Entscheidungsdatum
28.02.2019Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13Spruch
W194 2182654-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Daniela Sabetzer über die Beschwerde des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.12.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte am 13.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 19.10.2015 erfolgte im Beisein eines Vertreters und eines Rechtsberaters seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Hierbei wurde das im Spruch genannte Geburtsdatum des Beschwerdeführers vermerkt.
2. Die Obsorge für den minderjährigen Beschwerdeführer obliegt der zuständigen Bezirkshauptmannschaft. Die Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH wurde von dieser ermächtigt, Vertretungshandlungen im Bereich der Rechtsvertretung für den Beschwerdeführer insbesondere auch im Asylverfahren zu setzen.
3. Am 12.07.2017 wurde der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertreterin im Rahmen einer Einvernahme vor der belangten Behörde ua. näher zu seinen Fluchtgründen befragt.
4. Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom 09.12.2017 den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 13.10.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.12.2018 (Spruchpunkt III.).
Zu Spruchpunkt I. führte die belangte Behörde begründend insbesondere aus, dass der Beschwerdeführer keine aktuell drohende individuell gegen ihn gerichtete Gefahr einer Verfolgung in seinem Heimatland Afghanistan habe darlegen können und eine solche daher auch nicht existent sei.
Der Bescheid wurde der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers am 12.12.2017 zugestellt.
5. Der Beschwerdeführer erhob mit Schriftsatz vom 05.01.2018, am selben Tag bei der belangten Behörde eingelangt, gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides durch seine Rechtsvertreterin Beschwerde. Begründend führte er zusammengefasst aus, dass er als Hazara, der lange Zeit im westlichen Ausland gelebt habe, wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Kinder und der sozialen Gruppe der kampffähigen Minderjährigen, die sich den Taliban entziehen würden, sowie wegen seiner oppositionellen Einstellung gegenüber Kutschi, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung ausgesetzt sei. Zudem wurde darauf verwiesen, dass die belangte Behörde Ermittlungen bezüglich des Konfliktes zwischen Hazara und Kutschi und zur Sicherheitslage in Maidan Wardak unterlassen habe.
6. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 12.01.2018 eingelangter Beschwerdevorlage den verfahrensgegenständlichen Verwaltungsakt.
7. Mit Schreiben vom 28.08.2018 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer, vertreten durch seine Rechtsvertreterin, sowie der belangten Behörde - gemeinsam mit den Ladungen zur Verhandlung - Länderberichte zur Lage in Afghanistan.
8. Am 02.10.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die belangte Behörde verzichtete im Rahmen der Beschwerdevorlage auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung.
Der Beschwerdeführer wurde in der Verhandlung zu seiner Person und seiner Herkunft, seinem bisherigen Leben und seinen Fluchtgründen befragt. Zudem wurden die (mit den Ladungen ausgesendeten) Länderberichte in das Verfahren eingebracht und aktualisierte Berichte ausgeteilt. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers verzichtete auf Ausführungen zu den Berichten und verwies auf die Beschwerde. Der Beschwerdeführer legte in der Verhandlung Zeugnisse, Empfehlungsschreiben und einen Lehrvertrag vor.
Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung samt den vorgelegten Unterlagen wurde der belangten Behörde im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Beschwerdeführer:
1.1.1. Der minderjährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und führt den im Spruch angeführten Namen sowie das im Spruch angeführte Geburtsdatum. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Maidan Wardak im Dorf XXXX im Distrikt XXXX geboren und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr 2015. Er besuchte in Afghanistan vier Jahre die Schule und unterstützte seinen Vater in der Landwirtschaft. Seine Muttersprache ist Dari. Die Eltern des Beschwerdeführers und seine jüngeren Geschwister leben weiterhin im selben Dorf in Afghanistan, und der Beschwerdeführer steht mit ihnen in Kontakt.
Am 13.10.2015 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
In Österreich verfügte der Beschwerdeführer (jedenfalls) bis zum 08.12.2018 über den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Seit 01.08.2018 absolviert er eine Lehre zum XXXX . Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Er ist gesund, und er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.1.2. Dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen soll, hat sein Vater im Einvernehmen mit dem Stammesführer und den Onkeln des Beschwerdeführers entschieden. Zunächst war geplant gewesen, den XXXX ins Ausland zu schicken, jedoch fiel die Wahl dann auf den Beschwerdeführer als zweitältesten Sohn. Die Reise wurde zum Teil vom Vater und zum Teil von den Onkeln finanziert.
1.1.3. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen ist festzuhalten:
Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus Afghanistan physischer oder psychischer Gewalt, Strafverfolgung oder Bedrohungen von erheblicher Intensität durch staatliche Organe oder Private ausgesetzt gewesen ist, sei es aufgrund von Konflikten mit Angehörigen der Volksgruppe der Kutschi, durch die Taliban und/oder aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Vater aufgrund der Kutschi keine Grundstücke mehr bewirtschaftet.
Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass konkret der Beschwerdeführer im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr nach Afghanistan physische oder psychische Gewalt, Strafverfolgung oder Bedrohungen von erheblicher Intensität durch staatliche Organe oder Private zu erwarten hätte, sei es aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, seines Aufenthaltes in Europa und/oder seiner Minderjährigkeit.
Das Vorbringen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan Konflikte mit seinen Onkeln befürchtet, wird der Entscheidung zugrunde gelegt, ohne dessen Richtigkeit überprüft zu haben (vgl. dazu die rechtlichen Ausführungen unter II.3.6.).
1.2. Zur Lage in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen herangezogen:
* Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der ISLAMISCHEN REPUBLIK AFGHANISTAN (Stand Mai 2018) vom 31.05.2018,
* UNHCR-RICHTLINIEN zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018,
* BFA, Arbeitsübersetzung: Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017,
* Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan:
Afghans perceived as "Westernised" vom Jänner 2018,
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, AFGHANISTAN, Hazara als Talibankämpfer, vom 21.02.2017 sowie
* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, die letzten Kurzinformationen bis 23.11.2018 sowie die Kapitel Sicherheitslage, Wardak / Maidan Wardak, Wehrdienst, Wehrdienstverweigerung/Desertion, Religionsfreiheit, Schiiten, Ethnische Minderheiten, Hazara, Kutschi, Kinder, Rückkehr, Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.
Auf der Grundlage dieser Quellen wird im Beschwerdefall festgestellt:
1.2.1. Zur Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):
(Maidan) Wardak ist eine der zentralen Provinzen Afghanistans (Pajhwok o.D.). Maidan Shahr ist die Provinzhauptstadt. Distrikte der Provinz Wardak sind: Sayed Abad, Jaghto, Chak, Daimirdad, Jalrez, central Bihsud/Behsood und Hisa-i-Awal Bihsud. Kabul und Logar liegen im Osten der Provinz (Maidan) Wardak, Bamyan im Westen und Nordwesten, Ghazni im Süden und Südwesten, sowie die Provinz Parwan im Norden (Pajhwok o.D.; vgl. UN OCHA 4.2014). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 615.992 geschätzt (CSO 4.2017). In der Provinz leben hauptsächlich ethnische Paschtunen, Tadschiken und Hazara; auch Kuchis sind in der Vergangenheit insbesondere in den Distrikt Behsood gezogen (EASO 12.2017).
Die Hauptautobahn (Ring Road) Kabul-Kandahar führt durch die Provinz Maidan Wardak, von wo aus sie die südlichen, aber auch südöstlichen Provinzen des Landes mit der Hauptstadt Kabul verbindet (Khaama Press 6.5.2016; vgl. Tolonews 23.1.2018). Polizisten arbeiten hart daran, die Autobahn von Minen zu befreien, da der südliche Abschnitt der Kabul-Kandahar Autobahn neun Provinzen mit der Hauptstadt Kabul verbindet (Tolonews 23.1.2018).
Mit Stand November 2017 ist die Provinz Wardak zumindest seit dem Jahr 2006 komplett opiumfrei - im Jahr 2005 wurden in Daimirdad noch 106 Hektar Mohnanbauflächen verzeichnet (UNODC 11.2017).
Drei Frauen haben bei der Provinzwahl von Maidan Wardak Sitze für den Provinzrat erhalten (GV 8.3.2018). Im März 2018 hat eine Gruppe junger Frauen in der Provinz die Kunstbewegug "Village Sisters Art Movement" gegründet, wodurch Lyrik-Vorträge organisiert werden. Das Projekt wird vom Kultur- und Informationsdepartment begrüßt (Pajhwok 9.3.2018).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
Wardak zählt seit einiger Zeit zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Regierungsfeindliche, bewaffnete Aufständische sind in unterschiedlichen Distrikten aktiv - speziell in den Distrikten nächst der Autobahn (Khaama Press 11.3.2018; vgl. Khaama Press 1.1.2018, Khaama Press 25.12.2017, Khaama Press 8.12.2017, Khaama Press 23.11.2017, FN 8.11.2017, Khaama Press 21.8.2018, Khaama Press 11.7.2017).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 81 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.
Im gesamten Jahr 2017 wurden 83 zivile Opfer (42 getötete Zivilisten und 41 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten/willkürlichen Tötungen und Luftangriffen. Dies deutet einen Rückgang von 35% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen in Wardak
In der Provinz Wardak werden groß angelegte militärische Operationen durchgeführt (Tolonews 23.11.2017; vgl. Xinhua 18.3.2018, Tolonews 18.3.2018, Tolonews 22.11.2017, Tolonews 1.7.2017 Pajhwok 19.5.2017); Aufständische werden getötet und festgenommen (Xinhua 18.3.2018; vgl. Tolonews 18.3.2018, Tolonews 23.11.2017). Bei diesen Operationen werden unter anderem auch Führer von regierungsfeindlichen Gruppierungen getötet (Xinhua 14.1.2018; vgl. Khaama Press 23.11.2017, Tolonews 1.7.2017). Luftangriffe werden ebenso durchgeführt; bei diesen werden auch Aufständische getötet (Independent 24.11.2017; vgl. Khaama Press 12.8.2017, Pajhwok 10.4.2017).
Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften finden statt (Pajhwok 3.3.2018; vgl. Tolonews 7.11.2017, Tolonews 11.7.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Wardak
Regierungsfeindliche bewaffnete Aufständische sind in unterschiedlichen Distrikten aktiv (Khaama Press 11.3.2018). Dazu zählen u. a. die Taliban (Tolonews 18.2.2018; vgl. Xinhua 14.1.2018, Khaama Press 9.12.2017); Quellen zufolge hat das Haqqani-Netzwerk in einem Teil der Provinz Wardak eine Zentrale gehabt (ATN 23.11.2017; vgl. Tolonews 23.11.2017, Khaama Press 23.11.2017, SP 13.3.2018, UW 3.2012). Das Haqqani-Netzwerk operiert großteils in Ostafghanistan und der Hauptstadt Kabul (Xinhua 18.3.2018).
Für den Zeitraum 1.1.2017-31.1.2018 wurden keine IS-bezogene Vorfälle in der Provinz gemeldet (ACLED 23.2.2018).
1.2.2. Schiiten (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara (USDOS 15.8.2017). Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen (BFA Staatendokumentation 7.2016). Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (CRS 13.12.2017).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 11.4.2018). Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 15.8.2017).
Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30% (AB 7.6.2017; vgl. USDOS 15.8.2017). Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 15.8.2017).
Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen (USDOS 15.8.2017). Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet (CRS 13.12.2017). In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (HRW 2018; vgl. USCIRF 2017).
Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten (USDOS 15.8.2017).
1.2.3. Ethnische Minderheiten, Hazara und Kutschi (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen (CIA Factbook 18.1.2018). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. CIA Factbook 18.1.2018). Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2018; vgl. CIA Factbook 18.1.2018).
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." (BFA Staatendokumentation 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 20.4.2018).
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 5.2018). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.4.2018).
Hazara
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus (CIA Factbook 18.1.2018; CRS 12.1.2015). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (BFA Staatendokumentation 7.2016); andererseits gehören ethnische Hazara hauptsächlich dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. AJ 27.6.2016, UNAMA 15.2.2018). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (BFA Staatendokumentation 7.2016).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (BFA Staatendokumentation 7.2016).
Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA Staatendokumentation 7.2016). Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert (AA 5.2018; vgl. IaRBoC 20.4.2016); vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet (CRS 12.1.2015; vgl. GD 2.10.2017). Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht (BFA Staatendokumentation 7.2016). Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (GD 2.10.2017).
So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft (IaRBoC 20.4.2016). So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt (IaRBoC 20.4.2016; vgl. BFA/EASO 1.2018); Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (IaRBoC 20.4.2016).
Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018); soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (USDOS 20.4.2018).
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Brookings 25.5.2017).
Kutschi
Die Kutschi sind die Nomaden Afghanistans. Sie sind Angehörige der paschtunischen Volksgruppe und verteilen sich im ganzen Land (Telepolis 2.11.2017). Wenngleich die tatsächliche Anzahl der Nomaden in Afghanistan unbekannt ist, kann deren Anwesenheit als signifikant bezeichnet werden und wirkt sich auf die ländliche Wirtschaft aus (AREU 1.2018). Im Jahr 2004 wurde die Anzahl der "aktiv migrierenden" Nomaden in Afghanistan auf 1.5 Millionen geschätzt (AREU 1.2018; vgl. AA 5.2018). Diese Zahl beinhaltet sowohl alle nomadischen Haushalte als auch aktiv migrierende Mitglieder von teilweise niedergelassenen Haushalten. Dennoch wird angenommen, dass die Zahl der Nomaden heutzutage niedriger ist. Die Anzahl jener vollständig-nomadischer Haushalte, die noch in Zelten leben und kein fixes Heim haben, ist heute wahrscheinlich gering. Viele nomadische Gemeinschaften sind teilweise sesshaft. Manche Mitglieder leben in Häusern und migrieren auch saisonal nicht, während andere Mitglieder mit dem Viehbestand jährlich in grünere Regionen migrieren (AREU 1.2018).
Im Rahmen eines Projektes wurden zwischen 2008 und 2009 die nomadischen Migrationsrouten untersucht. Daraus ging hervor, dass der Großteil der Nomaden während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajats (zentrales Hochland) zieht (AREU 1.2018).
Die Beziehung zwischen Nomaden und Bauern ist komplex - noch vor dem Konflikt existierten zumindest einige symbiotische Elemente: so verkauften die Nomaden in abgelegenen Dörfern Waren, an die man dort nur schwer gelangen konnte. Nachdem sich das afghanische Straßennetz entwickelte, wurden diese Handelsaktivitäten für einen Großteil der ländlichen Gesellschaft überflüssig. Gleichzeitig kam es in bestimmten Gegenden zu Spannungen zwischen Nomaden und Bauern (AREU 1.2018).
Die Wurzeln des Konfliktes zwischen Kutschi-Nomaden und Hazara in Zentralafghanistan reichen bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Seit 2007 hat sich der Konflikt um das Weideland in den Provinzen Wardak und Ghazni zunehmend verschärft und mündete immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kutschi und Hazara. Trotz der Mediationsbemühungen von Seiten der afghanischen Regierung und der Vereinten Nationen ist der Konflikt bisher, sowohl rechtlich als auch politisch, ungelöst (365 Tage 28.1.2014).
Trotzdem haben die Kutschi in Fragen um Ländereien einen guten Draht zur Regierung in Kabul. Einige Kutschi wie Hashmat Ghani, der Bruder des gegenwärtigen Präsidenten Ashraf Ghani und Repräsentant aller Kutschi in Afghanistan, sind reiche Geschäftsmänner. Dennoch sind die meisten Kutschi-Nomaden sehr arm, leben in einfachen Verhältnissen und sind als Hirten oder Händler tätig (Telepolis 2.11.2017). Die Regierung verfügt mit dem unabhängigen Direktorium für die Angelegenheiten der Kutschi, über eine eigene Organisationseinheit, welche die Angelegenheiten der Kutschi behandelt (RFE/RFL 18.9.2015).
Der afghanischen Verfassung zufolge ist die Regierung verpflichtet, den Kutschi Land für die permanente Nutzung zur Verfügung zu stellen und ihre Integration in besiedelten Gebieten zu fördern (RFE/RFL 18.9.2015).
Die Verfassung sieht vor, dass zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung für die Kutschi-Minderheit reserviert sind (USDOS 20.4.2018). Auch sollen laut Verfassung vom Präsidenten zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden (AAN 4.2.2016; vgl. CRS 15.1.2015, USDOS 20.4.2018).
1.2.4. Taliban und Zwangsrekrutierung:
1.2.4.1. Wörtlich entnommen den UNHCR-RICHTLINIEN zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:
Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Rekrutierung Minderjähriger und von Zwangsrekrutierung
Berichten zufolge werden Fälle von Zwangsrekrutierung Minderjähriger zu einem großen Teil unzureichend erfasst. Jedoch geht aus Berichten hervor, dass die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs- und Kampfhandlungen im ganzen Land beobachtet werden.
a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)
Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, so wird berichtet, weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung.
1.2.4.2. Wörtlich entnommen der BFA, Arbeitsübersetzung: Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017:
Zusammenfassung
Die Taliban sind im Wesentlichen immer noch eine Bewegung der Paschtunen. Im letzten Jahrzehnt hat sich allerdings die Rekrutierung von Nichtpaschtunen verstärkt.
Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert, die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das kulturelle und sozioökonomische Umfeld erlegt den meisten Afghanen Einschränkungen auf, viele von ihnen haben keine andere Wahl als sich den Taliban anzuschließen.
Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet.
Ethnische und geografische Zugehörigkeit
Informationen über die Anzahl und ethnische und geografische Zugehörigkeit der Talibankader beruhen auf Schätzungen. Landinfo geht davon aus, dass die Taliban im Hinblick auf die tatsächlichen und relativen Zahlen noch immer ein hauptsächlich paschtunisches Phänomen darstellen. Die Mehrheit sind Paschtunen, obwohl die Taliban behaupten, dass ethnische Zugehörigkeit, Stamm und Region irrelevant seien.
Giustozzi schätzte 2012, dass unter 10% der Talibankader Usbeken, Tadschiken oder anderer Herkunft seien (Giustozzi 2012). 2015 vertrat Giustozzi die Ansicht, dass der Anteil der Nichtpaschtunen bei den Taliban steige (Seminar in Oslo, November 2015). Die Analytikerinnen Patricia Grossmann und Kate Clark (zitiert in EASO 2016) wiesen darauf hin, dass die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen weniger üblich sei, während Boran Osman vom Afghanistan Analyst Network (AAN) die Meinung vertrat, dass hauptsächlich lokale Faktoren ("lokale Konfliktdynamik") entscheidend seien, und dass sowohl Tadschiken, Usbeken als auch Turkmenen rekrutiert würden (EASO 2016, S. 18).
Giustozzi stellte in der Vergangenheit fest (Giustozzi 2011, S. 11), dass die Taliban von der Hazara-Bevölkerung nur minimale Unterstützung erhalten. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich und nur einige wenige Kommandanten der Hazara sind mit den Taliban verbündet. In den zentralen von Hazara dominierten Gebieten, einschließlich der von Hazara bewohnten Distrikte westlich von Ghazni, besteht kein Grund, von einer umfangreichen Rekrutierung auf individueller Ebene auszugehen. Es gibt nach wie vor nur wenige Hazara, die aktiv für die Taliban kämpfen. (Gespräch mit einem Analytiker in Kabul, Mai 2017). Der Analytiker Osman (zitiert in EASO, S. 20) weist darauf hin, dass es für die Taliban wichtig ist, sich auf die Rekruten verlassen zu können. Daher hält es Osman für unwahrscheinlich, dass die Taliban Hazara zwingen würden mit ihnen zu kämpfen.
Die überwiegende Mehrheit der Talibankämpfer sind Afghanen, die Zahl der ausländischen Kämpfer (d.h. Usbeken, Araber, Tschetschenen, etc.) ist sehr beschränkt. Die Botschaft der Bewegung ist klar: Die Taliban haben eine nationale Agenda, sie unterstützen nicht die Vision eines Kalifen oder den globalen Dschihad. Sie wollen nicht als Bedrohung für die Nachbarländer gesehen werden. Es sind keine Beziehungen zu al-Qaida, Daesh oder anderen militanten Gruppen, die den globalen Dschihad auf ihre Agenda gesetzt haben, bekannt (Gespräch mit einem Analytiker in Kabul, Mai 2017).
Ausmaß unmittelbaren Zwangs
Quellen von Landinfo haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen (Gespräch mit NGO A in Kabul, Mai 2017).
Nach Aussagen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan (UNAMA) ist die Gruppe der Stammesältesten gezielten Tötungen ausgesetzt (UNAMA & OHCHR 2017, S. 64). Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Der Analytiker Borham Osman (berichtet in EASO 2016, S. 24) hat auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfen verweigert haben, verwiesen. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet (NGO A, Kabul, Mai 2017), meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen.
Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Nach Osman (zitiert in EASO 2016, S. 24) kann die erweiterte Familie allerdings auch eine Zahlung leisten anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich frei zu kaufen.
Rekrutierung von Minderjährigen
Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Junge und Mann fließend; ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit, die erweiterte Familie zu repräsentieren. Welchen Status jemand auf der Skala vom Kind zum Erwachsenen innehat und zu welchem Zeitpunkt erwachsenes Verhalten erwartet wird, entspricht im Regelfall weder den nationalen afghanischen Gesetzen noch dem Völkerrecht. Diese Tatsache, gepaart mit der demografischen Zusammensetzung, wirtschaftlichen, politischen und anderen kulturellen Gegebenheiten führt im Ergebnis dazu, dass bewaffnete Soldaten in verschiedenen Gruppen die im Völkerrecht festgelegten Altersgrenzen unterschreiten können. In der überwiegenden Mehrzahl aller Kontexte ziehen Afghanen bei der Beurteilung von Status, Stellung und Reife einer Person nur in geringem Ausmaß formelle und rechtliche Bestimmungen heran.
Wie bereits erwähnt, ist die erweiterte Familie die tonangebende gesellschaftliche Institution und bildet den Rahmen für die Familienmitglieder. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband "herauslösen" (Gespräch mit einer NGO, Kabul 2016).
1.2.4.3. Wörtlich entnommen der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, AFGHANISTAN, Hazara als Talibankämpfer, vom 21.02.2017:
Einem Bericht von EASO [11.2016] zum Thema Zwangsrekrutierung durch bewaffnete Gruppierungen in Afghanistan ist zu entnehmen, dass es auch zu Rekrutierungen von Hazara durch die Taliban kommt und es in Bamyan und Daikundi einige höherrangige Kommandanten der Hazara unter den Taliban gibt, wobei anzunehmen ist, dass es sich dabei um lokale Talibaneinheiten handelt. Auch das Interesse daran, sich den Taliban anzuschließen, ist lokal begrenzt. Somit existiert zwar eine Zusammenarbeit zwischen Taliban und Hazara, eine Rekrutierung von Hazara durch Taliban ist aber nicht weit verbreitet. Angeführt werden einige Dörfer in Ghazni, wo es aktive Talibankämpfer gab und 2012 etwa ein Dutzend Hazara für die Taliban gekämpft haben. Es gab dem Bericht zufolge aber keine Hinweise darauf, dass es sich um Zwangsrekrutierung gehandelt hat zumal der Kontakt zu den Taliban von der örtlichen Gemeinschaft ausging. Warum oder wie die Taliban Hazara oder Schiiten zwangsweise rekrutieren sollten, sei nicht bekannt zumal die Taliban diesen ja auch trauen müssten. Angeführt werden noch sunnitische Hazara in Bamyan und Parwan - wo in einigen Gemeinden Hazara Funktionen innerhalb der Taliban oder deren ziviler Schattenverwaltung übernommen haben. Dem Bericht zufolge handelt es sich dabei um Einzelfälle.
Aus dem von ACCORD dokumentierten Expertengespräch vom 04.05.2016 geht folgendes hervor: [...] Dass Hazara rekrutiert werden für die Taleban, ist eher eine Ausnahme, allerdings habe ich oben bereits die sunnitischen Hazara angesprochen. Von denen ist bekannt, dass einige von ihnen in den Taleban-Strukturen mitkämpfen. Bei den schiitischen Hasaras ist es eher eine Ausnahme, es gibt aber bestimmte alte Überreste schiitischer Mudschaheddin-Führer in relativ entlegenen Gegenden, die in so einer Art Allianz mit den Taleban sind. [...]
1.2.5. Kinder, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):
Kinder
Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika) (AA 5.2018). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (USDOS 3.3.2017).
Bildungssystem in Afghanistan
Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (USDOS 20.4.2018).
Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes (USDOS 3.3.2017). Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (USDOS 20.4.2018). Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom".
Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp.
Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können (BFA Staatendokumentation 4.2018).
In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UNOrganisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können (AA 9.2016). Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld (AA 9.2016; vgl. CAN 2.2018), in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 9.2016). Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren (CAN 2.2018).
Bacha Bazi (Bacha Bazi) - Tanzjungen
Bacha Bazi, auch Tanzjungen genannt, sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653). In weiten Teilen Afghanistans, vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird nicht selten unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein (AA 5.2018). Mit Inkrafttreten des neuen afghanischen Strafgesetzbuches im Jahr 2018, wurde die Praxis des Bacha Bazi kriminalisiert. Den Tätern drohen bis zu sieben Jahre Haft. Jene, die mehrere Buben unter zwölf Jahren halten, müssen mit lebenslanger Haft rechnen.
Das neue afghanische Strafgesetzbuch kriminalisiert nicht nur die Praxis von Bacha Bazi, sondern auch die Teilnahme an solchen Tanzveranstaltungen. Der Artikel 660 des fünften Kapitels beschreibt, dass Beamte der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF), die in die Praxis von Bacha Bazi involviert sind, mit durchschnittlich bis zu fünf Jahren Haft rechnen müssen (MoJ 15.5.2017; vgl. LSE 24.1.2018).
Üblicherweise sind die Jungen zwischen zehn und 18 Jahre alt (SBS 20.12.2016; vgl. AA 9.2016); viele von ihnen werden weggeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Jungen wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 5.2018). Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder und in manchen Fällen entschließen sich Jungen, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen (TAD 9.3.2017). Die Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung verstoßen; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 5.2018).
Kinderarbeit
Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Mindestalter für Arbeit mit 18 Jahren fest; es erlaubt Jugendlichen ab 14 Jahren als Lehrlinge zu arbeiten und solchen über 15 Jahren "einfache Arbeiten" zu verrichten. 16- und 17-Jährige dürfen bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. Kinder unter 14 Jahren dürfen unter keinen Umständen arbeiten. Das Arbeitsgesetz verbietet die Anstellung von Kindern in Bereichen, die ihre Gesundheit gefährden. In Afghanistan existiert eine Liste, die gefährliche Jobs definiert; dazu zählen: Arbeit im Bergbau, Betteln, Abfallentsorgung und Müllverbrennung, arbeiten an Schmelzöfen sowie in großen Schlachthöfen, arbeiten mit Krankenhausabfall oder Drogen, arbeiten als Sicherheitspersonal und Arbeit im Kontext von Krieg (USDOS 20.4.2018).
Afghanistan hat die Konvention zum Schutze der Kinder ratifiziert (AA 5.2018; vgl. UNTC 9.4.2018). Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten (AA 5.2018). Berichten zufolge arbeiten mindestens 15% der schulpflichtigen Kinder (IRC 15.2.2018; vgl. FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Viele Familien sind auf die Einkünfte ihrer Kinder angewiesen (AA 5.2018; vgl. IDMC 1.2018). Daher ist die konsequente Umsetzung eines Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt allerdings Programme, die es Kindern erlauben sollen, zumindest neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z. B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) wurden gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen für diese gesetzlichen Regelungen (AA 5.2018). Allgemein kann gesagt werden, dass schwache staatliche Institutionen die effektive Durchsetzung des Arbeitsrechts hemmen und die Regierung zeigt nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018).
Kinderarbeit bleibt ein tiefgreifendes Problem (USDOS 20.4.2018; vgl. IRC 15.2.2018, FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Das Arbeitsministerium verweigert Schätzungen zur Zahl der arbeitenden Kinder in Afghanistan und begründet dies mit fehlenden Daten und Mängeln bei der Geburtenregistrierung. Dies schränkt die ohnehin schwachen Kapazitäten der Behörden bei der Durchsetzung des Mindestalters für Arbeit ein. Berichten zufolge werden weniger als 10% der Kinder bei Geburt registriert. Oft sind Kinder sexuellem Missbrauch durch erwachsene Arbeiter ausgesetzt (USDOS 20.4.2018).
Strafverfolgung von Kindern
Das Gesetz besagt, dass die Festnahme eines Kindes als letztes Mittel und so kurz wie möglich vorgenommen werden soll. Berichten zufolge mangelt es Kindern in Jugendhaftanstalten landesweit an Zugang zu adäquater Verpflegung, Gesundheitsvorsorge und Bildung. Festgenommenen Kindern werden oftmals Grundrechte wie z.B. die Unschuldsvermutung, das Recht auf einen Anwalt, oder das Recht auf Information über die Haftgründe sowie das Recht, nicht zu einem Geständnis gezwungen zu werden, verwehrt. Das Gesetz sieht eine eigene Jugendgerichtsbarkeit vor; wegen limitierter Ressourcen sind spezielle Jugendgerichte nur in sechs Gebieten funktionsfähig:
Kabul, Herat, Balkh, Kandahar, Nangarhar und Kunduz. In anderen Provinzen, in denen keine speziellen Gerichte existieren, fallen Kinder unter die Zuständigkeit allgemeiner Gerichte. Im afghanischen Strafjustizsystem sind Kinder oftmals eher die Opfer als die Täter (USDOS 20.4.2018).
Viele Kinder sind unterernährt. Ca. 10% (laut offizieller Statistik 91 von 1.000, laut Weltbank 97 von 1.000) der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (AA 9.2016). Nachdem im Jahr 2016 die Zahl getöteter oder verletzter Kinder gegenüber dem Vorjahr um 24% gestiegen war (923 Todesfälle, 2.589 Verletzte), sank sie 2017 um 10% (861 Todesfälle, 2.318 Verletzte). 2017 machten Kinder 30% aller zivilen Opfer aus. Die Hauptursachen sind Kollateralschäden bei Kämpfen am Boden (45%), Sprengfallen (17%) und zurückgelassene Kampfmittel (16%) (AA 5.2018).
Rekrutierung von Kindern
Im Februar 2016 trat das Gesetz über das Verbot der Rekrutierung von Kindern im Militär in Kraft. Berichten zufolge rekrutieren die ANDSF und andere regierungsfreundliche Milizen in limitierten Fällen Kinder; die Taliban und andere regierungsfeindliche Gruppierungen benutzen Kinder regelmäßig für militärische Zwecke. Im Rahmen eines Regierungsprogramms werden Schulungen für ANP-Mitarbeiter zu Alterseinschätzung und Sensibilisierungskampagnen betreffend die Rekrutierung von Minderjährigen organisiert sowie Ermittlungen in angeblichen Kinderrekrutierungsfällen eingeleitet (USDOS 20.4.2018).
Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)
Mit dem Begriff "unbegleitete Minderjährige" werden Personen bezeichnet, die unter 18 Jahre alt sind bzw. das nationale Volljährigkeitsalter nicht erreicht haben und getrennt von ihren Eltern bzw. ohne die Obhut eines Vormundes leben (MPI 11.2017).
Ca. 58% der nach Afghanistan zurückkehrenden Jugendlichen sind minderjährig. Besonders gefährdet sind aus dem Iran kommende unbegleitete Minderjährige, deren Anzahl im Jahr 2017 auf ca. 2.000 geschätzt wurde (HO 4.2018). Schätzungen zufolge waren ungefähr 15% der aus dem Iran zurückgeführten Afghanen zum Zeitpunkt ihre Rückkehr zwischen 15 und 17 Jahre alt, dennoch gab es auch einige Zehnjährige darunter (MPI 11.2017). Die Rückkehr ist oft nicht freiwillig und zahlreiche Heimkehrer sind unbegleitete Buben, die willkürlichen Festnahmen und Misshandlungen ausgesetzt sind (BAAG 3.2018). Unbegleitete Minderjährige, die im Iran oder anderswo aufgewachsen sind, sind bei Rückführungen besonders gefährdet, da sie nie in Afghanistan gelebt haben (MPI 3.2018). Schätzung von IOM zufolge ist die Anzahl der nach Afghanistan zurückkehrenden unbegleiteten Minderjährigen von 2.110 im Jahr 2015 auf 4.419 im Jahr 2017 gestiegen (IOM 28.2.2017).
Einer Aussage des Direktors der Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation aus dem Jahr 2015 zufolge gibt es in Afghanistan keine auf UMF spezialisierten Reintegrationsprogramme. Wegen der hohen Zahl an Rückkehrern und Rückkehrerinnen beschränken sich die Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen auf die Bereitstellung von Grundversorgungsdiensten wie Unterkunft, Essen und Transport (HO 4.2018). Unbegleitete Minderjährige werden durch Vormundschaftsvereinbarungen von IOM versorgt (MPI 11.2017).
Quellen zufolge entscheidet meist der weitere Familienkreis, ein minderjähriges Familienmitglied nach Europa zu schicken. Ohne familiäre Unterstützung wäre es dem Minderjährigen meistens gar nicht möglich, die Reise nach Europa anzutreten; dies ist eine wichtige Netzwerkentscheidung, die u.a. die Finanzen der Familie belastet. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen der Minderjährige unabhängig von seiner Familie beschließt, das Land zu verlassen und nach Europa zu reisen. Meist sind dies junge Leute aus gebildeten, wohlhabenden Familien. Dies wird oft durch den Kontakt zu Freunden und Bekannten im Ausland, die über soziale Medien ein idealisiertes Bild der Lebensbedingungen in Europa vermitteln, gefördert (EASO 2.2018). Eine größere Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen ist auf der Suche nach Arbeit in den Iran, nach Pakistan, Europa und in urbane Zentren innerhalb Afghanistans migriert; viele von ihnen nutzten dafür Schlepperdienste (MPI 3.2018).
1.2.6. Westliche Orientierung
1.2.6.1. Wörtlich entnommen den UNHCR-RICHTLINIEN zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:
Als "verwestlicht" wahrgenommene Personen
Es liegen Berichte über Personen vor, die aus westlichen Ländern nach Afghanistan zurückkehrten und von regierungsfeindlichen Gruppen bedroht, gefoltert oder getötet wurden, weil sie sich vermeintlich die diesen Ländern zugeschriebenen Werte zu eigen gemacht hätten, "Ausländer" geworden seien oder als Spione oder auf andere Weise ein westliches Land unterstützten. Heimkehrern wird Berichten zufolge von der örtlichen Gemeinschaft, aber auch von Staatsbeamten oft Misstrauen entgegengebracht, was zu Diskriminierung und Isolierung führt.
1.2.6.2. Entnommen der "Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Afghans perceived as "Westernised" vom Jänner 2018:
Es gibt vereinzelte Berichte, dass eine kleine Anzahl dieser Rückkehrer von AGEs ins Visier genommen und angegriffen wurde, weil sie "verwestlicht" sind oder zumindest Zeit im Westen verbracht haben, wobei die Gründe für diese Angriffe oft unklar sind und Faktoren wie die Volksgruppenzugehörigkeit einer Person signifikant erscheinen.
Im Jahr 2014 wurde berichtet, dass zwei afghanische Hazaras von den Taliban ins Visier genommen und angegriffen wurden. Es wurde behauptet, dass sie, nachdem sie kürzlich aus Australien zurückgekehrt waren, als "westlich" wahrgenommen wurden. Es wurde weithin berichtet, dass Hazaras - die überwiegend schiitische Muslime sind und die Mehrheit der schiitischen Muslime in Afghanistan bilden - von Militanten in Afghanistan ins Visier genommen wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass Hazaras aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und / oder ihrer Religion gefährdet sein könnten. Es ist daher wahrscheinlich, dass die gemeldeten Vorfälle auf die ethnische Herkunft der zurückgekehrten Hazara zurückzuführen waren, im Gegensatz zu ihren Verbindungen zu einem westlichen Land, ihrer politischen Meinung oder weil sie westliche Werte oder ihr Aussehen angenommen hatten.
Angesichts der Handvoll gemeldeter Angriffe im Vergleich zu der großen Anzahl (viele Tausende) an Rückkehrern scheint das Risiko eines gewalttätigen Angriffs oder einer Entführung sehr gering zu sein.
Einige Afghanen, die aus westlichen Staaten zurückkehren, sind möglicherweise Diskriminierung und sozialem Stigma ausgesetzt. Dies scheint jedoch darauf zurückzuführen zu sein, dass sie infolge ihrer Rückkehr als "gescheitert" wahrgenommen werden und nicht als "verwestlicht". Ungeachtet dessen ist es unwahrscheinlich, dass eine solche Behandlung aufgrund ihrer Natur einer Verfolgung oder einem schweren Schaden gleichkommt.
1.2.6.3. Wörtlich entnommen dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der ISLAMISCHEN REPUBLIK AFGHANISTAN (Stand Mai 2018) vom 31.05.2018:
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Auch EASO berichtet hierzu nur von unbestätigten Einzelfällen. EASO liegen aber Berichte über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu erheblichem Vermögen gekommen, vor.