TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/11 W261 2188200-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.03.2019
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Entscheidungsdatum

11.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W261 2188200-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin Gastinger, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt vom 30.01.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 02.07.2018, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Gang des Verfahrens:

Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste nach eigenen Angaben am 29.09.2015 irregulär in Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 30.09.2015 erfolgte die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Anwesenheit eines Dolmetschers in der Sprache Dari und eines Rechtsberaters. Dabei gab der BF an, am XXXX geboren, afghanischer Staatsangehöriger und schiitischer Moslem zu sein, und der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Der BF stamme aus der Provinz Daikundi. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er an, dass sich sein Vater vor einigen Jahren von seiner Mutter getrennt und eine andere Frau geheiratet habe. Seine Mutter habe Probleme mit den Familienangehörigen der neuen Frau seines Vaters bekommen. Daher habe seine Mutter beschlossen, mit der Familie in den Iran auszureisen. Im Iran sei die finanzielle Situation der Familie schlecht gewesen, und da sie dort illegal gelebt hätten, hätte ihnen die Abschiebung nach Afghanistan gedroht. Aus diesem Grund hätten seine Familie und er beschlossen, dass der BF nach Europa reise.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, EAST Ost, veranlasste aufgrund von Zweifeln an den Altersangaben des BF in weiter Folge eine Altersfeststellung durch die Bestimmung des Knochenalters. In dem aufgrund einer persönlichen Untersuchung des BF erstellten medizinischen Befund vom 18.12.2015 kommt der medizinische Sachverständige kurz zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass beim BF ein Handwurzelröntgen der linken Hand das Ergebnis Schmeling 3. GP 29 ergeben habe. Somit würden die Altersangaben des BF stimmen.

Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom 21.06.2016 übertrug dieses die Obsorge, Pflege und Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung hinsichtlich des damals mj. BF dem Land Kärnten, vertreten durch das Jugendamt der Bezirkshauptmannschaft XXXX , als Jugendwohlfahrtsträger.

Die Bezirkshauptmannschaft XXXX , Referat für Jugend und Familie, ermächtigte die XXXX , XXXX , mit Schreiben vom 10.10.2016 mit der Pflege und Erziehung des damals mj. BF.

Am 22.01.2018 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt (in der Folge kurz belangte Behörde oder BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi. Dabei gab der BF an, dass sein Vater vor ca. 11 Jahren mit einem Mann wegen eines Grundstückes gestritten habe. Ein Jahr darauf habe sein Vater die Frau dieses Mannes gestohlen und sei mit ihr in den Iran geflüchtet. Daraufhin habe dieser Mann die Mutter und den BF bedroht und geschlagen. Das habe ca. fünf Jahre lang gedauert. Im Jahr 2013 habe seine Mutter das Haus und die Grundstücke an einen Mann verkauft und sei mit der Familie in den Iran gereist. Der Vater, der zu der Zeit bereits im Iran lebte, habe es abgelehnt, die Familie aufzunehmen. Er lebe mit der neuen Frau zusammen und habe auch weitere Kinder. Die Familie habe sich sodann in XXXX niedergelassen, und die Mutter des BF habe als Hausmeisterin und Putzfrau gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Der BF habe sie dabei unterstützt. Sein Vater sei drogenabhängig und habe von der Familie immer wieder Geld haben wollen. Einmal hätte der BF für seinen Vater Opium besorgen müssen. Die Familie habe Angst vor dem Vater gehabt, und auch von der iranischen Polizei hätte immer wieder die Gefahr bestanden, dass die Familie nach Afghanistan abgeschoben werde. Daher hätten der BF und seine Mutter entschieden, dass der BF den Iran verlassen solle, um nach Europa zu flüchten. Der BF besuche in Österreich die Schule, lerne Deutsch, sei beim Roten Kreuz engagiert, sei Mitglied der Wasserrettung, er mache Musik, habe an einem Gitarrenworkshop teilgenommen, spiele Theater und habe viele österreichische Freunde. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen und medizinische Befunde vor.

Die belangte Behörde wies in weiterer Folge den Antrag des BF auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan in Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. ab. Weiters erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg. cit. (Spruchpunkt III.), erließ ihm gegenüber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg. cit. iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 leg. cit. fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg. cit. zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach die belangte Behörde aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg. cit. die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht bedroht oder verfolgt werde. Sein Fluchtvorbringen sei unglaubhaft, er werde Afghanistan weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Gesinnung asylrelevant verfolgt. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass dem BF in seinem Heimatstaat die Lebensgrundlage gänzlich entzogen werde, oder er bei seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage geraten werde. Seine Herkunftsprovinz Daikundi sei relativ sicher und von Kabul aus über drei verschiedene Wege zu erreichen. Die Rückkehr nach Afghanistan sei ihm zumutbar und möglich. Es bestehe in Österreich kein nennenswertes Familien- und Privatleben, weswegen auch kein humanitäres Bleiberecht einzuräumen gewesen sei. Es seien keine Gründe hervorgekommen, wonach die Abschiebung des BF nach Afghanistan nicht zulässig sei.

Mit Schreiben vom 30.01.2018 übermittelte die belangte Behörde dem BF Information über die Verpflichtung zur Ausreise. Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag stellte die belangte Behörde dem BF die juristische Person ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe amtswegig zur Seite. Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wies die belangte Behörde den BF darauf hin, dass er verpflichtet sei, eine Rückkehrberatung in Anspruch zu nehmen.

Mit Eingabe vom 26.02.2018 erhob der BF, bevollmächtigt vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, ARGE Rechtsberatung, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG). Darin brachte er vor, dass hinsichtlich der Spruchteile I und II eine Verletzung der Verfahrensvorschriften vorliege. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft geblieben und die der Entscheidung zugrunde gelegten Länderfeststellungen seien unzureichend. Es würden Feststellungen zur Schutzfähigkeit- und Schutzwilligkeit des afghanischen Staates, zur Lage der Hazara und zu in Blutfehden verwickelte Personen fehlen. Der BF würde damit mehreren Risikoprofilen der UNHCR Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender entsprechen. Die Sicherheitslage sei sowohl in der Heimatprovinz Daikundi als auch in der Stadt Kabul unsicher und instabil. Die Versorgungslage sei in der Stadt Kabul prekär, die Unterstützung für freiwillige Rückkehrer sei minimal und ineffizient. Es habe einen massiven Anstieg von Rückkehrerinnen und Rückkehrern nach Kabul gegeben, wo ohnehin schon begrenzte Existenzmöglichkeiten bestehen würden. Rückkehrer würden von der afghanischen Gesellschaft als Eindringlinge angesehen werden, würden als "verwöhnt" und "nicht afghanisch" betrachtet. Die Annahme, dass zumindest alleinstehende, junge, gesunde Männer ihr Überleben aus eigener Kraft sichern könnten, sei durch die derzeitige humanitäre Lage inzwischen grundlegend in Frage gestellt. Selbst wenn jemand Familie in Afghanistan hätte, könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese Unterstützung leiste. Ein eigenes Risikoprofil seien "verwestlichte Rückkehrerinnen und Rückkehrer", wozu auch der BF zu zählen sei. Die belangte Behörde habe das jugendliche Alter des BF außer Acht gelassen. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft geblieben. Der BF habe - entgegen der Annahme der belangten Behörde - keine innerstaatliche Fluchtalternative. Der BF gehöre zur sozialen Gruppe der Familie, die in eine Blutfehde verwickelt sei, da der Vater des BF die Frau eines Mannes, mit dem er einen Grundstücksstreit gehabt habe, entführt habe. Dem BF wäre daher internationaler Schutz zu gewähren gewesen. Dem BF würde im Falle einer Rückkehr jedenfalls eine Verletzung des Art. 3 EMRK mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen, weswegen ihm subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Auch die Spruchpunkte III und IV seien nicht hinreichend begründet, vor allem, weil der BF in Österreich ausgezeichnet integriert sei. Es werde daher jedenfalls die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Stattgabe der Beschwerde beantragt.

Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang mit Schreiben vom 28.02.2018 dem BVwG vor, wo dieser am 06.03.2018 einlangte.

Der BF legte in weiterer Folge ergänzende Integrationsunterlagen vor, unter anderem eine Beschäftigungsbewilligung für die Absolvierung einer Doppellehre bei der " XXXX " Gastronomie GmbH, in XXXX , mit einer Bewilligungsdauer von 07.05.2018 bis 06.08.2022.

Das BVwG führte am 02.07.2018 eine Auskunft im Strafregister durch, wonach der BF zum damaligen Zeitpunkt strafrechtlich unbescholten war.

Am 02.07.2018 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, zu der der BF persönlich gemeinsam mit seiner Rechtsvertreterin erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Der BF führte zu seinen persönlichen Verhältnissen aus. Befragt zu seinen Fluchtgründen sagte der BF im Wesentlichen das aus, was er bei der Ersteinvernahme bereits ausgeführt hatte. Er mache seit 08.05.2018 eine Lehre im Gastgewerbe. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das erkennende Gericht legte das aktuelle Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 30.01.2017, einen Auszug aus den UNHCR Richtlinien vom April 2016 zur Internen Schutzalternative, eine Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH), Afghanistan:

Blutrache und Blutfehde und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Christen, Konvertiten und Abtrünnige in Afghanistan vom 12.07.2017 vor. Das BVwG räumte sowohl dem BF als auch der belangten Behörde die Möglichkeit ein, innerhalb von drei Wochen zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens eine Stellungnahme abzugeben.

Der BF gab am 23.07.2018 durch seine bevollmächtigte Vertretung eine sehr ausführliche und umfangreiche Stellungnahme ab, wonach die vorgelegten Länderinformationen auch unter Berücksichtigung der vom BF in seiner Stellungnahme zitierten Gutachten, wie beispielsweise jenes von Friederike Stahlmann, belegen würden, dass es kurz zusammengefasst dem BF nicht zuzumuten sei, nach Afghanistan zurückzukehren. Ihm würden bei einer Abschiebung schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Angesichts der ernsten Sicherheits- und Menschenrechtslage im ganze Land erachte Amnesty International zum aktuellen Zeitpunkt jede Abschiebung nach Afghanistan als Verstoß gegen den internationalen Rechtsgrundsatz des Non-Refoulement.

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

Mit Eingabe vom 03.09.2018 legte der BF durch seine bevollmächtigte Vertretung weitere Dokumente, wie seinen Lehrlingsvertrag vor. Sein Verbleib in Österreich sei von wirtschaftlichem Vorteil für das Land, zumal sich der BF sehr darum bemühe, sich in Österreich zu integrieren. Er sei selbsterhaltungsfähig.

Die belangte Behörde übermittelte dem BVwG am 22.11.2018 einen Bericht der Landespolizeidirektion Kärnten, wonach der BF am 17.11.2018 in einen Raufhandel verwickelt gewesen sei.

Das BVwG übermittelte den Parteien des Verfahrens mit Schreiben vom 27.11.2018 die aktuellen Länderinformationen, genauer das Länderinformationsblatt Stand 26.10.2018, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, Auszüge aus den EASO Leitlinien zu Afghanistan und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Dürre in Herat und Mazar-e Sharif vom 13.09.2018.

Die belangte Behörde gab am 30.11.2018 eine schriftliche Stellungnahme ab, wonach nach Ansicht der belangten Behörde, je nach Abhängigkeit der individuellen Umstände, eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zur Verfügung stehe. Die in Afghanistan vorherrschenden Konflikte würden nicht ein derartiges Ausmaß erreichen, dass eine Person alleine aufgrund ihrer Anwesenheit in Afghanistan einen ernsthaften Schaden iSd § 8 AsylG bzw. Art. 15 Staus RL erleiden würde.

Der BF gab durch seine bevollmächtigte Vertretung am 13.12.2018 eine ausführliche Stellungnahme ab, wonach die Herkunftsprovinz des BF, Daikundi, zwar relativ sicher sei, jedoch als Insel im Feindesland anzusehen sei. Daher sei dem BF eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz nicht möglich. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem BF nicht zur Verfügung. Der BF sei in Österreich sehr gut integriert und unbescholten. Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF würde sich als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

Die belangte Behörde übermittelte dem BVwG mit Schreiben vom 17.12.2018 den Abschlussbericht der Landespolizeidirektion Kärnten im Zusammenhang mit dem Verdacht des Raufhandels am 17.11.2018.

Die belangte Behörde übermittelte dem BVwG mit Emailnachricht vom 07.01.2019 einen Bericht der Landespolizeidirektion Kärnten vom 05.01.2019, wonach es am 04.01.2019 neuerlich zu einem Vorfall gekommen sei, worin der BF verwickelt gewesen sei.

Die belangte Behörde übermittelte dem BVwG am 01.03.2019 eine Verständigung, wonach die Staatsanwaltschaft Klagenfurt u.a. gegen den BF am 25.02.2019 eine Anklage wegen §§ 91 Abs. 2 1. Fall und 125 StGB erhoben habe.

Das BVwG führte am 05.03.2019 eine Abfrage im Strafregister durch, wonach der BF strafrechtlich unbescholten ist. Eine am selben Tag durchgeführte Anfrage im AJ-WEB ergab, dass der BF seit 01.03.2018 als Lehrling bei unterschiedlichen Betrieben beschäftigt ist. Eine Einsicht in den vom BVwG am selben Tag eingeholten Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem ergab, dass der BF seit 18.01.2016 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezog.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des BF:

Der BF trägt den Namen XXXX und ist im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Daikundi geboren. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Das Geburtsdatum des BF wird mit XXXX festgelegt.

Die Muttersprache des BF ist Dari. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Der BF ist Zivilist.

Die Kernfamilie des BF besteht aus seiner Mutter, XXXX , zwei jüngeren Brüdern, XXXX und XXXX , und einer älteren Schwester, XXXX , die bereits verheiratet ist. Die Familie des BF ist illegal im Iran aufhältig und lebt in XXXX , in der Provinz Teheran. Der BF hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Mutter.

Der Vater des BF, XXXX , verließ die Familie im Jahr 2008 und ist mittlerweile mit einer anderen Frau verheiratet und lebt ebenfalls im Iran.

Der BF lebte bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2013 gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in einem Haus in seinem Heimatdorf. Die Familie verkaufte dieses Haus samt Grundstücken im Jahr 2013 und zog mit dem BF und seinen Geschwistern in den Iran.

Die Mutter des BF arbeitet im Iran als Hauswartin und Putzfrau und ernährt mit ihrem Einkommen die Familie. Der BF war seit seiner Kindheit in der Landwirtschaft tätig und hat im Iran seine Mutter bei der Arbeit unterstützt und damit einen Beitrag zum Familieneinkommen geleistet.

Die finanzielle Lage der Familie des BF ist schlecht.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF keine Verwandten in Afghanistan hat.

Der BF hat in Afghanistan drei Jahre lang die Schule besucht.

Der BF war in Afghanistan kein Mitglied einer politischen Partei.

Der BF reiste im Jahr 2015 schlepperunterstützt aus dem Iran aus. Er reiste in weiterer Folge am 29.09.2015 illegal in Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Der BF war zum Zeitpunkt seiner Antragstellung minderjährig.

1.2 Zu den Fluchtgründen des BF:

Das Fluchtvorbringen, wonach der BF aufgrund von einer ihn als Sohn seines Vaters drohenden Blutrache in Afghanistan verfolgt werde, ist nicht glaubhaft.

Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich seit etwas mehr als drei Jahren in Europa aufhält bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner "westlichen Wertehaltung" psychische und/oder physische Gewalt drohen würde.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem BF in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3 Zum (Privat)Leben des BF in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im September 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Der BF hat keine Familienangehörigen in Österreich. Er bezog seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF besuchte in Österreich Deutschkurse, zuletzt laut ÖSD Zertifikat vom 28.09.2017, Niveau B1, und spricht sehr gut Deutsch.

Der BF besuchte im Schuljahr 2016/17 den Lehrgang Übergangsstufe an BMHS für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch an der Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule XXXX . Daraufhin besuchte er ein Semester die HTL in XXXX .

Der BF war in der Zeit vom 01.03.2018 bis 05.04.2018 als Lehrling bei der Firma ROCKET ROOMS GmbH, in der Zeit vom 08.05.2018 bis 08.07.2018 als Lehrling bei der " XXXX " Gastronomie GmbH in XXXX beschäftigt. Seit 01.08.2018 ist er in ungekündigter Stellung als Lehrling bei der XXXX in St. XXXX angestellt. Der BF ist teilweise selbsterhaltungsfähig.

Der BF absolvierte Erste-Hilfe Grundkurse beim Österreichischen Roten Kreuz, er ist seit November 2016 freiwilliger Mitarbeiter der Jugendgruppe des Österreichischen Roten Kreuzes, Landesverband Kärnten, Bezirksstelle XXXX .

Der BF absolvierte im Jahr 2017 einen Schwimmkurs beim ASKÖ und hat seit August 2017 den Österreichischen Rettungsschwimmerschein "Helfer".

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt erhob am 25.02.2019 gegen den BF und zwei weitere Personen Anklage wegen § 91 Abs. 2 1. Fall StGB (Raufhandel) und § 125 StGB (Sachbeschädigung). Das Strafverfahren ist zum Entscheidungszeitpunkt offen.

1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Dem BF ist eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Daikundi, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, grundsätzlich möglich. Die Provinz Daikundi ist relativ schwierig über den Straßenweg zu erreichen, weil die Provinz sehr abgelegen ist, und es kaum asphaltierte Straßen gibt.

Dem BF steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF droht bei seiner Rückkehr in diese Stadt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der BF ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise.

Der BF ist gesund. Der BF läuft im Falle der Rückkehr in eine nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 26.10.2018, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, in den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018, in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 12.07.2017 zu AFGHANISTAN, Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan und in der Schnellrecherche der SFH Länderanalyse vom 07.06.2017 zu

Afghanistan: Blutrache und Blutfehde enthaltenen folgenden

Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.5.1.1 Herkunftsprovinz Daikundi

Die Provinz Daikundi, die Herkunftsprovinz des BF, ist seit dem Jahr 2014 autonom; davor war sie ein Distrikt der Provinz Uruzgan. Daikundi liegt 460 km vom Westen Kabuls entfernt und grenzt an die Provinzen Uruzgan im Südwesten, Bamyan im Osten, Ghor im Norden, Ghazni im Süden und Helmand im Nordosten. Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: der Provinzhauptstadt Nieli/Nili, Ashtarly, Khijran/Kajran, Khedir/Khadir, Kitti/Kiti, Miramor, Sang Takh/Sang-e Takht, Shahristan/Shahrestan. Der Distrikt Gizab, früher Teil von Daikundi, unterliegt der Administration von Uruzgan. Mit 86% der Bevölkerung bestehend aus Hazara gilt die Provinz Daikundi als die zweitgrößte Region, in der Mitglieder dieser ethnischen Gruppe leben. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 475.848 geschätzt.

Einer Quelle zufolge ist Daikundi eine sichere Provinz. Im September 2017 wurde von einer Zunahme afghanischer Binnenvertriebener (IDP) berichtet, die in Daikundi Zuflucht gesucht hatten.

Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 3 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 43 zivile Opfer (16 getötete Zivilisten und 27 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Blindgänger/Landminen, gefolgt von Bodenoffensiven und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 59% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Eine weitere Quelle berichtete allerdings von keinen Opfern im Jahr 2017 in der Provinz Daikundi. Im März 2017 wurden in Daikundi 31 Aufständische durch die ANSF getötet. In den letzten 17 Jahren sind in Daikundi keine ausländischen Streitkräfte ums Leben gekommen. Ende Dezember 2017 wurde Daikundi einer Quelle zufolge als ruhige Provinz beschrieben.

Daikundi zählt zu den Provinzen, in denen die Anzahl der Taliban gering ist. Der Zusammenhalt zwischen den Bewohnern ethnisch homogenerer Gesellschaften wie in Panjsher, Bamyan und Daikundi wird als Grund für die geringe Anzahl an Anschlägen betrachtet: Da die Bewohner dieser Provinzen mehrheitlich einer Ethnie zugehören, würden diese keine aufständischen Aktivitäten erlauben. Des Weiteren wurde für den Zeitraum 01.01.2017 - 31.01.2018 keine IS-bezogenen Sicherheitsvorfälle in der Provinz Daikundi gemeldet.

Bei der Provinz Daikundi handelt es sich nach den EASO Leitlinien vom Juni um einen jener Landesteile Afghanistans, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.

1.5.1.2 Provinz Balkh

Bei der Provinz Balkh, mit deren Hauptstadt Mazar-e Sharif, handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben.

1.5.2 Sichere Einreise

Die Provinz Daikundi ist nicht sicher zu erreichen.

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.

1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant.

1.5.3.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen ferner günstige Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keinerlei Lebensmittelknappheit. In Mazar-eSharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu besseren Sanitäreinrichtungen. Schulische Einrichtungen sind in Mazar-e Sharif vorhanden.

1.5.4 Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa auch in Mazar-eSharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar. In Mazar-eSharif zählt dazu das Alemi Krankenhaus. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar.

1.5.5 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Die schiitische Minderheit der Hazara, zu welchen der BF zählt, macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt. Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

1.5.6 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 10-15 % Schiiten, wie es auch der BF ist.

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS.

1.5.7 Rückkehrer

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

Rückkehrer/innen aus Europa werden ganz normal behandelt. Manche von ihnen werden sogar bewundert, sowohl von der Regierung als auch von der Gesellschaft - außer es gibt einen Grund für eine schlechtere Behandlung.

1.5.8 Blutrache und Blutfehde

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali). Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein.

Das dabei geltende Prinzip des badal entspreche dem qesas/quisas-Prinzip der Scharia. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liege nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache sei eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache würden durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, könne dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden könne. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers habe eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Laut Angaben eines Vertreters der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gegenüber der SFH vom 1. Juni 2017 ist die Ausübung von Vergeltung auch ein Signal an andere, dass die betroffene Familie stark ist und sich verteidigen kann. Dies gelte unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Blutrache wird überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert. Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Eine Blutrache zielt hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen kann aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen.

Staatliche Prozesse und traditionelle Bräuche wie Blutrache laufen unabhängig voneinander ab; ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Eine Blutrache könne durch die Tötung einer Person beendet werden, wobei eine solche Tötung andererseits auch einen neuen Racheakt der Gegenseite auslösen könne. Üblicherweise ende eine Blutrache, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmten, bei dem Blutgeld gezahlt würde. Eine lokale Gemeinschaft betrachte eine Tötung aus Rache, die durch die Tradition legitimiert ist, nicht als ein Verbrechen.

Staatliche Institutionen bieten kaum Schutz vor Blutrache. Der Zugang zu staatlichem Schutz hängt von finanziellen Mitteln und vom Einfluss der betroffenen Familie ab. Schwache rechtsstaatliche Strukturen und eine sehr weit verbreitete Korruption bedingen vielfach eine Kultur der Straflosigkeit. Staatliche Behörden und Institutionen einschließlich Polizei und Justiz sind auf allen Ebenen von Korruption betroffen. Wenn die Familie für genügend bedeutend erachtet würde oder ausreichende Bestechungsgelder zahlen könne, könnten die Behörden sich unter Umständen für den Fall interessieren. Generell könne die Polizei von einer Blutrache betroffene Personen jedoch nicht wirksam schützen.

1.5.9 Abtrünnige

Abtrünnige bekennen sich üblicherweise in Afghanistan nicht öffentlich. Sollten sie ihre Meinung öffentlich kundtun und sich auf Diskussionen einlassen, um ihren abtrünnigen Glauben vergleichend mit dem Islam zu verteidigen, werden sie von der Gesellschaft schlecht behandelt. Staatliche Behörden werden nur dann eingreifen, wenn sich Abtrünnige öffentlich äußern und soziale Probleme hervorrufen.

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen. Es gibt in Afghanistan viele Menschen, die während des Ramadans nicht fasten und freitags nicht beten. In ländlichen Gebieten wird diesen Personen von der Gesellschaft nahegelegt, (zumindest) das Freitags- und Ramadan-Gebet einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt das Nichtbeten als kleine Vergehen. Das Nicht-Fasten ist in ländlichen Gebieten eine heiklere Angelegenheit. Vorfälle schlechter Behandlung wegen Nicht-Fastens durch die Gesellschaft kommen vor. Es gibt keine Berichte zur offiziellen Strafverfolgung wegen des Nicht-Fastens zu Ramadan. In städtischen Gebieten ist die Gesellschaft flexibler und weniger streng.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des BF:

Die Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdort des BF ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem BVwG. Der BF kennt sein genaues Geburtsdatum nicht, er weiß jedoch, dass er zum Zeitpunkt der Einreise ca. 15 Jahre alt war, was auch durch das vom BFA veranlasste Handwurzelröntgen laut medizinischem Befund vom 18.12.2015 bestätigt wird. Daher wird als Geburtsdatum der XXXX angenommen. Dieses Datum dient primär der Identifizierung im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des BF gründen sich auf seinen diesbezüglichen Angaben im gegenständlichen Verfahren; das BVwG sieht keine Veranlassung, an diesen Aussagen des BF zu zweifeln. Die Feststellung zur Muttersprache des BF ergibt sich aus seinem Vorbringen anlässlich der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG. Die Feststellung, dass der BF ledig und kinderlos ist, ergibt sich aus seinen durchgängig gleichlautenden Angaben im Verfahren.

Die Angaben des BF zu seinen Aufenthaltsorten und zu seinem schulischen Werdegang ergeben sich aus seinen in etwa gleichlautenden Angaben im gesamten Verfahren. Die Angaben zu seinen Familienangehörigen gründen sich auf seine Angaben bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 02.07.2018.

Der BF gibt zwar an, dass er keine Verwandten in Afghanistan habe, weil seine Eltern auch keine lebenden Geschwister mehr hätten. In Anbetracht des Umstandes, dass afghanische Familien nach notorischen Amtswissen sehr viele Kinder haben, ist es eher ungewöhnlich, dass beide Elternteile des BF aus kinderarmen Familien kommen sollen. Das erkennende Gericht geht vielmehr davon aus, dass es sich bei dieser Aussage des BF um eine Schutzbehauptung handelt, weswegen die entsprechende Feststellung getroffen wird.

Der BF gab selbst an, in Afghanistan nie politisch tätig gewesen zu sein. Der Zeitpunkt des Verlassens seines Heimatstaates, der Zeitpunkt der Einreise in Österreich und der Zeitpunkt der Antragstellung ergeben sich aus dem Akteninhalt.

2.2 Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF bringt sowohl bei der Ersteinvernahme vor der belangten Behörde, als auch vor dem BVwG vor, dass sein Vater nach Grundstücksstreitigkeiten die Frau des Kontrahenten entführt habe, und mit dieser nun im Iran leben würde. Der Ehemann der entführten Frau hätte die Mutter des BF bedroht und geschlagen, auch der BF sei von diesem bedroht worden. Die Mutter des BF habe mit ihren vier Kindern noch ca. fünf Jahre in deren Haus in Daikundi gelebt, bis es ihr gelungen sei, einen Käufer zu finden, und mit den Kindern in den Iran zu flüchten. Der BF geht davon aus, dass er Opfer von Blutrache werden könne, und es ihm aus diesem Grund nicht möglich sei, nach Afghanistan zurückzukehren.

Diese Angaben sind aus mehrfacher Hinsicht nicht glaubhaft, wie dies schon die belangte Behörde in ihrer Beweiswürdigung richtig ausführte.

Zwar ist es im Lichte der Länderinformationen durchaus möglich, dass ein Grundstücksstreit mit dem Kontrahenten des Vaters des BF bestanden hat, ein Zusammenhang mit Blutrache aufgrund der "Entführung" dessen Frau durch seinen Vater konnte der BF hingegen nicht glaubhaft darlegen. Der BF schilderte nachvollziehbar, dass die Auseinandersetzung des Mannes mit seinem Vater bereits längere Zeit gedauert habe: "Das Problem war, dass jeder behauptet hat, dass ihm das Feld gehört. Das Problem gab es immer. Manchmal hat dieser Mann auch unsere Ernte kaputt gemacht, die Felder verwüstet. Dieser Streit ist einmal eskaliert und mein Vater ist mit der Frau des Mannes geflüchtet." (vgl. S 8 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 22.01.2018). Für einen reinen Grundstückskonflikt ohne Hintergrund einer Blutrache und Ehrverletzung sprechen auch die Angaben des BF in der Einvernahme vor dem BFA, wonach der neue Besitzer des Grundstücks, an den die Mutter verkauft habe, ebenfalls Probleme mit dem Mann habe (vgl. S 10 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 22.01.2018).

Auch bei hypothetischer Annahme der Glaubhaftigkeit des Vorbringens betreffend die Entführung der Frau durch den Vater des BF ist es vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nicht plausibel, dass die Familie des BF - trotz der angeblich regelmäßigen Übergriffe des Kontrahenten seines Vaters - weiterhin fünf Jahre lang in ihrem Heimatdorf gelebt haben soll. Die diesbezügliche Begründung des BF, wonach seine Mutter so lange keinen Käufer für ihr Grundstück gefunden und daher kein Geld für die Flucht gehabt habe, überzeugt dabei nicht. Im Falle akuter Gefahr, ermordet zu werden, wäre eine Flucht, zumindest in einen anderen Landesteil, auch ohne eine größere Geldsumme möglich. Hätte der Mann tatsächlich Blutrache nehmen wollen, hätte er in diesen fünf Jahren bei etlichen Gelegenheiten die Möglichkeit gehabt, den BF und seine Familie zu töten. Es ist außerdem nicht nachvollziehbar, dass der BF und seine Familie erst 2009 und somit ein Jahr nach Beginn der behaupteten Übergriffe Anzeige bei der Polizei erstattet habe (vgl. S 10 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung am 02.07.2018). Weiters konnte der BF keine Begründung dafür liefern, warum der Mann sich nicht an seinem Vater, dem eigentlichen Täter, versucht habe zu rächen, sondern an der Mutter des BF und dem BF selbst.

Es finden sich im Vorbringen des BF auch einige weitere Ungereimtheiten, weshalb dieses auch nicht schlüssig ist:

Der BF gab zunächst an, der Mann habe erst nach drei bis vier Monaten herausgefunden, dass der Vater des BF derjenige gewesen sei, der seine Frau mitgenommen habe. Abgesehen davon, dass auch dieses Vorbringen äußerst unwahrscheinlich ist, lebten der BF, seine Familie und der Mann doch laut seinen eigenen Angaben (vgl. S 9 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 22.01.2018) in einem kleinen Dorf, wo ein solches Vorgehen nicht monatelang unbemerkt bleiben würde, widersprach der BF seinen eigenen Aussagen bei der Schilderung der "Entführung": "Ich habe von meiner Mutter gehört, dass mein Vater mit ein paar Freunden zu der Familie gegangen ist, sie haben den Mann geschlagen und seine Hände verbunden. Mein Vater war auch bewaffnet und mit Gewalt hat er die Frau des Mannes mitgenommen." (vgl. S 9 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 22.01.2018). Der Mann, den sein Vater geschlagen und gefesselt haben soll, wäre demnach Zeuge der "Entführung" gewesen und hätte somit sofort gewusst, wer seine Frau mitgenommen habe.

Der BF muss sich auch eine mehrfache Steigerung seines Vorbringens vorhalten lassen:

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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