TE Vfgh Erkenntnis 1997/3/6 B796/96

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Veröffentlicht am 06.03.1997
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Index

67 Versorgungsrecht
67/01 Versorgungsrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
OpferfürsorgeG §14c

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der Festlegung einer Mindestdauer von dreieinhalb Jahren als Anspruchsvoraussetzung für eine Entschädigung nach dem OpferfürsorgeG wegen Unterbrechung der Schul(Berufs)Ausbildung; Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung eines Antrags auf Zuerkennung einer Entschädigung wegen Abbruchs bzw Unterbrechung der Schul(Berufs)Ausbildung aufgrund mangelhafter Bescheidbegründung und verfassungswidriger Auslegung des Begriffs der Schädigung durch politische Verfolgung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seiner Rechtsvertreter die mit 18.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Beschwerdeführer - ein in Israel wohnhafter österreichischer Staatsbürger - stellte am 28. Februar 1995 beim Landeshauptmann von Wien gemäß §14c des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. 183/1947 idF 307/1964, (OFG) den Antrag auf Pauschalentschädigung von 6.000 S wegen Schulunterbrechung. Der Landeshauptmann stellte in der Folge einen Opferausweis aus und anerkannte die Anspruchsberechtigung gemäß §1 Abs2 litf und Abs4 OFG mit Bescheid vom 30. Juni 1995. Der Beschwerdeführer ergänzte sein Vorbringen hinsichtlich des behaupteten Schulabbruches. Er habe die Schulausbildung in Österreich wegen der im Herbst 1938 notwendig gewordenen Auswanderung nach Palästina - der Vater sei Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frauenkirchen gewesen - nicht beenden können. In Tel Aviv habe er von Oktober 1938 bis Juli 1939 die Moriah-Schule besucht. Er habe dann für ein Jahr die (religiöse Ausbildung vermittelnde) "Jeschiwah" von Chason Isch in Bne Brak besucht. Eine anschließende Schlosserausbildung habe der Beschwerdeführer 1941 ebenfalls vorzeitig abbrechen müssen.

1.2. Mit Bescheid vom 21. August 1995 gab der Landeshauptmann von Wien dem Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung einer Entschädigung gemäß §14c OFG für den Abbruch bzw. die Unterbrechung der Schul- und Berufsausbildung keine Folge. Er wies in der Begründung darauf hin, daß der Beschwerdeführer den Hauptschulbesuch in Österreich bis zur dritten Klasse nachgewiesen habe. In der Emigration habe er seine Pflichtschulausbildung in der Moriah-Schule beenden können. Der Abbruch der schließlich besuchten Rabbinerschule sei aus wirtschaftlichen Gründen bedingt und nicht auf Verfolgungsmaßnahmen der NS-Behörden zurückzuführen gewesen. Ein Abbruch oder eine Unterbrechung der Schulausbildung durch 3 1/2 Jahre habe daher nicht nachgewiesen werden können. Eine Nichtaufnahme einer angestrebten Berufsausbildung liege ebenfalls nicht vor.

1.3.1. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, in der er vorbrachte, er habe zwar die Moriah-Schule in Tel Aviv besucht, hätte die Schule aber wegen mangelnder hebräischer Sprachkenntnisse ohne Abschluß verlassen müssen. Er habe nach seinem Abgang aus der Moriah-Schule auch keine Rabbinerschule besucht, sondern eine Lernstätte, in der ausschließlich jüdisch-religiöses Wissen gelehrt worden sei. Diese Schule habe er besucht, weil er noch zu jung gewesen sei, um eine Arbeit anzunehmen; außerdem hätte der Besuch dieser Schule sehr wenig gekostet. Die Schlosserausbildung habe der Beschwerdeführer nicht beenden können, weil er als Lehrling nur ein Taschengeld bekommen habe. Daher sei er im Alter von 16 Jahren gezwungen gewesen, durch Annahme einer Arbeit zum Haushaltseinkommen beizutragen.

1.3.2. Mit dem angefochtenen Bescheid gab der Bundesminister für Arbeit und Soziales der Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid "aus den zutreffenden und durch die Berufungseinwendungen nicht widerlegten Gründen". Mit den Berufungsausführungen setzt sich die belangte Behörde in dem einzigen Satz auseinander: "Bemerkt wird, daß der Berufungswerber nach seinen eigenen Angaben ab Oktober 1938 in Tel Aviv seine Schulausbildung fortsetzte und somit ein Abbruch sowie eine Unterbrechung der Schul- oder Berufsausbildung von mindestens 3 1/2 Jahren im Sinne des OFG nicht vorliegen."

1.4.1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums (Art5 StGG und Art1 des 1. ZP zur EMRK) und der Sache nach die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG) geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

1.4.2. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragte.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

2.1. §14c OFG lautet:

"Inhaber einer Amtsbescheinigung oder eines Opferausweises erhalten, wenn sie eine Schul(Berufs)ausbildung durch gegen sie selbst oder ihre Eltern gerichtete Verfolgungsmaßnahmen im Sinne dieses Bundesgesetzes abbrechen oder durch mindestens dreieinhalb Jahre unterbrechen mußten, eine einmalige Entschädigung in der Höhe von 6000 S. Ein Abbruch einer Schul(Berufs)ausbildung ist auch dann als gegeben anzunehmen, wenn wegen solcher Verfolgungsmaßnahmen eine erstrebte Schul(Berufs)ausbildung nicht aufgenommen werden konnte."

2.2.1. Die Beschwerde behauptet, die gesetzliche Frist von 3 1/2 Jahren für die Unterbrechung der Schulausbildung sei willkürlich gewählt und daher verfassungswidrig.

Zur Rechtfertigung der Sachlichkeit dieser Bestimmung verweist der Bundesminister für Arbeit und Soziales auf die EB zur RV betreffend die 16. Opferfürsorgegesetz-Novelle, BGBl. 323/1963. Bis dahin wurde eine Entschädigung gemäß §14c OFG dann gewährt, wenn der Inhaber eines Opferausweises eine begonnene Berufsausbildung wegen Verfolgungsmaßnahmen abbrechen mußte. Ein Abbruch einer Berufsausbildung war auch dann gegeben, wenn Kinder nach Vollendung des 14. Lebensjahres eine erstrebte Berufsausbildung nicht aufnehmen konnten.

Durch die 16. Opferfürsorgegesetz-Novelle, BGBl. 323/1963, wurde die Entschädigungsberechtigung auf Kinder ausgedehnt, die eine begonnene Berufsausbildung durch mindestens 3 1/2 Jahre unterbrechen mußten. In den EB 285 BlgNR X. GP wird dazu ausgeführt:

"Zur Begründung eines Anspruches auf Ausstellung eines Opferausweises nach §1 Abs2 lite OFG. reicht neben dem Abbruch der Berufs- oder Schulausbildung auch eine mindestens dreieinhalbjährige Unterbrechung hin. Gemäß §14c OFG erhalten Inhaber einer Amtsbescheinigung oder eines Opferausweises dagegen eine Entschädigung nur dann, wenn sie eine nach Vollendung des 14. Lebensjahres begonnene Berufsausbildung durch Verfolgungsmaßnahmen abbrechen mußten. Da aber eine verfolgungsbedingte, mindestens dreieinhalbjährige Unterbrechung für den Betroffenen eine schwere und in der Folgezeit oft gar nicht mehr auszugleichende Schädigung darstellt, sollen auch Personen, deren Berufsausbildung durch mindestens dreieinhalb Jahre unterbrochen war, die vorgesehene Entschädigung erhalten."

Der Verfassungsgerichtshof vermag dem Gesetzgeber hinsichtlich der in §14c OFG enthaltenen Frist unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nicht entgegenzutreten, weil die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber bei der Regelung des Ausmaßes einer verfolgungsbedingten Schädigung, ab dem eine Entschädigung gebühren soll, einen weiten Gestaltungsspielraum einräumt. Der Gesetzgeber ist aber auch - wie letztlich der Begriff des Opfers der politischen Verfolgung im §1 Abs2 OFG zeigt - von dem einmal gewählten Ordnungsprinzip nicht abgegangen, hat er doch eine Schädigung im erheblichen Ausmaß auch in anderen Fällen dann angenommen, wenn diese Schädigung mindestens 3 1/2 Jahre angedauert hat (vgl. im §1 Abs2 zum Einkommensverlust litd, zur Unterbrechung des Studiums oder der Berufsausbildung lite und zur Dauer der Emigration litf).

2.2.2. Der Verfassungsgerichtshof hegt daher gegen §14c OFG unter dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes keine Bedenken. Auch sonst sind Bedenken gegen die angewendeten Rechtsgrundlagen nicht entstanden.

2.3. Dennoch wurde der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz verletzt.

2.3.1.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10413/1985, 11682/1988) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

2.3.1.2. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt ua. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10338/1985, 11213/1987).

2.3.2. Der angefochtene Bescheid ist auf das konkrete Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe seine Schulausbildung in Palästina nicht fortsetzen können, überhaupt nicht eingegangen. Er hat sich weder mit dem Vorbringen auseinandergesetzt, daß der Beschwerdeführer in der Moriah-Schule seine Ausbildung mangels Sprachkenntnisse nicht fortsetzen konnte, noch mit der Darlegung, daß die Ausbildung in der "Jeschiwah" als religiöser Talmud-Torah-Anstalt keine Allgemeinbildung vermittelte. Erst in der Gegenschrift bringt die belangte Behörde vor, es liege keine Unterbrechung, sondern ein Abbruch der Schulausbildung vor.

Die Abweisung der Berufung versucht die Gegenschrift nun damit zu rechtfertigen, daß der Beschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben ab Oktober 1939 (richtig wohl 1938) in Tel Aviv seine Schulausbildung fortgesetzt habe und diese nach 2 Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Lage seiner Familie nicht weitergeführt habe. Der Abbruch der Schulausbildung sei daher nicht auf Grund nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen erfolgt.

Das Vorbringen in der Gegenschrift vermag nun eine mangelhafte Begründung des Bescheids nicht zu ersetzen. Abgesehen davon zeigt das Vorbringen in der Gegenschrift, daß die belangte Behörde zudem von einem gleichheitswidrigen Begriff der Schädigung durch politische Verfolgung ausgeht: Es widerspricht der Lebenserfahrung, die wirtschaftliche Situation der nach Palästina geflüchteten Familie des Beschwerdeführers nicht als Folge der politischen Verfolgung in Österreich anzusehen, sondern als ein Ereignis, das unabhängig von der Verfolgung aus rassischen Gründen eingetreten ist.

2.4. Der Beschwerdeführer wurde daher durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz verletzt.

Der angefochtene Bescheid war demgemäß aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.000 S enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Opferfürsorge, Bescheidbegründung, Fristen (Opferfürsorge)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1997:B796.1996

Dokumentnummer

JFT_10029694_96B00796_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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