zum gegenständlichen Sachverhalt recherchiert, so hätte sie zu der Feststellung kommen müssen, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer in den Länderberichten Deckung finde und ihnen im Heimatland Verfolgung drohe. Ebenfalls hätte die Behörde die Feststellung treffen müssen, dass eine Rückkehr der Beschwerdeführer in die Russische Föderation jedenfalls das reale Risiko einer Verletzung von Art 2 und 3 EMRK implizieren würde. Zur abschließenden Klärung des psychischen Zustandes des BF1 wurde beantragt, das BVwG möge ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einholen. Es wurde daher auch der Antrag auf neuerliche Einvernahme der Beschwerdeführer, insbesondere des BF1 und Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt. Bezüglich der Anmeldung zur freiwilligen Rückkehr der Beschwerdeführer vom 22.05.2018 müsse angemerkt werden, dass dies eine impulsive Reaktion des BF1 gewesen sei, um seine Familie vor den Problemen in der Unterkunft zu schützen. Der BF1 habe hierbei an das Wohl seiner Kinder gedacht, da diese für ihn das Wichtigste seien und er habe sich in diesem Moment nicht primär um seine asylrelevanten Probleme im Herkunftsstaat gekümmert. Bereits in der Einvernahme vor der belangten Behörde habe der BF1 seine freiwillige Rückkehr revidiert. Hätte die belangte Behörde umfassend ermittelt und das Vorbringen ausreichend gewürdigt, hätte sie in der rechtlichen Beurteilung zur Feststellung gelangen müssen, dass Asyl zu gewähren sei bzw. zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen.

12. Mit Schreiben vom 30.07.2018 legte die belangte Behörde die Beschwerde sowie die bezughabenden Akten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo das Konvolut am 01.08.2018 einlangte.

13. Am 11.09.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchgeführt, in der die Beschwerdesache ausführlich erörtert wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des BF1, der BF2, der BF3 steht fest. Die Identität der BF4 - BF6 steht nicht fest.

Der BF1 und die BF2 sind verheiratet und die Eltern der BF3 - BF6.

Die Beschwerdeführer sind Staatsbürger der Russischen Föderation.

Die Beschwerdeführer sind Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen und des muslimischen Glaubens.

Die Beschwerdeführer leben in Österreich im gemeinsamen Haushalt.

Im Herkunftsstaat leben die Eltern des BF1, zwei Schwestern sowie sein Bruder. Weiters lebt in der Russischen Föderation die Mutter der BF2, ihre drei Schwestern sowie ihre zwei Brüder.

In Österreich lebt eine Schwester des BF1, die asylberechtigt ist. Ein Abhängigkeitsverhältnis zur Schwester in Österreich besteht nicht.

Der BF1 und die BF2 waren beide bereits in der Russischen Föderation erwerbstätig und sind arbeitsfähig. Der BF1 hat im Herkunftsstaat gearbeitet und die Familie versorgt.

Die Beschwerdeführer sind keine Mitglieder in einem Verein und haben auch keine nennenswerten Freundschaften in Österreich.

Der BF5 und die BF6 besuchen die Schule. Der BF4 besucht den Kindergarten.

Deutschzertifikate wurden von den BF1 und BF2 nicht erworben; beide weisen nur marginale Deutschkenntnisse auf.

Weder waren die Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer Verfolgung ausgesetzt, noch droht eine solche aktuell. Die Beschwerdeführer sind im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

Die Beschwerdeführer geraten im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation nicht in eine existenzgefährdende Notlage. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht ihnen weder eine unmenschliche Behandlung, Todesstrafe oder unverhältnismäßige Strafe noch eine sonstige individuelle Gefahr. Die Beschwerdeführer leiden an keiner akut lebensbedrohlichen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, die einer Rückführung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würde.

Der BF1 und die BF2 sind unbescholten. Die BF3 - BF6 sind unmündige Minderjährige.

Die Beschwerdeführer beziehen seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung des Bundes und sind nicht selbsterhaltungsfähig.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der russischen Teilrepublik Tschetschenien:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

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Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

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Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf,

S. 9, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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