TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/7 L507 2118768-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.01.2019
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Entscheidungsdatum

07.01.2019

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
BFA-VG §52 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1
VwGVG §8a Abs1

Spruch

1.) L507 2118768-1/46E

2.) L507 2118771-1/20E

3.) L507 2118770-1/15E

4.) L507 2118767-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des 1.) XXXX, geb. XXXX, der 2.) XXXX, geb. XXXX, des 3.) XXXX, geb. XXXX, und der 4.) XXXX, geb. XXXX, alle StA. Irak, die beiden minderjährigen Kinder 3.) und 4.) vertreten durch deren Mutter XXXX, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.12.2015, Zlen. XXXX, XXXX, XXXX und XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.04.2017 und 08.05.2018, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Anträge auf Beigabe eines Verfahrenshelfers werden gemäß § 8a VwGVG iVm

§ 52 BFA-VG zurückgewiesen.

C)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer. Die am XXXX.2006 in Bagdad geschlossene Ehe des Erstbeschwerdeführers mit der Zweitbeschwerdeführerin wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX, im Einvernehmen geschieden.

Die Beschwerdeführer sind irakischer Staatsangehörige arabischer Abstammung und sunnitischen Glaubens und stellten am 12.05.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

Hiezu wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin am 12.05.2015 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen vorbrachte, dass er vor ca. eineinhalb Jahren mit seinem Cousin ein Parkhaus bewacht habe. Eines Tages hätten zwei verdächtige Männer ihr Auto dort abgestellt, weshalb der Erstbeschwerdeführer und sein Cousin sich dazu entschlossen hätten, die Polizei zu informieren. Diese habe das Fahrzeug durchsucht und Sprengstoff sowie Waffen gefunden, welche sichergestellt worden seien. Am nächsten Tag seien die Männer zurückgekommen und hätten den Erstbeschwerdeführer und seinen Cousin mit dem Tode bedroht. Einige Tage danach sei der Cousin des Erstbeschwerdeführers bei einem Feuergefecht getötet worden. Aus Angst, dass dem Erstbeschwerdeführer und seiner Familie dies auch zustoßen könne, habe er mit seiner Familie daraufhin den Irak verlassen.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte vor, dass der Erstbeschwerdeführer bedroht worden sei und sie deshalb Angst bekommen hätten. Auch für die Dritt- bis Viertbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

2. Am 18.08.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er mit seinem Vater, einem Onkel und einem Bruder in der familieneigenen Fleischerei gearbeitet habe. Im Jahr 2007 sei es vermehrt zu Tötungen zwischen Schiiten und Sunniten aus ethnischen Gründen gekommen. Aus diesem Grund sei sein Onkel nach Syrien gegangen. In diesem Jahr hätten sie das Geschäft aufgelöst und ausgeräumt, weil überall Leichen auf der Straße herumgelegen seien. Mächtige Händler in der Gegend hätten dann den Vater des Erstbeschwerdeführers überredet, das Geschäft wieder aufzusperren. Sie hätten garantiert, dass ihm niemand etwas antun würde. Daraufhin hätten sie das Geschäft wieder aufgesperrt. Nach ca. einem Monat seien bewaffnete Männer zum Erstbeschwerdeführer in das Geschäft gekommen und hätten den Erstbeschwerdeführer und seinen Vater mitgenommen. Die Leute auf dem Markt hätten das mitbekommen und seien dem Erstbeschwerdeführer und seinem Vater zur Hilfe geeilt. Der Erstbeschwerdeführer habe entkommen können. Der Vater des Erstbeschwerdeführers sei schnell in ein Auto geschoben worden. Der Erstbeschwerdeführer sei durch den Markt gelaufen und sei dann auf den Vorplatz eines Trainingsclubs gelangt. Der Vater des Erstbeschwerdeführers sei mit dem Auto weggebracht worden. Nach ca. fünfzehn oder zwanzig Minuten sei der Erstbeschwerdeführer in das Geschäft zurückgekehrt, um die Waren zu versorgen. Er habe das Geld mitgenommen und anschließend das Geschäft zugesperrt. Danach sei der Erstbeschwerdeführer nach Hause gegangen und habe seiner Mutter von dem Vorfall erzählt. Sie hätten versucht, Kontakt zu einem Bekannten seines Vaters von schiitischer Seite aus aufzunehmen, damit dieser interveniere und die Freilassung des Vaters des Erstbeschwerdeführers bewirke. Es sei ihnen aber nicht gelungen den Kontakt herzustellen. Um elf Uhr nachts seien sie von einem Freund seines Vaters angerufen worden. Dieser habe berichtet, dass sich der Vater des Erstbeschwerdeführers auf der Gerichtsmedizin befinde und mit drei Schüssen getötet worden sei. Sie hätten versucht, den Vater von der Gerichtsmedizin abzuholen, was aufgrund der aktuellen Situation nicht möglich gewesen sei. Ein Geschäftsfreund seines Vaters habe dann die Leiche abgeholt und hätten der Erstbeschwerdeführer und seine Familie diesen dann übernommen. Aufgrund der prekären Situation zwischen Sunniten und Schiiten hätten sie kein richtiges Begräbnis veranstalten können. Sie hätten dann ihr Zuhause verlassen und seien zu ihren Onkeln väterlicherseits in das Gebiet Al Fahama gezogen. Ca. sieben Monate nach dem Tod seines Vaters habe der Erstbeschwerdeführer die Zweitbeschwerdeführerin geheiratet. Al Fahama sei ein sunnitisches Gebiet und von allen Seiten von Schiiten umzingelt. Dort habe es keine Arbeit gegeben, weshalb der Erstbeschwerdeführer gezwungen gewesen sei, woanders hinzugehen. Er sei in das Gebiet AL Haria gegangen und habe dort gearbeitet. Dort hätten auch Verwandte des Vaters des Erstbeschwerdeführers gelebt. Es sei dem Erstbeschwerdeführer aber nicht möglich gewesen, mit den Verwandten zu wohnen oder zusammenzuarbeiten. Er sei gezwungen gewesen, sich bei der irakischen Armee zu bewerben. Es sei dann zu Unruhen und Demonstrationen in dem Gebiet Salah ad-Din/Heuga gekommen. Der Erstbeschwerdeführer sei kein bewaffneter Soldat gewesen, sondern Kraftfahrer. Er sei für die Mahlzeiten der Soldaten in den verschiedenen Gebieten zuständig gewesen. Sein Kommandant habe in der Nacht von 19. auf den 20.04.2013 oder 2014 (AS 53) mitgeteilt, dass sie den Befehl erhalten hätten, gegen die Demonstranten vorzugehen und deren Zelte in Brand zu setzen, weil sich darunter Milizverbände befinden würden. Alle, Bewaffnete und Unbewaffnete, seien nach Heuga gebracht worden. Das Gebiet sei umstellt worden und dauerte dies ca. zwei Tage. Der Erstbeschwerdeführer habe festgestellt, dass die Demonstranten friedfertige Menschen seien und es dort keine Milizmitglieder gebe. Dazu komme, dass der Erstbeschwerdeführer von seiner Überzeugung her gegen Waffen und Gewalt sei. Es sei der Befehl gekommen, dass es in der Nacht einen Angriff auf die Demonstranten gebe und die Zelte in Brand gesteckt werden würden. Daraufhin habe er beschlossen, seinen Dienst zu beenden und nach Hause zu gehen. Er habe seine Waffe und sein Auto verlassen, sein Militärhemd ausgezogen und sei nach Hause gegangen. Er habe seiner Frau erzählt, was passiert sei und habe diese ihn verstanden und in seiner Haltung unterstützt. Die Demonstranten hätten zu Recht demonstriert, zumal sie sowohl von den Schiiten, als auch vom Staat unterdrückt und benachteiligt worden seien. Danach sei der Erstbeschwerdeführer gezwungen gewesen, sich zu verstecken, zumal der Ministerpräsident Al-Maliki als oberster Befehlshaber der irakischen Armee befohlen habe, diejenigen, die ihren Einsatzort verlassen hätten, vor ein Militärgericht zu stellen und zu bestrafen. Der Erstbeschwerdeführer habe dann in einer Garage als Nachtwächter gearbeitet. Die Betreiber seien Verwandte von ihm. Zu diesem Zeitpunkt sei der Erstbeschwerdeführer von zwei Seiten verfolgt gewesen. Einerseits von der Regierung und andererseits von Schiiten. Eines nachts sei ein Auto mit zwei Männern in die Garage gekommen. Sie hätten das Auto dort über Nacht abgestellt. Der Beifahrer habe sich geweigert, vorher auszusteigen, wie es sich gehört hätte. Der Erstbeschwerdeführer habe den beiden schlussendlich erlaubt, gemeinsam hineinzufahren. Sie seien lange nicht herausgekommen, weshalb der Erstbeschwerdeführer nachgeschaut habe. Die Männer hätten gestritten und habe dem Erstbeschwerdeführer die Situation nicht gefallen, zumal im Wagen Waffen gewesen seien. Der Erstbeschwerdeführer sei zu Fuß zu einer Polizeistation, welche siebenhundert Meter entfernt sei, gegangen. Die Männer waren zuvor endlich rausgegangen. Die Polizei sei gekommen und habe der Erstbeschwerdeführer ihnen das Auto gezeigt. Das Auto sei geöffnet worden und habe die Polizei Waffen gefunden. Es habe auch CDs und Sprengstoff in dem Auto gegeben. Dadurch habe der Erstbeschwerdeführer ein neues Problem gehabt. Die Polizei habe das Auto natürlich beschlagnahmt und habe darauf bestanden, dass jemand Anzeige erstattet. Der Erstbeschwerdeführer habe sich geweigert, weshalb sein Cousin die Anzeige gemacht habe. Am nächsten Tage habe der Cousin den Erstbeschwerdeführer angerufen und ihm mitgeteilt, dass Leute um die Garage herumgehen und sich merkwürdig benehmen würden. Der Erstbeschwerdeführer sei gezwungen gewesen, sich einige Tage versteckt zu halten. Ihm sei klar geworden, dass die Besitzer des Wagens zu einer Bande gehören würden und ihn niemals laufen lassen würden. Der Erstbeschwerdeführer sei zu seiner Familie gegangen, um sich Geld zu beschaffen. Dem Erstbeschwerdeführer sei auch klar gewesen, dass er nicht weiter in dem Gebiet hat leben könne, zumal die Garage nicht weit von seiner Wohnung entfernt gewesen sei. Der Erstbeschwerdeführer sei alleine zu seiner Familie gegangen. Seine Kinder und seine Frau seien noch in der Wohnung gewesen. Seine Frau habe den Erstbeschwerdeführer dann informiert, dass Leute gekommen seien, die Wohnung überfallen hätten und nach dem Erstbeschwerdeführer gefragt hätten. Sie hätten seine Frau geschlagen und habe diese einen Bruch des linken Fingers erlitten. Seine Frau sei geschlagen worden, damit diese den Aufenthaltsort des Erstbeschwerdeführers verrate. Sie habe gesagt, dass der Erstbeschwerdeführer krank und im Krankenhaus sei. Es seien einige Schüsse auf das Haus abgegeben worden. Der Erstbeschwerdeführer habe seiner Frau gesagt, sie solle Anzeige erstatten und dann zu ihrer Familie gehen. Sie seien von allen Seiten umzingelt gewesen und sei ihnen nur die Ausreise geblieben. Der Erstbeschwerdeführer habe alles verloren. Sein Bruder habe ihm etwas Geld besorgen können und seien sie ausgereist. Ca. vier Monate später seien die Cousins vom Erstbeschwerdeführer, welche die Garage betrieben hätten, getötet worden. Der Erstbeschwerdeführer wisse nicht von wem, aber sie seien erschossen worden.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte zum Fluchtgrund zusammengefasst vor, dass am 12.5.2014 oder 2013 vermummte Leute ins Haus gekommen seien. Die Zweitbeschwerdeführerin habe Schüsse gehört und dann sei die Eingangstür aufgebrochen worden. Dann sei eine Gruppe vermummter Leute hereingekommen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe Angst gehabt und geschrien. Daraufhin habe einer sie an der Hand festgehalten, an die Wand gestoßen und ihre Hand am Rücken festgehalten. Dadurch habe die Zweitbeschwerdeführerin einen Bruch des kleinen Fingers erlitten. Sie hätten die Zweitbeschwerdeführerin nach dem Erstbeschwerdeführer gefragt und hätten wissen wollen, wo dieser sei. Die Zweitbeschwerdeführerin habe gesagt, dass der Erstbeschwerdeführer im Krankenhaus sei. Als der Mann gemerkt habe, dass die Zweitbeschwerdeführerin starke Schmerzen an der Hand habe, hätte er sie losgelassen und an den Haaren gehalten. Der Mann habe zur Zweitbeschwerdeführerin gesagt, sie würden gehen, aber wieder kommen. Sie hätten die ganze Einrichtung demoliert und dann das Haus verlassen. Der Sohn der Zweitbeschwerdeführerin sei im Kindergarten gewesen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe ihre Tochter genommen und das Haus verlassen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe sich zu ihrer Familie begeben. Ihr Vater habe ihr gesagt, sie solle eine Anzeige erstatten und zur Polizeistation gehen. Das habe die Zweitbeschwerdeführerin getan und sei sie bei ihrer Familie geblieben. Der Erstbeschwerdeführer habe sich zu seiner Familie begeben. Danach hätten sie ihre Reisevorbereitungen vervollständigt und seien dann weggefahren.

Für die minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers unter Zweitbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

2. Die Anträge auf internationalen Schutz der Beschwerdeführer wurden mit Bescheiden des BFA vom 01.12.2015, Zlen. XXXX, XXXX, XXXX und XXXX, gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen. Gemäß

§ 8 Abs. 1 AsylG wurde den Beschwerdeführern der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG befristete Aufenthaltsberechtigungen bis zum 01.12.2016 erteilt.

Beweiswürdigend wurde hinsichtlich der Gründe für das Verlassen des Irak vom BFA im angefochtenen Bescheid festgehalten, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht dazu in der Lage gewesen seien, diese nachvollziehbar und widerspruchsfrei darzulegen. Zudem habe der Erstbeschwerdeführer gefälschte Ausweise zur Untermauerung seiner Fluchtgründe vorgelegt.

Infolge der derzeit im Irak vorherrschenden schlechten allgemeinen Sicherheitslage seien den Beschwerdeführern jedoch der Status von subsidiär Schutzberechtigten und gleichzeitig befristete Aufenthaltsberechtigungen zu erteilen gewesen.

3. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 03.12.2015 wurden den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

4. Die bekämpften Bescheide wurden am 09.12.2015 ordnungsgemäß zugestellt, wogegen am 16.12.2015 fristgerecht Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide erhoben wurden.

Darin wurde moniert, dass die herangezogenen Länderfeststellungen nur allgemeiner Natur seien und sich nicht ausreichend mit dem konkreten Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer auseinandersetzen würden. Selbst von der Staatendokumentation sei angeführt worden, dass derzeit nicht alle Standardbereiche des Länderinformationsblattes abgedeckt werden könnten und sohin keine umfassenden Länderinformationen, sondern lediglich einige aktuelle Informationen vorhanden seien. Die vom BFA genannten Quellen seien daher teilweise nicht mehr aktuell bzw. angesichts der sich rasch verändernden Situation im Irak nicht mehr zutreffend und geeignet, das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer zu beurteilen. Im Weiteren wurde auszugsweise auf diesbezügliche Entscheidungen des Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshofes sowie darauf verwiesen, dass es anhand der vom BFA herangezogenen Länderberichte nicht abschließend möglich gewesen sei, die Asylrelevanz des Fluchtvorbringens zu beurteilen. Es würden insbesondere Feststellungen zur Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der irakischen Behörden fehlen und wurden auszugsweise Länderberichte zur Religionsfreiheit, zur Diskriminierung von Sunniten sowie zur Situation von sunnitischen Frauen im Irak, zitiert. Es sei auch Aufgabe des BFA gewesen, gezielte Fragen zum Sachverhalt zu stellen und hätte das BFA auch weiter ermitteln und den Beschwerdeführern Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen. Den Beschwerdeführern hätte die Möglichkeit eingeräumt werden müssen, vermeintliche Widersprüche aufzuklären sowie dazu Stellung zu nehmen. Durch Nachfragen hätte das BFA vermeintliche Widersprüche beseitigen können. Das BFA habe es zudem unterlassen, die Zweitbeschwerdeführerin zu ihrer westlichen Gesinnung bzw. zu ihrem westlichen Lebensstil zu befragen (VwGH Zlen. RA 2014/20/0017 und 0018-9, 28.05.2014). Das BFA hätte prüfen müssen, welche Lebensweise die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich anstrebe und ob die Zweitbeschwerdeführerin tatsächlich gewillt sei, sich in das im Irak kontinuierlich restriktiver werdende islamische Rollendbild der Frau einzufügen. Das BFA habe die Zweitbeschwerdeführerin nicht nach Veränderungen ihrer Lebensführung in Österreich gefragt, was ein schwerer Ermittlungsfehler sei. Das BFA habe es auch verabsäumt, etwaige eigene Fluchtgründe hinsichtlich der Beschwerdeführer zu prüfen sowie das Kindeswohl als oberste Priorität zu berücksichtigen. Allein aufgrund der altersbedingten speziellen Vulnerabilität sowie der Minderjährigkeit habe das BFA etwaige Fluchtgründe von Amts wegen aufgreifen und prüfen müssen. Darüber hinaus habe es das BFA unterlassen, zum Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative Ermittlungen zu erheben (BVwG W113 1431223-1 v. 27.02.2014; VwGH U 1674/12 v. 12.03.2013). Im Weiteren folgen Erklärungen zu den im bekämpften Bescheid dargelegten Widersprüchen und Ungereimtheiten. Der Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführerin seien zudem auch traumatisiert, weshalb sie sich nicht exakt an Zeit- und Datumsangaben erinnern könnten und in der Vergangenheit versucht hätten, einiges zu verdrängen. Zudem hätten die der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin als Sunniten mit staatlichen Behörden sehr negative Erfahrungen gemacht und habe die Interviewsituation eine besondere Stresssituation dargestellt. Zudem seien sich die Dolmetscher nicht immer der Wichtigkeit und Relevanz von exakten Rück-/Übersetzungen bewusst und könnten aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten leicht unterschiedliche Angaben zustande kommen. Das BFA habe sich auch nicht mit der vorgebrachten Verletzung der Zweitbeschwerdeführerin am kleinen Finger auseinandergesetzt und wurde erneut montiert, dass das BFA keinen ausreichenden Abgleich mit einschlägigen, aktuellen Länderberichten im Hinblick auf die Frage der asylrelevanten Verfolgung vorgenommen habe. Die aktuellen Länderberichte würden - wie näher dargestellt - das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin stützten sowie eine asylrelevante Verfolgung bestätigen. Hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung wurde angemerkt, dass den Beschwerdeführern eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Sunniten sowie wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie ("Sippenhaft") drohe. Der Zweitbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführerin drohe zudem eine Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frau. Dem Erstbeschwerdeführer werde zudem eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt, zumal er sich geweigert habe, gewaltsam gegen friedliche (sunnitische) Demonstranten vorzugehen. Im gegenständlichen Fall handle es sich teilweise um keine vom irakischen Staat ausgehende Verfolgung, was jedoch asylrelevant sein könne, wenn kein ausreichender staatlicher Schutz bestehe. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass der irakische Staat nicht in der Lage sei, den Beschwerdeführern wirksamen Schutz vor Verfolgung zu gewähren. Den Beschwerdeführern stehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Den angefochtenen Bescheiden würden zudem Erwägungen zur Zumutbarkeit der Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsstaat fehlen. Schließlich wurden die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Beigabe eines unentgeltlichen Verfahrenshelfers beantragt.

5. Am 20.04.2017 und 08.05.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der Beschwerdeführer eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin die Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand vorliegender Länderdokumentationsunterlagen erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehöriger des Irak, sunnitischen Glaubens und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Die Beschwerdeführer wurden in Bagdad geboren und lebten dort bis zu ihrer Ausreise im Mai 2014. Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Bagdad neun Jahre lange die Grundschule. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte bis zur mittleren Reife die Schule. Am XXXX.2006 haben der Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführerin im Irak geheiratet und entstammen diese Ehe zwei gemeinsame Kinder (der Drittbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin). Der Erstbeschwerdeführer war bis 2006 in den familieneigenen Fleischereigeschäften tätig. Die Zweitbeschwerdeführerin war Hausfrau.

Am 22.07.2009 begann der Erstbeschwerdeführer eine Ausbildung beim Militär und war dort als Kraftfahrer tätig. Im April 2014 beendet der Erstbeschwerdeführer seine Tätigkeit beim Militär im Einvernehmen und arbeitete bis zu seiner Ausreise am 21.05.2014 als Parkwächter.

Die Beschwerdeführer reisten im Mai 2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Der Erstbeschwerdeführer hielt sich gemeinsam mit seinen minderjährigen Kindern (den Drittbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin) vom 15.07.2017 bis 01.09.2017 wieder im Irak auf und kehrte danach wieder nach Österreich zurück.

Am 22.12.2015 wurde gegen den Erstbeschwerdeführer ein Betretungsverbot gemäß

§ 38a SPG ausgesprochen. Am 01.03.2016 wurde der Erstbeschwerdeführer wegen des Verdachtes der Körperverletzung gegen die Zweitbeschwerdeführerin angezeigt. Die am XXXX.2006 in Bagdad geschlossene Ehe des Erstbeschwerdeführers mit der Zweitbeschwerdeführerin wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX, im Einvernehmen geschieden.

Nicht feststellbar war, dass die Beschwerdeführer vor der Ausreise aus dem Irak einer individuellen Verfolgung ausgesetzt waren oder bei einer Rückkehr in den Irak der Gefahr einer solchen ausgesetzt wären.

1.2. Zur Lage im Irak wird festgestellt:

Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazat) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018). Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS 11.5.2018).

Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 12.10.2018

-Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker,

https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 19.10.2018

-BBC - British Broadcasting Corporation (9.12.2017): Iraq declares war with Islamic State is over, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-42291985, Zugriff 18.10.2018

-BBC - British Broadcasting Corporation (3.10.2018): New Iraq President Barham Saleh names Adel Abdul Mahdi as PM, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-45722528, Zugriff 18.10.2018

-CIA - Central Intelligence Agency (17.10.2018): The World Factbook - Iraq,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, Zugriff 19.10.2018

-DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912, Zugriff 18.10.2018

-Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 17.10.2018

-The Guardian (3.10.2018): Iraqi president names Adel Abdul-Mahdi as next prime minister,

https://www.theguardian.com/world/2018/oct/03/iraqi-president-names-adel-abdul-mahdi-as-next-prime-minister, Zugriff 18.10.2018

-ICG - International Crisis Group (9.5.2018): Iraq's Pre-election Optimism Includes a New Partnership with Saudi Arabia, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/iraqs-pre-election-optimism-includes-new-partnership-saudi-arabia, Zugriff 18.10.2018

-KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 17.10.2018

-LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018):

The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 18.10.2018

-Reuters (15.9.2018): Iraq parliament elects Sunni lawmaker al-Halbousi as speaker, breaking deadlock, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics/iraq-parliament-elects-sunni-lawmaker-al-halbousi-as-speaker-breaking-deadlock-idUSKCN1LV0BH, Zugriff 18.10.2018

-RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 18.10.2018

-Der Standard (13.5.2018): Wahlen im Irak: Al-Abadi laut Kreisen in Führung,

https://derstandard.at/2000079629773/Irakische-Parlamentswahl-ohne-groessere-Zder, Zugriff 2.11.2018

-Der Standard (3.10.2018): Neue alte Gesichter für Iraks Topjobs, https://derstandard.at/2000088607743/Neue-alte-Gesichter-fuer-Iraks-Topjobs, Zugriff 19.10.2018

-TA - Tagesanzeiger (12.5.2018): Im Bann des Misstrauens, https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/im-bann-des-misstrauens/story/29434606, Zugriff 18.10.2018

-UNSC - United Nations Security Council (17.1.2018): Report of the Secretary-General pursuant to resolution 2367 (2017), https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N1800449.pdf, Zugriff 19.10.2018

-WZ - Wiener Zeitung (12.5.2018): Erste Wahl im Irak nach Sieg gegen IS stößt auf wenig Interesse,

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/welt/weltpolitik/964399_Erste-Wahl-im-Irak-nach-Sieg-gegen-IS-stoesst-auf-wenig-Interesse.html, Zugriff 23.10.2018

Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv, die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.2.2018). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 19.7.2018

-CRS - Congressional Research Service (4.10.2018): Iraq: Issues in the 115th Congress, https://fas.org/sgp/crs/mideast/R45096.pdf, Zugriff 29.10.2018

-MIGRI - Finnische Immigrationsbehörde (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 30.10.2018

Sicherheitslage in Bagdad

Die Provinz Bagdad ist die kleinste und am dichtesten bevölkerte Provinz des Irak, mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit der Provinz wird sowohl vom "Baghdad Operations Command" kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst zieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Laut Joel Wing kam es im Januar 2018 noch zu durchschnittlich 3,3 sicherheitsrelevanten Vorfällen in Bagdad pro Tag, eine Zahl die bis Juni 2018 auf durchschnittlich 1,1 Vorfälle pro Tag sank (Joel Wing 3.7.2018). Seit Juni 2018 ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad langsam wieder auf 1,5 Vorfälle pro Tag im Juli, 1,8 Vorfälle pro Tag im August und 2,1 Vorfälle pro Tag im September gestiegen. Diese Angriffe bleiben Routine, wie Schießereien und improvisierte Sprengkörper und konzentrieren sich hauptsächlich auf die äußeren südlichen und nördlichen Gebiete der Provinz (Joel Wing 6.10.2018).

Insgesamt kam es im September 2018 in der Provinz Bagdad zu 65 sicherheitsrelevanten Vorfällen. Damit verzeichnete Bagdad die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im ganzen Land (Joel Wing 6.10.2018). Auch in der ersten und dritten Oktoberwoche 2018 führte Bagdad das Land in Bezug auf die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle an. Wenn man jedoch die Größe der Stadt bedenkt, sind Angriffe immer noch selten (Joel Wing 9.10.2018 und Joel Wing 30.10.2018).

In Bezug auf die Opferzahlen war Bagdad von Januar bis März 2018, im Mai 2018, sowie von Juli bis September 2018 die am schwersten betroffene Provinz im Land (UNAMI 1.2.2018; UNAMI 2.3.2018; UNAMI 4.4.2018; UNAMI 31.5.2018; UNAMI 1.8.2018; UNAMI 3.9.2018; UNAMI 1.10.2018). Im September 2018 verzeichnete UNAMI beispielsweise 101 zivile Opfer in Bagdad (31 Tote, 70 Verletzte) (UNAMI 1.10.2018).

Quellen:

-Joel Wing - Musings on Iraq (8.7.2017): 3,230 Dead, 1,128 Wounded

In Iraq June 2017,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2017/07/3230-dead-1128-wounded-in-iraq-june-2017.html, Zugriff 1.11.2018

-Joel Wing - Musings on Iraq (4.10.2017): 728 Dead And 549 Wounded

In September 2017 In Iraq,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2017/10/728-dead-and-549-wounded-in-september.html , Zugriff 1.11.2018

-Joel Wing - Musings on Iraq (6.10.2018): Islamic State Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/islamic-state-returns-to-baghdad-while.html , Zugriff 30.10.2018

-Joel Wing - Musings on Iraq (9.10.2018): Security In Iraq Oct 1-7, 2018,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/security-in-iraq-oct-1-7-2018.html, Zugriff 1.11.2018

-Joel Wing - Musings on Iraq (30.10.2018): Security In Iraq Oct 22-28, 2018,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/security-in-iraq-oct-22-28-2018.html, Zugriff 1.11.2018

-OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf, Zugriff 31.10.2018UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (1.2.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of January 2018,

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8500:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-january-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

-UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (2.3.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of February 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

-UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (4.4.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of March 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8801:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-march-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

-UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (31.5.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of May 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9155:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-may-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

-UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (1.8.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of July 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9402:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-july-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

-UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (3.9.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of August 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9542:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-august-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

-UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (1.10.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of September 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9687:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-september-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 31.10.2018

-USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html , Zugriff 31.10.2018

Sicherheitslage im Nord- und Zentralirak

In den Provinzen Ninewa und Salah al-Din muss weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und irakischen Sicherheitskräften gerechnet werden. Diese Gefährdungslage gilt ebenfalls für die Provinz Anbar und die Provinz Ta'mim (Kirkuk), sowie auch für die Provinz Diyala. Hinzu kommen aktuelle Spannungen zwischen irakischen Streitkräften und kurdischen Peshmerga (AA 1.11.2018).

Mit dem Zuwachs und Gewinn an Stärke von lokalen und sub-staatlichen Kräften, haben diese auch zunehmend Verantwortung für die Sicherheit, politische Steuerung und kritische Dienstleistungen übernommen. Infolgedessen ist der Nord- und Zentralirak, obgleich nicht mehr unter der Kontrolle des IS, auch nicht unter fester staatlicher Kontrolle. Die Fragmentierung der Macht und die große Anzahl an mobilisierten Kräften mit widersprüchlichen Loyalitäten und Programmen stellt eine erhebliche Herausforderung für die allgemeinen Stabilität dar (GPPI 3.2018).

Der Zentralirak ist derzeit der wichtigste Stützpunkt für den IS. Die Gewalt dort nahm im Sommer 2018 zu, ist aber inzwischen wieder gesunken. In der Provinz Diyala beispielsweise fiel die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle von durchschnittlich 1,7 Vorfällen pro Tag im Juni 2018 auf 1,1 Vorfälle im Oktober 2018. Auch in der Provinz Salah al-Din kam es im Juni 2018 zu durchschnittlich 1,4 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Tag, im Oktober jedoch nur noch zu 0,5. Die Provinz Kirkuk verzeichnete im Oktober 2018 einen Anstieg an sicherheitsrelevanten Vorfällen, mit durchschnittlich 1,5 Vorfällen pro Tag, die höchste Zahl seit Juni 2018. Die Anzahl der Vorfälle selbst ist jedoch nicht so maßgeblich wie die Art der Vorfälle und die Schauplätze an denen sie ausgeübt werden. Der IS ist in allen ländlichen Gebieten der Provinz Diyala, in Süd-Kirkuk, Nord- und Zentral-Salah-al-Din tätig. Es gibt regelmäßige Angriffe auf Städte; Zivilisten und Beamte werden entführt; Steuern werden erhoben und Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen ausgeübt, die sich weigern zu zahlen; es kommt auch regelmäßige zu Schießereien. Es gibt immer mehr Berichte über IS-Mitglieder, die sich tagsüber im Freien bewegen und das Ausmaß ihrer Kontrolle zeigen. Die Regierung hat in vielen dieser Gegenden wenig Präsenz und die anhaltenden Sicherheitseinsätze sind ineffektiv, da die Kämpfer ausweichen, wenn die Einsätze im Gang sind, und zurückkehren, wenn sie wieder beendet sind. Der IS verfügt derzeit über eine nach außen hin expandierende Kontrolle in diesen Gebieten (Joel Wing 2.11.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (1.11.2018): Irak: Reisewarnung, https://www.auswaertiges-amt.de/de/iraksicherheit/202738, Zugriff 1.11.2018

-GPPI - Global Public Policy Institute (3.2018): Iraq after ISIL:

Sub-State Actors, Local Forces, and the Micro-Politics of Control, http://www.gppi.net/fileadmin/user_upload/media/pub/2018/Gaston_Derzsi-Horvath_Iraq_After_ISIL.pdf, Zugriff 5.11.2018

-Joel Wing - Musings on Iraq (2.11.2018): October 2018: Islamic State Expanding Operations In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/11/october-2018-islamic-state-expanding.html, Zugriff 5.11.2018

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces), und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 20.4.2018).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Sie sind noch

nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.2.2018).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums. Nach Angaben internationaler Menschenrechtsorganisationen findet Missbrauch vor allem während der Verhöre inhaftierter Personen im Rahmen der Untersuchungshaft statt. Probleme innerhalb der Provinzpolizei des Landes, einschließlich Korruption, bleiben weiterhin bestehen. Armee und Bundespolizei rekrutieren und entsenden bundesweit Soldaten und Polizisten. Dies führt zu Beschwerden lokaler Gemeinden bezüglich Diskriminierung aufgrund ethno-konfessioneller Unterschiede durch Mitglieder von Armee und Polizei. Die Sicherheitskräfte unternehmen nur begrenzte Anstrengungen, um gesellschaftliche Gewalt zu verhindern oder darauf zu reagieren (USDOS 20.4.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 31.10.2018

-USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html, Zugriff 31.10.2018

Volksmobilisierungseinheiten (PMF)

Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" (al-hashd al-sha'bi, engl.:

popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere "Minderheiten-Einheiten" der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 20.4.2018). Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.2.2018).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.2.2018). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten das Assad-Regime in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind. Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und der iranischen Revolutionsgarde. Ende 2017 war keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch Premierminister und ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Die Bemühungen der Regierung, die PMF als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der PMF bleiben "iranisch" ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 20.4.2018).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa'ib Ahl al-Haqq und den Kata'ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF. Diese Meldungen haben sich mit dem Konflikt um die umstrittenen Gebiete zum Teil verschärft (AA 12.2.2018).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des "Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak" gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der "Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak" wurde später zum "Obersten Islamischen Rat im Irak" (OIRI), siehe Abschnitt "Politische Lage"]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen. Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017).

Die Kata'ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hizbullah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und werden auch von diesem angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist. Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von bis zu 30.000 Mann. Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata'ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017).

Die Asa'ib Ahl al-Haqq (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz'ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz'ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Asa'ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata'ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz'ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017).

Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali al-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017).

Auch die Kata'ib al-Imam Ali (Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden. Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im

Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi steht in engem Kontakt zu Muhandis und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata'ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azrael erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mosul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf - mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen - oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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