TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/7 W109 2162412-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.03.2019
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Entscheidungsdatum

07.03.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W109 2162412-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BÜCHELE über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom 18.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.12.2018 zu Recht:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Am 01.10.2015 stellte der damals minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, nach Einreise unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 02.10.2015 gab der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung im Wesentlichen an, er sei afghanischer Staatsangehöriger und in XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Ghazni geboren. Zum Fluchtgrund befragt führte er aus, er sei in Kontakt mit einem Mädchen gestanden. Ihr Vater habe davon erfahren. Darum sei er mit dem Tode bedroht worden.

Am 24.11.2016 führte der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, er habe im Herkunftsstaat ein Mädchen kennen gelernt. Sie seien von deren Vater ertappt worden, als sie sich geküsst hätte. Dieser habe den Beschwerdeführer geschlagen und getreten. Er habe den Beschwerdeführer deshalb bei allen Stellen angezeigt und wolle ihn umbringen. Er werde deshalb auch von der Polizei gesucht. Der Vater des Beschwerdeführers habe dann die Flucht organisiert. Außerdem würden ihn die Taliban wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sowie zu schiitischen Glaubensrichtung des Islam verfolgen.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 18.05.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die belangte Behörde aus, das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers sei nicht glaubwürdig. Im Herkunftsstaat gebe es keine Gruppenverfolgung gegen schiitische Hazara.

3. Am 19.06.2017 langte die vollumfängliche Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bei der belangten Behörde ein in der im Wesentlichen ausgeführt wird, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei äußerst substantiiert und glaubwürdig. Er sei seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen und habe relevante Dokumente vorgelegt. Mit diesen habe die belangte Behörde sich unzureichend auseinandergesetzt. Das Vorbringen sei auch vor dem Hintergrund der Länderberichte plausibel. Die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz sei schlecht und der Beschwerdeführer habe in Österreich ein schützenswertes Privat- und Familienleben etabliert.

Am 04.12.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigte Rechtsvertreterin und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er werde im Herkunftsstaat verfolgt, weil er ein Mädchen geküsst habe und dabei von deren Vater erwischt worden sei, aufrecht.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

-

Schulbesuchsbestätigungen für den Besuch eines Gymnasiums und Bundesrealgymnasiums;

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ÖSD-Zertifikat Niveau A2 vom 13.12.2016;

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Konvolut an Empfehlungsschreiben;

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Teilnahmebestätigung der Sportunion XXXX ;

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Deutsch-Kurs Teilnahmebestätigung;

-

Konvolut aus Anzeige, Sachverhaltsdarstellung, Haftbefehl und Fahndungsausschreibungen betreffend das Fluchtvorbringen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person und Lebensumständen Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, wurde am XXXX in XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Ghazni geboren und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch Englisch und Deutsch auf zumindest A2 Niveau.

Der Beschwerdeführer wuchs im Geburtsdorf im Haushalt seiner Eltern auf und besuchte etwa acht Jahre die Schule. Sein Vater arbeitet als Taxifahrer.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Die Familie des Beschwerdeführers, bestehend aus seinen Eltern und zwei minderjährigen Schwestern lebte zuletzt noch im Herkunftsdorf des Beschwerdeführers im eigenen Haus. Es kam im Herkunftsdistrikt zu bewaffneten Auseinandersetzungen, an denen auch der Vater des Beschwerdeführers teilnahm. Seither besteht kein Kontakt und der weitere Verbleib der Familie kann nicht festgestellt werden.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer besuchte im Herkunftsdistrikt in XXXX ab etwa April 2015 einen mehrere Monate dauernden Kurs mit männlichen und weiblichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, wo er ein Mädchen kennen lernte, mit dem er sich regelmäßig in den Pausen unterhielt und anfreundete. Eines Tages nach dem Kurs traf er sich mit dem Mädchen am Fluss, wo sie sich unterhielten, gemeinsam Saft tranken und sich schließlich küssten. Unerwartet tauchte der Vater des Mädchens auf, schlug, trat und beschimpfte den Beschwerdeführer und drohte, er werde ihn umbringen. Das Mädchen lief davon, woraufhin dessen Vater vom Beschwerdeführer abließ, um seine Tochter zu verfolgen. Der Beschwerdeführer flüchtete daraufhin vom Ort des Geschehens, rief seinen Vater an und schilderte ihm den Vorfall. Der Vater organisierte für den Beschwerdeführer ein Taxi nach XXXX , wo er den Beschwerdeführer am Folgetag traf, sich den Vorfall schildern ließ und den Beschwerdeführer schlug, weil er die Familienehre beschmutzt hätte. Von der Mutter des Beschwerdeführers brachte der Vater telefonisch in Erfahrung, dass der Vater des Mädchens mit der Polizei im Haus der Familie nach dem Beschwerdeführer gesucht und ständig gedroht habe, den Beschwerdeführer zu finden und zu töten. Der Beschwerdeführer und sein Vater fuhren daraufhin weiter nach XXXX , wo sie sich abermals ein paar Tage aufhielten und telefonisch von der Mutter des Beschwerdeführers erfuhren, dass die Polizei abermals das Haus durchsucht habe und Unterlagen vorgezeigt habe, wonach der Vater des Mädchens den Beschwerdeführer bei Polizei, Gerichten und religiösen Stellen angezeigt habe. Daraufhin organisierte der Vater des Beschwerdeführers die Ausreise des Beschwerdeführers nach Europa.

Dem Beschwerdeführer drohen im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsdorf Übergriffe bis hin zur Tötung durch den Vater des Mädchens. Dass der afghanische Staat den Beschwerdeführer vor diesen Übergriffen schützt, ist nicht zu erwarten.

Im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat hat der Beschwerdeführer außerdem mit staatlicher Strafverfolgung und Bestrafung bis hin zur Todesstrafe durch Steinigung zu rechnen, weil er gegen islamische Rechtsvorschriften verstoßen hat.

Mit einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren aufgrund der gegen ihn gerichteten Vorwürfe kann der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr nicht rechnen. Während einer möglichen Haft drohen dem Beschwerdeführer Misshandlungen und Folter.

Der Beschwerdeführer kann sich dem Zugriff durch die afghanische Polizei nicht durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen.

1. 3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand: 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2018:

[...]

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, währed 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).

Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

[Quellen: siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018 mit integrierter Kurzinformation vom 23.11.2018, Kapitel 4. Rechtsschutz / Justizwesen]

6. Folter und unmenschliche Behandlung durch den afghanischen Staat

Laut den Artikeln 29 und 30 der afghanischen Verfassung ist Folter verboten. Aussagen und Geständnisse, die durch Zwang erlangt wurden, sind ungültig (AA 9.2016; vgl. MPI 27.1.2004, AA 5.2018). Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) (UNAMA 15.2.2018). Am 22. April 2017 genehmigte die afghanische Regierung ein neues Anti-Folter-Gesetz und erweiterte das im ursprünglichen Strafgesetzbuch enthaltene Folterverbot. Das neue Gesetz bezieht sich jedoch nur auf Folterungen, die im Rahmen des Strafrechtssystems erfolgt sind, und nicht eindeutig auf Misshandlungen, die von militärischen sowie anderen Sicherheitskräften verübt werden (USDOS 20.4.2018). Fehlende Regelungen zur Entschädigung von Folteropfern wurden im August 2017 durch ein entsprechendes Addendum ergänzt (HRW 7.8.2017; vgl. HRW 18.1.2018).

Trotz dieser Vorgaben gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlungen durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Gefängnispersonal und Polizei. Quellen zufolge wenden die Sicherheitskräfte weiterhin exzessive Gewalt an, einschließlich Folter und Gewalt gegen Zivilisten (USDOS 20.4.2018). Personen, die im Rahmen des bewaffneten Konflikts festgenommen wurden, werden insbesondere während des ersten Verhörs gefoltert, um Geständnisse zu erhalten, (USDOS 20.4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 4.2017).

Im Zuge einer Befragung gaben für den Zeitraum 1.1.2015 - 31.12.2016 181 (39%) von 469 befragten Personen an, von den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften (ANDSF) gefoltert worden zu sein. Auch 38 (45%) von 85 befragten Kinder gaben an im Berichtszeitraum Opfer von Folter oder Missbräuchen geworden zu sein. Die meisten Misshandlungen fanden unter der Obhut des National Directorate of Security (NDS) und der afghanischen Nationalpolizei statt (ANP) (UNAMA/OHCHR 4.2017).

Zwei Jahre nach der Verlautbarung des Nationalplans von 2015 zur Eliminierung der Folter durch die afghanische Regierung, hat diese einige dauerhafte Fortschritte gemacht, insbesondere auf der Gesetzesebene. Zahlreiche im Nationalplan eingegangene Hauptverpflichtungen wurden jedoch nur teilweise verwirklicht (UNAMA/OHCHR 4.2017).

[Quellen: siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018 mit integrierter Kurzinformation vom 23.11.2018, Kapitel 6. Folter und unmenschliche Behandlung durch den afghanischen Staat]

10. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5.2018).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen "moralischer Straftaten") und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen (USDOS 20.4.2018). Regierungsfreundlichen Kräfte verursachen eine geringere - dennoch erhebliche - Zahl an zivilen Opfern (AI 22.2.2018).

Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage (AA 5.2018). Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (AA 5.2018). Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen operieren in der Regel ohne staatliche Einschränkungen und veröffentlichen ihre Ergebnisse zu Menschenrechtsfällen. Regierungsbedienstete sind in dieser Hinsicht einigermaßen kooperativ und ansprechbar (USDOS 20.4.2018). Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Afghanistan Independent Human Rights Commission AIHRC bekämpft weiterhin Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte, das Komitee für Drogenbekämpfung, berauschende Drogen und ethischen Missbrauch sowie der Jusitz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 20.4.2018).

Im Februar 2016 hat Präsident Ghani den ehemaligen Leiter der afghanischen Menschenrechtskommission, Mohammad Fand Hamidi, zum Generalstaatsanwalt ernannt (USDOD 6.2016; vgl. auch NYT 3.9.2016).

Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

[Quellen: siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018 mit integrierter Kurzinformation vom 23.11.2018, Kapitel 10. Allgemeine Menschenrechtslage]

13. Haftbedingungen

Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (Mol), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).

Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi- Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u. a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).

Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).

Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).

Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018).

Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).

Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.2.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch die afghanischen Sicherheitskräfte und andere Akteure bis hin zur Entourage des ersten Vizepräsidenten, des Generals Abdul Rashid Dostum, berichtet (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln (USDOS 20.4.2018). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 20.4.2018; vgl. BTI 2018). Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsuntersuchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Anm.: Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 20.4.2018).

Weiterführende Informationen diesbezüglich können dem Kapitel 6. "Folter und unmenschliche Behandlung" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

[Quellen: siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018 mit integrierter Kurzinformation vom 23.11.2018, Kapitel 13. Haftbedingungen]

14. Todesstrafe

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 5.2018). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, sieht die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen usw. vor (MoJ 15.5.2017: Art. 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.5.2017: Art. 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AA 5.2018).

Die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen wurde durch den neuen Kodex signifikant reduziert (HRC 21.2.2018). So ist bei einigen Straftaten statt der Todesstrafe nunmehr lebenslange Haft vorgesehen (AI 22.2.2018).

Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch). Berichten zufolge wurden im Jahr 2017 elf Menschen zu Tode verurteilt (AA 5.2018). Im November 2017 wurden fünf Männer im Pul-e-Charki-Gefängnis hingerichtet (AI 22.2.2018; vgl. HRC 21.2.2018). Des Weiteren fand am 28.1.2018 die Hinrichtung von drei Menschen statt. Alle wurden aufgrund von Entführungen und Mord zum Tode verurteilt. Zuvor wurden 2016 sechs Terroristen hingerichtet (AA 5.2018). Im Zeitraum 1.1 - 30.11.2017 befanden sich weiterhin 720 Person im Todestrakt (HRC 21.2.2018).

In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können. Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiter Todesurteile vollstreckt werden (AA 5.2018).

[Quellen: siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018 mit integrierter Kurzinformation vom 23.11.2018, Kapitel 14. Todesstrafe]

Auszug aus dem ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?); Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes [a-8230] vom 27.12.2012:

Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) schreibt in einem Bericht vom März 2007, dass junge Mädchen und Jungen, die von zu Hause weglaufen, riskieren würden, von ihren Familien getötet zu werden. Unter Berufung auf eine Studie der International Legal Foundation (ILF) aus dem Jahr 2004 führt UNODC das Beispiel tadschikischer und paschtunischer Gemeinschaften in einigen Provinzen Nordafghanistans an. Dort würden die Familien in Betracht ziehen, ihr eigenes Kind zu töten, wenn dieses sein Zuhause freiwillig verlasse und im Haus einer anderen Familie unterkomme. Wenn ein Junge gemeinsam mit einem Mädchen wegliefe, seien vermutlich beide dem Risiko ausgesetzt, von ihren Familien getötet zu werden. Es müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass das Mädchen am härtesten bestraft werde, vor allem, wenn außerehelicher Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. Der Verlust ihrer Jungfräulichkeit bedeute für ihre Familie eine große Schande. Obwohl Weglaufen im Strafgesetzbuch nicht als Verbrechen definiert sei, würden Mädchen und Jungen, die von zu Hause weglaufen, festgenommen und manchmal inhaftiert:

[...]

Im selben Bericht führt UNODC an, dass eine Frau, die gemeinsam mit einem Mann flüchtet, der sexuellen Beziehung außerhalb der Ehe (Zina) beschuldigt werde, bis bewiesen sei, dass kein Geschlechtsverkehr zwischen ihr und dem Mann stattgefunden habe. Der Unschuldsbeweis hänge von einem Jungfräulichkeitstest ab. Laut einem 2004 erschienenen Bericht von Medica Mondial könne die Frau, wenn sie keinen Ehebruch begangen habe, wegen Khelwat-e-sahiha beschuldigt werden. Khelwat-e-sahiha bezeichne eine Situation, in der sich ein Mann und eine Frau ohne Anwesenheit anderer Personen am selben Ort befänden. Dies werde zwar vom Strafgesetzbuch nicht als Straftat angesehen, jedoch definiere die Hanafi-Rechtsprechung Khelwat-e-sahiha als Verbrechen:

[...]

In einem im Dezember 2010 veröffentlichten Bericht zu einer Fact-Finding-Mission nach Afghanistan im Oktober 2010 fasst das österreichische Bundesasylamt (BAA) die Aussagen verschiedener GesprächspartnerInnen folgendermaßen zusammen:

"Gemäß Scharia erfüllt der außer- und voreheliche sexuelle Kontakt den Tatbestand des Verbrechens ‚Zina' und ist demgemäß zu bestrafen; in der Praxis genügt jedoch bereits das Weglaufen einer Frau bzw. die Beschuldigung des (auch nicht sexuellen) Kontakts mit einem Mann, ohne mit diesem verheiratet zu sein. Dem Gesetz zufolge müssten für eine Verurteilung vier Personen diesen außerehelichen sexuellen Kontakt bezeugen, was in der Praxis aber unbeachtet bleibt. Mädchen, die der Zina beschuldigt werden, werden fallweise auf deren Jungfräulichkeit überprüft. Die Strafen variieren je nachdem, ob es sich um außerehelichen oder vorehelichen Geschlechtsverkehr handelt und welcher konkreten Handlung die Frau beschuldigt wird. Im Durchschnitt droht für dieses Verbrechen eine 4jährige Haftstrafe. Gemäß der Scharia können Frauen auch mit Steinigung bestraft werden. Im Sommer 2010 wurden etwa in Kunduz zwei Ehebrecherinnen wegen Zina zu Tode gesteinigt. Vor allem auf dem Land werden solche traditionellen Praktiken nach wie vor gelebt, auch mangels Durchsetzung der bestehenden Gesetze. Über die Anzahl der verdächtigten und tatsächlichen Ehebrüche existieren keine verlässlichen Zahlen. In absoluten Ausnahmefällen und lediglich in den Großstädten des Landes gäbe es für unverheiratete Paare, denen außerehelicher bzw. vorehelicher Kontakt zur Last gelegt wird, die Möglichkeit, durch eine nachträgliche Heirat einer harten Bestrafung zu entgehen, sofern sie vor dem Richter ihre Heiratsabsicht kundtun. Auch in diesen Fällen würde dem Paar ein vorübergehender Gefängnisaufenthalt - der auch Jahre dauern kann - nicht erspart bleiben und hängt die Entscheidung vom Ermessen des Richters ab."

(BAA, Dezember 2010, S. 27-28)

Die Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC) schreibt in einem Bericht vom Dezember 2008, dass Weglaufen von keinem afghanischen Gesetz als Verbrechen oder Verstoß eingestuft werde. Allerdings werde dieses Thema von Gerichten unterschiedlich gehandhabt. Viele Gerichte würden Weglaufen als Verbrechen behandeln. Dies liege in der Überzeugung begründet, dass eine Frau ihr Haus nicht ohne Mahram (männliche verwandte Begleitperson) verlassen dürfe. Bei diesem werde angenommen, dass er nicht Zina (vor- bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr) mit der Frau begehen werde. Paare, die von zu Hause weglaufen um zu heiraten, würden oft inhaftiert. Der Mann werde wegen Entführung und die Frau wegen Zina angeklagt. Dies widerspreche Artikel 425 des afghanischen Strafgesetzbuches von 1976.

Anklagen gegen Frauen, die von zu Hause weglaufen, um einer Zwangsheirat zu entkommen, seien hinsichtlich des Schutzes der Familie von besonderer Bedeutung. Die Mehrheit dieser Fälle werde nach traditionellen Praktiken entschieden, die manchmal im Gegensatz zum Zivilrecht stünden. In einem Fall aus dem Jahr 2006 sei eine 19-jährige Frau aus Samangan von zu Hause weggelaufen, um einen Mann zu heiraten. Das Paar sei von der Polizei gefunden und verhaftet und von einem Richter wegen vorehelichem Sex zu jeweils 18 Monaten Haft verurteilt worden. Dem Paar wurde nicht erlaubt zu heiraten:

[...]

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum LandInfo berichtet im Mai 2011, dass es Beispiele von weggelaufenen Paaren gebe, die nach Verhandlungen in oder Entscheidungen durch lokale Räte (Shura/Jirga) erfolgreich reintegriert worden seien. Gleichzeitig sei es jedoch klar, dass weggelaufene Paare nicht nur der Gefahr von Sanktionen durch die eigenen Familien, sondern auch von Reaktionen seitens lokaler Machthaber und Gerichte ausgesetzt seien. Im August 2010 habe Amnesty International (AI) von einer Steinigung eines Paares in einem von den Taliban kontrollierten Dorf in Kunduz berichtet. Das Paar sei zunächst nach Pakistan geflüchtet, nach einer Einigung zwischen den Familien allerdings in das Dorf zurückgekehrt. Nichtsdestotrotz sei es anschließend von einem lokalen Talibanrat zum Tod durch Steinigung verurteilt worden:

[...]

In einem im Mai 2012 veröffentlichten Bericht zu einer Fact Finding Mission nach Afghanistan schreibt das Danish Immigration Service (DIS) unter Berufung auf Angaben der Lawyers Union of Afghanistan (LUA), dass eine vor- bzw. außereheliche Beziehung zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau eine ernste Verletzung der Familienehre, und insbesondere der Ehre der Familie der Frau, darstelle. Die Familie der Frau könne damit drohen, sowohl ihre eigene Tochter als auch den Mann und seine Familie zu töten, unabhängig davon, ob es sich bei der vor- bzw. außerehelichen Beziehung um eine sexuelle oder eine rein freundschaftliche gehandelt habe. Gegen den Mann gerichtete Drohungen könnten sich ausweiten und zu Drohungen zwischen den Familien führen. Wenn es sich bei dem Vater der Frau um einen Warlord handele, hätten Drohungen ernste Konsequenzen. Sei die Beziehung sexueller Natur gewesen, sei sogar das Leben des Paares in Gefahr. Laut LUA gebe es viele Ehrverbrechen in Afghanistan, und in manchen Fällen seien sowohl die Frau als auch der Mann getötet worden. In einigen Gebieten komme es in diesen Fällen, ohne Einschaltung eines Gerichts, zur Steinigung:

[...]

Im selben Bericht äußert sich UNHCR zu der Frage, mit welchen Konsequenzen ein junger Mann rechnen müsse, der eine außereheliche Beziehung mit einer jungen Frau geführt habe. Laut UNHCR sei diese Situation sowohl für den Mann als auch für seine Familie gefährlich. Wenn es innerhalb der Familie der Frau eine einflussreiche Person gebe, deren Ruf und Ehre bedroht sei, sei die Gefahr sogar noch größer.

Einer unabhängigen Forschungseinrichtung in Kabul zufolge seien es vor allem junge Frauen, die Ehrenmorden zum Opfer fallen, wenn mit Ehre in Verbindung stehende Konflikte nicht auf friedliche Art und Weise gelöst würden. Für junge Männer sei es einfacher, das Gebiet zu verlassen und anderswo zu leben.

Laut AIHRC würde die Familie der Frau das Problem häufig durch eine Heirat lösen. Allerdings würden Familien mit hohem Status keine Heirat zwischen ihrer Tochter und einem jungen Mann mit niedrigerem Status akzeptieren. Bei einer interethnischen Beziehung sei es sogar noch schwieriger. Häufige Konsequenzen einer vor- bzw. außerehelichen Beziehung seien die Tötung des Mannes, die Verstümmelung seines Körpers, gegen ihn gerichtete harte Schläge oder seine Inhaftierung aufgrund von Entführungsvorwürfen. In einem Fall sei ein junges Paar, das nach Pakistan geflüchtet sei, von den Familien überredet worden, zurückzukehren. Nach der Rückkehr des Paares sei der Mann wegen Entführung angeklagt und inhaftiert worden:

[...]

Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes

In einem im März 2011 vom Afghanistan Analysts Network (AAN) veröffentlichten Bericht über das Paschtunwali, den Ehrenkodex der Paschtunen, schreibt Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, dass Rache von den patrilinearen Verwandten der verletzten, getöteten oder auf andere Weise geschädigten oder entehrten Person verübt werden könne. Dabei könne sich die Rache gegen den Täter selbst oder gegen einen seiner patrilinearen Verwandten richten:

[...]

In einer älteren ACCORD-Anfragebeantwortung vom April 2005 findet sich folgende Expertenauskunft des damaligen Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Afghanistan (AGA), Dr. Bernt Glatzer:

"Nach Angaben des wegen untenstehender Fragestellung (Tötung zur Vermeidung von Blutrache) kontaktierten Afghanistan-Experten (Dr. Bernt Glatzer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Afghanistan, AGA) werde vorehelicher Geschlechtsverkehr von der Familie der Frau als Ehebruch aufgefasst. Die Familie sieht sich als Opfer, selbst wenn sie die Freundin (also ihre eigene Tochter) durch deren Bruder ermorden lassen habe. Da sie des ‚Ehebrechers' nicht habhaft wurde, sei es auch nicht ungewöhnlich, stattdessen dessen Bruder zu töten. Der ‚Ehebrecher' sei dann allerdings auch selbst noch weiterer Gefahr ausgesetzt. In diesem Falle müsste es die Familie der Freundin/Tochter sein, die das Streitschlichtungsverfahren (siehe hierzu weiter unten) initiiert, nicht die Familie des ‚Ehebrechers' [...]." (ACCORD, 8. April 2005)

In seinem oben erwähnten Bericht vom Mai 2012 beruft sich das Danish Immigration Service (DIS) auf Angaben der All Afghan Women's Union (AAWU), der zufolge die Reaktion der Familien auf vor- bzw. außereheliche Beziehungen von deren sozialem und Bildungshintergrund abhänge. Wenn die Frau einer gebildeten Familie entstamme, werde diese den Mann zuerst warnen und auffordern, die Frau nicht länger zu treffen. Außerdem werde die Familie der jungen Frau nicht erlauben, das Haus zu verlassen. Sollte die Beziehung dennoch anhalten, werde die Familie den jungen Mann zusammenschlagen lassen. Gehöre die Frau einer ungebildeten Familie an, könne es mit der Tötung des Mannes enden. Laut AAWU würden fanatische Familien sogar andere Mitglieder der Familie des jungen Mannes töten, oder die Familie des Mannes müsse der anderen Familie ein Mädchen als Kompensation übergeben. Dieses Mädchen laufe Gefahr, der anderen Familie als "Sklavin" dienen zu müssen:

[...]

Thomas Barfield, Anthropologe an der Universität Boston, schreibt in einem 2003 vom US Institute for Peace (USIP) veröffentlichten Bericht über das traditionelle Rechtssystem in Afghanistan, dass Rache (badal) ein Mittel sei, durch das eine Person persönliche Gerechtigkeit für gegen sie oder ihre Familie verübtes Unrecht ("wrongs") anstreben würde. Vergeltung als Recht und Erwartung stehe als ein nicht-staatliches Rechtssystem im Zentrum des Paschtunwali, des Verhaltenskodexes für Paschtunen. Laut Barfield führe Mord zur stärksten Forderung nach persönlicher Blutrache. Die Rache solle sich bestenfalls nur gegen den Mörder selbst richten, allerdings sehe das Paschtunwali unter bestimmten Voraussetzungen vor, dass Brüder und andere patrilineare Verwandte zu legitimen Ersatzzielen der Rache werden. Frauen und Kinder kämen unter keinen Umständen als Ziele in Frage:

[...]

Barfield führt weiters an, dass sexuelles Fehlverhalten drastische Konsequenzen nach sich ziehe, da es als Verletzung der Familienehre angesehen werde. Die paschtunische Tradition nehme solche Verstöße so ernst, dass der Familie eines Opfers von Ehebruch, Entführung oder Vergewaltigung das Recht zugestanden werde, sieben Angehörige der Familie des Täters zu töten.

Ehebruch werde durch die Tötung sowohl des Mannes als auch der Frau bestraft, wenn diese in flagranti entdeckt würden. Solche Ehrenmorde könnten auch stattfinden, wenn eine unverheiratete Frau ohne die Zustimmung ihrer Familie mit einem Mann weglaufe. Das Paar könne später versuchen, die Situation durch Entschädigungszahlungen (pour) sowie zwei Schafe als "Schamgeld" zu regeln. Die Familie des Mannes müsse außerdem der geschädigten Familie zwei Frauen zur Heirat übergeben:

[...]

[Quellen: siehe ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan:

Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?); Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes [a-8230] vom 27.12.2012, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/1053322.html, Zugriff durch das BVwG am 22.02.2019]

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie seinen Lebensumständen im Herkunftsstaat ergeben sich aus seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch die belangte Behörde ging in ihrem Bescheid bereits von der Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers aus. Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen ergibt sich aus dem vorgelegten Zertifikat für das Niveau A2 nach dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Zusätzlich war im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.12.2018 eine umfassende Verständigung mit dem Beschwerdeführer in deutscher Sprache möglich.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

Die Feststellungen zum Verbleib der Familie des Beschwerdeführers ergibt sich aus dessen Angaben im Zuge der mündlichen Verhandlung, die sich unter Berücksichtigung der jüngsten Kämpfe in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (wie sie sich aus dem vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Berichten ergeben) als plausibel erweisen.

2.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zum fluchtauslösenden Vorfall stützen sich im Wesentlichen auf die vom Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seiner Einvernahme am 24.11.2016 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.12.2018 getroffenen Aussagen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer auch in seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Fluchtgrund befragt bereits angegeben hat, dass er wegen seines Kontaktes zu einem Mädchen von dessen Vater mit dem Tode bedroht werde.

Der Beschwerdeführer schilderte dabei durchgehend, weitgehend stringent und im Kern gleichbleibend den festgestellten Ereignisablauf. Insbesondere erzählte er seine Fluchtgeschichte in flüssiger und selbstgeleiteter Erzählung, nennt umfangreiche Details, die sich zu einem konsistenten, umfassenden Bild der Gesamtsituation zusammenfügen und antwortet auch auf Nachfrage stets plausibel, detailliert und nicht ausweichend. Auch die im Lauf der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.12.2018 im Zuge der Schilderung des fluchtauslösenden Vorfalles erkennbare Gemütsregung und die lebendigen und lebensnahen Schilderungen des Beschwerdeführers tragen zum starken Eindruck einer hohen persönlichen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers bei.

Nach § 18 Abs. 3 AsylG ist bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers auch auf die Mitwirkung im Verfahren Bedacht zu nehmen, wobei § 15 AsylG Mitwirkungspflichten im Verfahren normiert. Hierzu ist insbesondere auszuführen, dass Verletzungen der Mitwirkungspflicht durch den Beschwerdeführer nicht aktenkundig sind, sondern aus dem Akt viel mehr hervorgeht, dass der Beschwerdeführer seinen Mitwirkungspflichten im Verfahren umfassend nachgekommen ist und etwa zeitgerecht und aus eigener Initiative verfahrensrelevante Dokumente vorgelegt hat. Daraus ergibt sich das Bild eines gewissenhaften Antragstellers, der auch dadurch den gewonnenen Eindruck persönlicher Glaubwürdigkeit zu verstärken vermag.

Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in ständiger Rechtsprechung auch eine besondere Berücksichtigung der Minderjährigkeit eines Asylwerbers bei der Beweiswürdigung und Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen. Insbesondere ist die Dichte des Vorbringens nicht mit "normalen Maßstäben" zu messen und muss aus der Entscheidung erkennbar sein, dass darauf und auch auf den Blickwinkel, aus dem die Schilderung der Fluchtgründe erfolgt, Bedacht genommen wurde. Demnach bedarf es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung (zuletzt VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0150 m.w.N.). Fallbezogen war der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Vorfalles etwa 14 Jahre alt wobei seiner Erzählung gemessen an seinem jugendlichen Alter im Zeitpunkt der Erlebnisse eine hohe Dichte sowie ein großer Detailgrad und große Stringenz zukommt.

Selbst die belangte Behörde gesteht zu, die Darstellung des Beschwerdeführers von der gegen ihn ausgeübten Gewalt wäre nachvollziehbar und detailgenau gewesen, verneint aber einen sachlichen Zusammenhang mit dem behaupteten Kontext (angefochtener Bescheid S. 122 bzw. AS. 404) insbesondere anhand von Spekulationen zu Traditionsbewusstsein, Handlungssteuerung im Affekt und Persönlichkeit des Vaters des Mädchens sowie der hypothetischen Auslastung der afghanischen Sicherheitsbehörden und

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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