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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der S A in W, vertreten durch die Bichler Zrzavy Rechtsanwälte GmbH in 1030 Wien, Weyrgasse 8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. Juni 2018, I403 1424304-3/13E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 bekämpft, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin reiste spätestens im August 2010 nach Österreich ein und stellte hier einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gab sie u.a. an, sie sei sudanesische Staatsangehörige und noch im Kleinkindalter von ihren Eltern in ein Waisenhaus nach Uganda verbracht worden; dort sei sie aufgewachsen und bis Juli 2010 verblieben.
2 Das Bundesasylamt wies den Antrag der Revisionswerberin vollinhaltlich ab und wies sie aus dem österreichischen Bundesgebiet aus. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 9. Februar 2015 in den Punkten Asyl und subsidiärer Schutz keine Folge, wobei es wie schon das Bundesasylamt davon ausging, dass die Herkunftsangaben der Revisionswerberin falsch seien. Im Übrigen verwies es das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.
3 Mit Bescheid vom 22. November 2016 sprach das BFA sodann (im zweiten Rechtsgang) aus, dass der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Unter einem wurde gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Sudan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Schließlich setzte das BFA die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4 Mit Erkenntnis vom 26. Juni 2018 wies das BVwG die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet ab, gemäß § 52 Abs. 9 FPG werde festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerberin gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei. Außerdem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Gegen das dargestellte Erkenntnis erhob die Revisionswerberin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte deren Behandlung ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab (VfGH 27.11.2018, E 3166/2018-16). Über die in der Folge ausgeführte außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
7 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.
8 Im Übrigen erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt.
9 Das BVwG stellte fest, dass die Revisionswerberin die österreichischen Behörden seit ihrer Ankunft in Österreich über ihre Staatsangehörigkeit und Herkunft getäuscht habe; sie sei nämlich entgegen ihren Angaben - wie sich aus einem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe - nigerianische Staatsangehörige.
10 Das BVwG stellte weiter fest, dass die Revisionswerberin schwanger sei, errechneter Geburtstermin 12. November 2018; der Vater lebe in Italien und sei nigerianischer Staatsangehöriger.
11 Die Revisionswerberin habe früher als Prostituierte gearbeitet; sie habe Deutsch gelernt, die A2-Prüfung absolviert und sei Mitglied in einer Kirchengemeinde sowie in einem Kulturverein; sie sei ehrenamtlich tätig gewesen und habe eine Arbeitsplatzzusage; darüber hinausgehende Merkmale einer nachhaltigen Aufenthaltsverfestigung der - Grundversorgung beziehenden - Revisionswerberin lägen nicht vor.
12 Zur Situation in Nigeria hielt das BVwG insbesondere fest, dass ungeachtet einer Verbesserung der Menschenrechtssituation die allgemeinen Lebensbedingungen "schwierig bleiben". Weiter führte das BVwG u.a. aus, es bestehe die Möglichkeit, Verfolgung durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen; dies könne aber mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn man sich an einen Ort begebe, in dem keinerlei Verwandtschaft oder Bindung zur Dorfgemeinschaft besteht. Weiter heißt es im angefochtenen Erkenntnis:
"Die Großfamilie unterstützt beschäftigungslose Angehörige. ...
Auch wenn die Verfassung Gleichberechtigung vorsieht, kommt
es zu beachtlicher ökonomischer Diskriminierung von Frauen. ... Es
besteht kein spezielles Unterstützungsprogramm für allein zurückkehrende Frauen und Mütter. Es gibt aber viele Frauengruppen, die die Interessen der Frauen vertreten, praktische Hilfe und Zuflucht anbieten.
Für unterprivilegierte Frauen bestehen in großen Städten Beschäftigungsprogramme, u.a. bei der Straßenreinigung. Diskriminierung im Arbeitsleben ist aber für viele Frauen Alltag.
Alleinstehende Frauen begegnen dabei besonderen Schwierigkeiten:
Im traditionell konservativen Norden, aber auch in anderen Landesteilen, sind sie oft erheblichem Druck der Familie ausgesetzt und können diesem häufig nur durch Umzug in eine Stadt entgehen, in der weder Familienangehörige noch Freunde der Familie leben. Im liberaleren Südwesten des Landes - und dort vor allem in den Städten - werden alleinstehende oder allein lebende Frauen eher akzeptiert."
13 Rechtlich gelangte das BVwG zu dem Ergebnis, die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung würden die privaten Interessen der Revisionswerberin an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen, sodass der mit der Aufenthaltsbeendigung verbundene Eingriff in ihr Privatleben als verhältnismäßig zu qualifizieren sei. Dem liegt im Detail insbesondere die Überlegung zu Grunde, dass mit der Schwangerschaft der Revisionswerberin derzeit keine gesundheitlichen Einschränkungen verbunden seien und dass ihr zum gegenwärtigen Zeitpunkt "ein Flug noch zumutbar" sei. Zwar seien Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen in die vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen; besondere Erkrankungen habe die Revisionswerberin aber nicht vorgebracht; Feststellungen zu ihrer Familie in Nigeria könnten infolge fehlender Mitwirkung nicht getroffen werden, und der Vater ihres Kindes sei ebenfalls nigerianischer Staatsbürger; besondere Hindernisse für ein gemeinsames Familienleben in Nigeria seien nicht vorgebracht worden.
14 Diese Überlegungen greifen zu kurz und vermögen die Beschwerdeabweisung ungeachtet dessen, dass die Revision die Annahme des BVwG über eine tatsächliche Herkunft der Revisionswerberin aus Nigeria (bzw. deren Täuschungsversuch) unbekämpft lässt, nicht zu tragen.
15 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das BVwG nicht mit der gebotenen Klarheit davon ausging, der in Italien lebende Vater des ungeborenen Kindes der Revisionswerberin werde diese nach Nigeria begleiten. Dass, wie vom BVwG ausgeführt, keine "besondere(n) Hindernisse für ein gemeinsames Familienleben in Nigeria" vorgebracht wurden, sagt nämlich noch nichts darüber aus, ob der "Kindesvater" - was auch von seiner aufenthaltsrechtlichen Situation in Italien abhängig sein mag - auch gewillt ist, mit der Revisionswerberin, der insoweit letztlich keine Ingerenz zukommt, nach Nigeria (zurück) zu reisen. Davon ausgehend hätte das BVwG aber die Situation der Revisionswerberin für den Fall ihrer Rückkehr nach Nigeria als potenziell alleinstehende Frau in den Blick nehmen müssen, zumal den wiedergegebenen Länderfeststellungen zu Nigeria zu entnehmen ist, dass Frauen ohne Partner oft erheblichem Druck der Familie ausgesetzt sind und diesem häufig nur durch Umzug in eine Stadt entgehen können; insoweit tritt der Umstand, dass mangels verlässlicher Angaben der Revisionswerberin zu ihrer Familiensituation in Nigeria dazu keine Feststellungen getroffen werden konnten, in den Hintergrund.
16 Dass alleinstehende Frauen in Nigeria besonderen Schwierigkeiten gegenüberstehen, ergibt sich schon aus den wiedergegebenen Länderfeststellungen. Fallbezogen tritt hinzu, dass die Revisionswerberin schwanger war und daher ihre Situation auch unter diesem Blickwinkel bzw. weiter allenfalls unter jenem als alleinstehende Mutter eines Säuglings zu betrachten gewesen wäre. In diesem Zusammenhang hätte es dann aber vor allem auch einer Bewertung aus der Perspektive des (im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses noch ungeborenen) Kindes bedurft. Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts haben nämlich bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. zB VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012, Rn. 8, mwN, einerseits und VfGH 24.9.2018, E 1416/2018, Punkt III.3.4. der Entscheidungsgründe andererseits; zur besonderen Bedachtnahme auf die Situation von Kindern siehe auch VfGH 25.9.2018, E 1463/2018 ua, Punkt II.1.2. der Entscheidungsgründe, sowie VfGH 25.9.2018, E 1764/2018 ua, Punkt II.3.3. der Entscheidungsgründe). Zu verweisen ist insbesondere auch auf das Erkenntnis VwGH 5.10.2017, Ra 2017/21/0119, dem ein Sachverhalt zu Grunde lag, der der vorliegenden Konstellation ähnelt; dass im Fall des eben genannten Erkenntnisses als weiterer Gesichtspunkt hinzutrat, dass der nach der Geburt bestehende grundsätzliche Anspruch des Kindes auf Familienasyl konterkariert worden wäre (siehe insgesamt Rn. 14 des genannten Erkenntnisses), ändert nichts an der auch im vorliegenden Fall bestehenden Verpflichtung des BVwG, dass jedenfalls (und in erster Linie) die - wie im genannten Erkenntnis hervorgehoben - "rein existenziellen Bedürfnisse des Kindes" in den Blick zu nehmen gewesen wären. Dem hat das BVwG, das dem Kindeswohl insgesamt keine erkennbare Beachtung geschenkt hat, in Verkennung der Rechtslage nicht Rechnung getragen. Sein Erkenntnis war daher, soweit es die vom BFA erlassene Rückkehrentscheidung bestätigt (samt den auf die Erlassung der Rückkehrentscheidung aufbauenden Aussprüchen nach § 52 Abs. 9 und § 55 FPG), gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 50 VwGG, iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. März 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210141.L00Im RIS seit
10.04.2019Zuletzt aktualisiert am
26.04.2019