Entscheidungsdatum
01.02.2019Norm
AsylG 2005 §15Spruch
W191 2183667-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Frau XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.12.2017, Zahl 1146953508-170373564, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.12.2018 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), Frau XXXX , geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX , geboren am XXXX (BF2), und ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder XXXX , geboren am XXXX (BF3), XXXX , geboren am XXXX (BF4), und XXXX , geboren am XXXX (BF5), reisten irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellten, die minderjährigen Kinder gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, am 26.03.2017 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Die BF6, XXXX , wurde am XXXX in XXXX als weiteres Kind der BF (Österreich) geboren. Auch für sie wurde von ihrer gesetzlichen Vertreterin am 21.08.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren gestellt.
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass die BF am 22.03.2016 in Chios (Griechenland) und am 24.03.2017 in Bmhroszke (Ungarn) erkennungsdienstlich behandelt worden waren.
1.2. In ihrer Erstbefragung am 27.03.2017 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien gaben die BF1 und der BF2 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen übereinstimmend Folgendes an:
Sie hätten zuletzt in Kabul gelebt - die BF1 stamme aus der Provinz Parwan und der BF2 aus der Provinz Kabul, Distrikt Qarabach -, seien Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitische Moslems und miteinander verheiratet.
Ihre Reise hätten sie vor ca. 14 Monaten begonnen.
Als Fluchtgrund gaben die BF an, dass der BF2 ein Mädchen geliebt habe, das er nicht hätte heiraten dürfen. Diese hätte ihren Cousin geheiratet. Als dieser nach einiger Zeit von der Liebe seiner Frau zum BF2 erfahren hätte, hätte er sie, ihre Mutter und ihre Brüder getötet. Da er auch den BF2 hätte töten wollen, seien die BF geflüchtet.
1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte Konsultationen mit dem Mitgliedstaat Ungarn bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren der BF nach dem Dublin-Übereinkommen, die negativ verliefen.
1.4. Bei ihrer Einvernahme am 16.10.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich in Traiskirchen, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprachen Dari bzw. Farsi, bestätigten die BF1 und der BF2 die Richtigkeit ihrer bisher gemachten Angaben. Sie beantworteten Fragen zu ihren Lebensumständen und zu ihrem Vorbringen.
1.4.1. Die BF1 gab an, ihre Brüder hätten sie an die Familie ihres Mannes verkauft. Ihr Mann - wie auch ihre Schwiegereltern - habe sie in Afghanistan öfters geschlagen. Sie hätte nicht aus dem Haus gehen dürfen und ihr Mann habe sie oft mit einem Kabel geschlagen. Hier in Österreich habe er sich aber stark verändert und sei ein anderer Mensch geworden. Er schlage sie seit zwei Jahren nicht mehr, respektiere sie, und sie liebe ihn. Sie glaube, seine Familie habe einen großen Einfluss auf ihn (gehabt). In Afghanistan sei ihr Leben in Gefahr. In Österreich gehe es ihr gut und es gebe keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, alle seien nett.
Die Kinder gingen in Österreich bereits in den Kindergarten bzw. in die Schule, sie hätten keine eigenen Fluchtgründe. Ihr Mann bringe und hole die Kinder. Angemerkt wurde, dass die BF1 bei ihrer Einvernahme traditionell gekleidet war (zusammengebundene Haare, Schleier, lange Oberbekleidung und schwarze Hose).
1.4.2. Der BF2 machte - laut Niederschrift mit einem Dolmetsch für die Sprache "Farsi" - detaillierte Angaben zu seinen Lebensumständen und zu seiner Familie. Er legte die Tazkira (afghanisches Personaldokument) seines Vaters vor, seine eigene Tazkira sei ihm in Ungarn abgenommen worden. Sein Führerschein und sein Reisepass befänden sich bei seiner Familie in Kabul. Er habe ein gutes Geschäft für Baumaterial (Türen, Schlüssel etc.) geführt.
Bezüglich des angegebenen Vorfalles gab der BF2, an das getötete Mädchen sei seine Cousine und Jugendliebe gewesen. Der Täter sei wegen Tötung von vier Personen in Haft, habe aber noch drei Brüder, wovon einer, ein Polizist, den BF2 bedroht hätte. 40 Tage nach dem Begräbnis hätten die - telefonischen - Drohungen begonnen. Zur Polizei sei er nicht gegangen, weil der Bedroher selber Polizist sei und er Angst gehabt hätte.
Aus Angst vor Verfolgung seien sie geflüchtet.
Der BF2 gab weiters an, er habe seit elf Jahren psychische Probleme und starke Kopfschmerzen. Er stehe in regelmäßiger ärztlicher Behandlung.
Im Verfahren vor dem BFA wurden seitens der BF keine Beweismittel oder Belege für ihr Vorbringen vorgelegt.
1.5. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 07.12.2017 den Antrag der BF auf internationalen Schutz vom 26.03.2017 (BF1 bis BF5) bzw. 21.08.2017 (BF6) gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status von Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihnen nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen der BF sei unglaubhaft. Sie hätten keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung der BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihnen keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Die BF würden nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG erfüllen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe ihrRecht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass die BF bezüglich ihrer behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund ihrer Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu ihrem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wären. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Die BF hätten weder den Vorfall der Tötung der ehemaligen Freundin des BF2 noch ihr Vorbringen, dass der BF2 die BF1 in Afghanistan oft geschlagen habe, glaubhaft machen können. Die "nicht angenehmen" Lebensumstände in Kabul für die BF1 (als Frau) würden nicht die Intensität der Asylrelevanz erreichen.
1.6. Gegen diese Bescheide brachten die BF mit Schreiben ihres gewillkürten Vertreters vom 21.12.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen "unrichtigen Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung" ein.
In der Beschwerdebegründung wurde das Vorbringen der BF zusammengefasst wiederholt und moniert, dass der BF1 als "westlich orientierter" Frau nach der gängigen Judikatur Asyl zu gewähren sei. Sie wolle ein selbstbestimmtes Leben führen. Das BFA habe den Sachverhalt diesbezüglich nicht hinreichend ermittelt. Die Beweiswürdigung des BFA wurde kritisiert und weitwendig aus diversen Berichten zitiert.
Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
1.7. Das BVwG führte am 03.12.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der die BF im Beisein ihres gewillkürten Vertreters und einer Vertrauensperson persönlich erschienen. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gaben die BF1 und der BF2 auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari.
BF2: Ich spreche darüberhinaus auch Paschtu und Urdu.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für die BF?
D: Dari.
RI befragt BF, ob sie D gut verstehen; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF1: Ich habe seit ca. drei Jahren starke Schmerzen im Schulterbereich. Der Arzt hat mir dagegen Medikamente verschrieben, die ich derzeit nicht einnehme, weil ich meine Tochter stille. Ich hatte auch schon zehn Massagetermine.
BF2: Ich habe psychische Probleme, meistens Kopfschmerzen und werde ständig traurig. Ich nehme regelmäßig seit mehreren Jahren Medikamente (Antiepileptika und Antidepressiva), derzeit nehme ich Tropfen. Früher hatte ich öfter epileptische Anfälle, zuletzt vor eineinhalb Jahren.
[...]
Die BF haben bisher keine Bescheinigungsmittel zu ihrer Identität oder zu ihrem Fluchtvorbringen vorgelegt und haben auch heute keine bei sich. Sie haben eine Tazkira (afghanisches Personaldokument) des Vaters des BF2 in Kopie, Belege betreffend die Gesundheit des BF2 und Integrationsbelege vorgelegt.
Heute legen sie folgende weitere Bescheinigungsmittel zu ihrer Integration vor, die in Kopie zum Akt genommen werden:
Schulbesuchsbestätigungen der minderjährigen Kinder, ein Empfehlungsschreiben, Deutschkursbestätigungen, Bestätigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten von BF1 und BF2.
[...]
BF1: Wir haben vor ca. zehn Jahren zuhause geheiratet, mit einigen Personen aus unserer Verwandschaft.
RI: Haben Sie Kinder?
BF1: Vier.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF1: Nein, ich habe keine Schule besucht, weil meine Brüder mir es nicht erlaubt haben.
BF2: Auch ich habe keine Schule besucht, mein Bruder hat gearbeitet, und er sagte, dass ich auch arbeiten soll.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF2: Ich hatte ein Geschäft und habe Baumaterial verkauft.
BF1: Vor meiner Hochzeit sorgten meine Brüder für mich, sie erlaubten mir nicht zu arbeiten, ich musste immer zuhause sein, ich durfte nicht einmal das Fenster öffnen, um nach draußen zu schauen. Nach meiner Hochzeit sorgte mein Ehemann für mich.
RI an BF1: Möchten Sie in Österreich einmal arbeiten?
BF1: Ja, ich interessiere mich für die Arbeit als Frisörin.
RI: Wann glauben Sie wird das mit den Kindern gehen?
BF1: Sobald ich die Sprache lerne, werde ich arbeiten.
RI: Wird das mit den Kindern gehen?
BF1: Ja, warum nicht.
RI: Und wie werden Sie das mit den Kindern managen?
BF1: Wir würden das irgendwie zeitlich organisieren, wenn ich am Vormittag arbeite, wird mein Mann am Nachmittag arbeiten.
RI an BF2: Sehen Sie das auch so?
BF2: Ja.
RI: Wo haben Sie in Afghanistan gewohnt?
BF1: Wir lebten in der Stadt Kabul. Ich stamme aus XXXX , Provinz Parwan. Unsere Hochzeit wurde von unseren Müttern arangiert. Nachgefragt gebe ich an, dass meine Schwester mit einem Cousin meines Mannes verheiratet ist, und daher kannten sich unsere Mütter.
RI an BF2: Stimmt das?
BF2: Ja. Befragt gebe ich an, dass ich nicht genau weiß, wo ich geboren bin, aber seit meiner Kindheit lebten wir schon in der Stadt Kabul. Meine Eltern stammen aus dem Distrikt Qarabach, Provinz Kabul.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF1: Mein Vater hatte drei Frauen. Meine Mutter ist eine alte Frau. Ich habe einen leiblichen Bruder und vier Halbbrüder. Weiters habe ich eine Schwester, die im Iran lebt. Meine Mutter lebt in Helmand, und mein Vater ist verstorben, als ich verlobt war, acht Monate vor meiner Hochzeit, ca. im Jahr 2008, denn ich hatte zuerst eine Fehlgeburt.
BF2: Wo sich meine Familie jetzt aufhält, weiß ich nicht, im Moment habe ich keinen Kontakt. Ich telefoniere zu ab und zu mit meiner Mutter. Meine Familie wollte in den Iran gehen, sie wurden aber einmal auf dem Weg festgenommen und nach Herat abgeschoben. Jetzt wollen sie wieder einen Schlepper finden, um in den Iran zu gelangen. Unser Haus wurde in Brand gesetzt.
RI: Wann war das, dass Ihr Haus in Brand gesetzt wurde?
BF2: Vor ca. vier oder fünf Monaten.
RI an BF1: Woher wissen Sie das?
BF1: Mein Ehemann hat mit seiner Mutter gesprochen, und sie erzählte das. Seine Familie ist jetzt nach Herat gegangen in eine Schlepperunterkunft und wartet darauf, in den Iran gebracht zu werden.
RI: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?
BF2: Meine Tazkira wurde mir in Ungarn von den Behörden abgenommen. Meinen Reisepass, Führerschein, Heiratsurkunde und Wahlkarte aus Afghanistan habe ich bereits in Traiskirchen vorgelegt. Diese Unterlagen habe ich nach meiner Einvernahme nachgereicht.
Angemerkt wird, dass sich darüber - auch nach nochmaliger Nachschau - kein Vermerk in den Akten findet. Dies bestätigt auch der BFV [Vertreter der BF].
BF1: Ich hatte nie Dokumente.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?
BF: Wir haben in Österreich viele Bekannte, einer davon ist heute als Vertrauensperson anwesend.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF1: Ich verstehe Sie ein wenig.
BF2: Ich verstehe einiges.
RI stellt fest, dass der BF2 die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und holprig auf Deutsch beantwortet hat. Die BF1 tut sich schwerer.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ja, wir gehen beide wöchentlich einmal in einen Deutschkurs.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF1: Wir helfen mit bei diversen Vereinen, wir helfen Essen sammeln und verteilen, der BF2 repariert Fahrräder.
VP [Vertrauensperson]: Die BF1 hilft zusätzlich mit bei einer Stelle, die Kleider sammelt und verteilt.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?
BF1: Wir nehmen an örtlichen Festen teil, ich nehme afghanisches, von mir gekochtes Essen mit, wir nehmen auch an Konzertveranstaltungen sowie an Schulfesten in der Ortschaft teil.
BF2: Ich habe Fußball gespielt, bis ich mir den Fuß gebrochen habe.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint? Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.
BF: Ja, es stimmt alles.
RI an BF2: Sie haben gesagt, dass Sie diesen Mord bei der Polizei nicht angezeigt haben, weil der Cousin selber Polizist war. Wie passt das jetzt damit zusammen, dass er selber in Haft ist?
BF2: Unserer Dolmetscher war ein Iraner, er hat mich nicht ganz gut verstanden. Es war so: Die Getötete ist meine Cousine, sie ist die Tochter von meiner Tante väterlicherseits. Ihr Ehemann hat sowohl sie als auch meine Tante väterlicherseits, ihren Sohn und dessen Frau getötet.
RI wiederholt die Frage.
BF2: Meine Cousine XXXX und ich liebten uns seit unserer Kindheit. Als Erwachsener schickte ich meine Mutter zu XXXX Familie, um um ihre Hand für mich anzuhalten. Doch ihre Familie lehnte diese Bindung ab. XXXX wurde dann mit ihrem Cousin väterlicherseits, welcher in Pakistan lebte, verheiratet, und ich wurde von meiner Mutter mit meiner jetzigen Frau verheiratet. Auch nach der Hochzeit hatte ich immer Kontakt mit XXXX , wir haben uns getroffen und auch telefoniert. Wir wurden eines Tages dann von ihrem Ehemann gesehen. Zwei Brüder von XXXX mit den Namen XXXX und XXXX waren beide als Polizisten tätig. Der Ehemann von XXXX tötete dann XXXX und seine Ehefrau XXXX und ihre Mutter. Ihr Bruder XXXX bedrohte mich dann, weil er der Meinung war, dass ich für die Tötung seiner Familienmitglieder verantwortlich bin, weil ich ein Verhältnis mit XXXX hatte. Über diese Vorfälle gab es auch vom afghanischen Sender Mili-Fernsehen einen Bericht. Der Ehemann von XXXX wurde dann anschließend von der Regierung mitgenommen und eingesperrt.
RI: Wann war die Straftat?
BF2: Es war vor ca. zweieinhalb Jahren.
RI: Wieso haben Sie dann Ihre Frau geheiratet, wenn Sie eigentlich Ihre Jugendliebe hätten heiraten wollen?
BF2: In Afghanistan ist das so, die Verlobung und Hochzeit werden von der Familie arrangiert, meine Mutter hat das gemacht, ohne mich zu fragen.
RI: Wie gehen Sie beide heute damit um?
BF2: Ich bin jetzt glücklich.
BF1: In Afghanistan hatte ich viele Probleme, ich wurde auch geschlagen, jetzt sind wir glücklich.
RI an BF2: Haben Sie sie wirklich mit einem Kabel geschlagen?
BF2: Ja.
BF1: In Afghanistan hat mich mein Ehemann viel geschlagen, aber hier hat er sich sehr geändert. Ich fragte ihn, warum er mich in Afghanistan so viel geschlagen hat und er sagte, dass seine Eltern und seine Brüder ihn aufgehetzt haben und ihm gesagt haben, dass er mich schlagen soll und nicht aus dem Haus lässt. Auch sein älterer und jüngerer Bruder hat mich geschlagen, z.B. wegen des Essens und auch wenn sie der Meinung waren, dass ihre Kleidung nicht richtig gebügelt war. Seitdem ich hier bin, weiß ich, dass ich auch ein Mensch bin.
RI: Wer hat das Haus in Brand gesetzt?
BF2: Mein Cousin XXXX .
RI: Haben Sie über diese ganzen Vorfälle irgendwelche Belege?
BF2: Nein, außerdem gibt es dort jetzt niemanden mehr, der es mir nachschicken könnte.
RI: Gehen Sie in Österreich auch alleine auf die Straße?
BF1: Ja, ich gehe Einkaufen, ich gehe mit meinen Kindern raus. Montags und dienstags helfe ich beim Adra, manchmal auch, wenn ich Zeit habe, am Donnerstag. Ich treffe mich auch mit Freunden. Wenn ich am Vormittag dorthin gehe, nehme ich meine kleine Tochter auch mit, aber am Nachmittag nicht.
Ri an BF2: Sind Sie damit einverstanden?
BF2: Ja, hier sind Männer und Frauen gleichberechtigt.
BF1: Ich bin jetzt sehr glücklich mit ihm.
RI befragt VP, der dieses Vorbringen bestätigt.
Angemerkt wird, dass die BF1 eine blaue Jeans mit einer blaukarrierten Bluse und Stiefeletten trägt. Sie trägt auch Schmuck und ist leicht geschminkt. Sie trägt die Haare ohne Kopftuch und hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
RI: Seit wann tragen Sie kein Kopftuch mehr?
BF1: Seit wir vor ca. vier Monaten von XXXX nach XXXX übersiedelt sind. Ich habe jetzt viele Kontakte zu Österreichern und habe mich jetzt so verändert. In Afghanistan war ich wie eine Gefangene, und jetzt möchte ich ein freies Leben haben.
RI an BF2: Ist Ihnen das recht?
BF2: Ja.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens der BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben der BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
Seitens der Parteien erfolgt keine Stellungnahme und es wird auch keine Frist für eine schriftliche Stellungnahme beantragt.
[...]
RI befragt BF, ob sie D gut verstanden haben; dies wird bejaht.
[...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung der BF1 und des BF2 am 27.03.2017 und ihrer Einvernahmen vor dem BFA am 16.10.2017 sowie die Beschwerde vom 21.12.2017
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.09.2017 zu Afghanistan, Frauen in urbanen Zentren, Aktenseiten 364 bis 500 im Verwaltungsakt der BF1)
* Einvernahme der BF1 und des BF2 sowie auch Rückfragen an die anwesenden minderjährigen BF und an die Vertrauensperson im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 03.12.2018 und Einsichtnahme in die im Beschwerdeverfahren sowie in der Verhandlung vorgelegten Belege zur Integration der BF (Deutschkursbestätigungen, Schulbesuchsbestätigungen, Bestätigungsschreiben bezüglich ehrenamtlicher Tätigkeiten, Empfehlungsschreiben) und zur Gesundheit des BF2
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Kabul, zur Lage der Frauen und Kinder und zur medizinischen Versorgung (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 23.11.2018)
o Berichte zur maßgeblichen Situation der Frauen in Afghanistan (Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018)
o Auszug aus einer Auskunft der SFH-Länderanalsyse vom 05.04.2017, zum Thema: "Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung"
o gutachterliche Stellungnahme von Mag. Zerka Malyar vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zahl W174 1436214-1, zu "Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan"
o eine Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 17.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde sowie
o Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 06.08.2013, zu "In Blutfehden verwickelte Personen" (inhaltlich im Wesentlichen gleichlautend mit den aktuellen Richtlinien vom 30.08.2018)
Die BF haben keine Beweismittel oder sonstigen Belege für das Fluchtvorbringen betreffend die Tötung der ehemaligen Freundin des BF2 vorgelegt.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person der BF:
3.1.1. Die BF führen die Namen XXXX , geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX , geboren am XXXX (BF2), und ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder XXXX , geboren am XXXX (BF3), XXXX , geboren am XXXX (BF4), XXXX , geboren am XXXX (BF5), und XXXX , geboren am XXXX (BF6).
Die BF sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Dari, der BF2 spricht darüber hinaus auch Paschtu und Urdu.
3.1.2. Lebensumstände:
Die BF1 stammt aus der Provinz Parwan und lebte seit ihrer arrangierten Ehe mit dem BF1 gemeinsam mit ihm in Kabul und führte den Haushalt.
Der BF2 stammt aus der Provinz Kabul, Distrikt Qarabagh, und lebte von klein auf in Kabul. Einige Zeit lebte er auch vorübergehend in Pakistan. Er führte ein Geschäft für Baumaterial (Türen, Schlösser etc.).
Die BF1 und der BF2 haben keine Schule in Afghanistan besucht, da ihre Brüder dies - aus verschiedenen Gründen - verhindert haben.
Die BF1 und der BF2 haben miteinander vier Kinder, wovon das jüngste in Österreich geboren worden ist.
3.1.3. Die BF verließen Afghanistan aus angegebenen Gründen und stellten in Österreich am 26.03.2017 sowie am 21.08.2017 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.
3.1.4. Die BF bemühen sich um ihre Integration in Österreich. Die BF1 und der BF2 besuchen Deutsch- und sonstige Kurse, haben Freund- und Bekanntschaften gefunden, nehmen an örtlichen sozialen und kulturellen Veranstaltungen teil, üben gemeinnützige Tätigkeiten aus (Kleider und Essen sammeln und verteilen, Fahrräder reparieren) und ihre Kinder gehen in die Schule bzw. den Kindergarten.
Die BF sind strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Die BF1 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert ist. In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die BF1 nach westlicher Mode und kann erstmals selbstbestimmt leben.
Sie trifft Freundinnen und Bekannte und nimmt an örtlichen Feierlichkeiten und Veranstaltungen teil. Sie lernt Deutsch und will in Zukunft selbst einer Erwerbstätigkeit (als Frisörin) nachgehen.
Die BF1 lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, wieder nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben. Ihre Einstellung und ihr Lebensstil stehen im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.
Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden und auch entsprechend verfestigten Änderung ihrer Lebensführung würde die BF1 im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.
3.2.2. Die BF haben das Vorbringen, dass der BF2 vom Bruder seiner Jugendfreundin, die - sowie auch andere Familienmitglieder - von deren Ehemann nach Erkennen der Verbindung zum BF2 getötet worden sei, bedroht werde, nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Für die minderjährigen BF wurden eigene Fluchtgründe nicht vorgebracht.
3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten auszuschließen wären.
3.2.4. Der BF2 ist der Ehemann, und die BF3 bis BF6 sind minderjährige Kinder der BF1 und leben mit ihr im gemeinsamen Haushalt.
Das BVwG gibt mit Erkenntnis mit heutigem Datum der Beschwerde der BF1 gegen den Bescheid des BFA vom 07.12.2017 statt, erkennt ihr gemäß § 3 Abs. 1 AsylG den Status der Asylberechtigten zu und stellt gleichzeitig gemäß § 3 Abs. 5 AsylG fest, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat der BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 23.11.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
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Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
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Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu bes