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40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §32 Abs3;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Puck und die Hofräte Dr. Baur und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Grubner, über die Beschwerde des Bundesministers für Inneres gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 24. August 1998, Zl. 204.607/0-II/28/98, betreffend Zurückweisung eines Asylantrages gemäß § 4 AsylG 1997 (mitbeteiligte Partei: AH, geboren am 16. November 1974, R-Gasse 7, Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Bangladesh, reiste am 23. Juli 1998 unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet ein und beantragte am 31. Juli 1998 die Gewährung von Asyl. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 31. Juli 1998 gemäß § 4 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76 (AsylG), als unzulässig zurück, weil der Mitbeteiligte in Ungarn Schutz vor Verfolgung gefunden habe. Der Mitbeteiligte erhob Berufung.
Die belangte Behörde gab gemäß § 32 Abs. 2 AsylG der Berufung statt, behob den bekämpften Bescheid des Bundesasylamtes und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines Bescheides an das Bundesasylamt zurück. Nach Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens und der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen vertrat die belangte Behörde die Ansicht, dem Konzept der "Drittstaatsicherheit" nach dem AsylG 1997 liege die Anforderung zugrunde, dass der Schutzbedürftigkeit eines potentiellen Flüchtlings effektiv und tatsächlich Rechnung zu tragen sei. Es komme darauf an, dass die Drittstaatsicherheit nicht nur theoretisch vorausgesetzt, sondern tatsächlich effektuierbar sei. Im Rahmen des § 4 AsylG sei also eine umfassende und zukunftsgerichtete Prognoseentscheidung darüber zu fällen, ob der Asylwerber im Drittstaat "Schutz vor Verfolgung finden könne". § 4 Abs. 3 AsylG entbinde die Behörde freilich nicht von ihrer Verpflichtung gemäß § 39 Abs. 2 AVG die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung von Amts wegen zu ermitteln, da die Regelvermutung erst bei Vorliegen der normierten Kriterien eintrete. Eine Beurteilung des Vorliegens der Rechtsbedingungen des § 4 Abs. 3 habe im Rahmen und im Lichte der im § 4 Abs. 1 geforderten Prognoseentscheidung hinsichtlich effektuierbarer Drittlandsicherheit zu erfolgen. Es sei insgesamt zu prüfen, "ob der Asylwerber zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über seinen in Österreich gestellten Antrag noch über die Möglichkeit verfüge, nunmehr von Österreich kommend im betrachteten Drittstaat Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 4 Abs. 1 bis 3 AsylG zu finden".
Das Bundesasylamt habe sich zwar ausführlich mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen für Asylsuchende in Ungarn auseinander gesetzt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Berufungsbehörde - wie auch dem Bundesasylamt - nach wie vor keine autorisierte Übersetzung des ungarischen Asylgesetzes zur Verfügung stehe, sowie angesichts der Tatsache, dass durchaus eine andere interpretative Praxis des ungarischen Asylgesetzes denkmöglich sei, sei es keineswegs als notorische Tatsache zu qualifizieren, dass einem aus Österreich zurückgebrachten Asylwerber in Ungarn nicht Art. 2 lit. e des ungarischen Asylgesetzes entgegengehalten und ihm so ein Asylverfahren versagt werde, weshalb von der Aufnahme von Beweisen zur Klärung dieser Frage nicht abgesehen werden könne. Die erstinstanzliche Behörde habe eine Erkenntnisquelle, auf welche ihre Ansicht beruhe, dass einem von Österreich nach Ungarn zurückgekehrten Asylwerber nicht Drittstaatsicherheit in Österreich entgegengehalten würde, nicht angegeben. Darüberhinaus könne nicht darauf verzichtet werden, ein derartiges Beweismittel (hier: das Ergebnis eines am 23. Juli 1998 auf hoher verwaltungsbehördlicher Ebene geführten Gespräches zwischen Vertretern des ungarischen und des österreichischen Innenministeriums) dem Asylwerber bekannt zu geben und ihm Gelegenheit einzuräumen, dazu innerhalb angemessener Frist Stellung zu nehmen. Ohne Kenntnis dieses Beweismittels sei es weder für den Asylwerber noch für die Berufungsbehörde nachvollziehbar, wie das Bundesasylamt zu seiner Ansicht über das ungarische Asylgesetz gelangt sei.
Auch sei das im § 4 Abs. 3 AsylG normierte Erfordernis "gesetzlich ein Asylverfahren entsprechend den Grundsätzen dieser Konvention eingerichtet" nicht ausschließlich von einem formalen Standpunkt aus zu betrachten. Es sei vielmehr - gerade angesichts des Umstandes, dass es sich im vorliegenden Fall um ein erst jüngst in Kraft getretenes Gesetz handle, über dessen Vollzug naturgemäß (noch) Unsicherheiten bestünden - grundsätzlich auch darauf abzustellen, ob der gesetzlich eingeräumte Rechtsschutz im Drittstaat durch die Vollziehung dieser Normen in aller Regel effektiv gewährleistet sei. Die Bejahung der Drittstaatsicherheit erfordere es in einem so gelagerten Fall daher, dass die Behörde auch Anstrengungen unternehme, sich vom Vollzug der Normen zu vergewissern.
Nun beziehe sich das Bundesasylamt zwar auf das Schreiben des UNHCR vom 14. Juli 1998, demzufolge keine konkreten ausreichend dokumentierten Fälle bekannt seien, dass Ungarn gegen die gesetzlichen Bestimmungen bei der Asylantragstellung von zurückgestellten Ausländern verstoße. Es sei aber darauf hinzuweisen, dass in diesem Schreiben auch darauf verwiesen werde, dass Amnesty International "allerdings jüngst den Fall eines Asylwerbers aus dem Kosovo präsentiert habe, der nach seinen Angaben nach Jugoslawien abgeschoben, dort misshandelt worden sei und sich derzeit wieder in Österreich befinde." Gerade durch einen solchen Hinweis und auch vor dem Hintergrund der Berichte der Asylkoordination Österreich und des Hungarian Helsinki Committee betreffend die Vollzugspraxis in Ungarn werde wohl das Erfordernis einer weiteren Ermittlung dahingehend ausgelöst, ob tatsächlich von Fehlern im Bereich des Vollzuges des ungarischen Asylgesetzes gesprochen werden könne und - wenn dies bejaht werden sollte - in welchem Verhältnis die bekannt gewordenen Fehler zur Gesamtzahl der abgewickelten Verfahren stünden. Denn nur auf Grundlage solcher Erhebungen könne im Sinne eines rechtsstaatlichen Verfahrens gesagt werden, ob es sich bei den aufgetretenen Mängeln um - in diesem Zusammenhang nicht relevante - Einzelerscheinungen in der ungarischen Vollzugspraxis handle oder ob die "Fehler" derart gehäuft auftreten, dass von "Drittstaatsicherheit" eines Asylwerbers in Ungarn nicht ausgegangen werden könne.
Im konkreten Fall vermöchten die bisher durchgeführten Ermittlungen und Feststellungen der Behörde erster Instanz betreffend die "Drittstaatsicherheit" des Asylwerbers in Ungarn den Spruch des angefochtenen Bescheides nicht zu tragen. Es sei daher mit einer Zurückverweisung der Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines Bescheides vorzugehen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, gemäß § 38 Abs. 5 AsylG zulässige Amtsbeschwerde des Bundesministers für Inneres mit dem Antrag, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben. Die belangte Behörde hat die Akten des Verfahrens vorgelegt und auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet.
Der Mitbeteiligte hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:
Der beschwerdeführende Bundesminister erblickt die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides darin, dass es die belangte Behörde verabsäumt habe, die von ihr festgestellten (angeblichen) Verfahrensmängel selbst zu sanieren und in Erwägungen bzw. Ermittlungen über die rechtliche und tatsächliche Lage eines Asylwerbers in Ungarn einzutreten. Erst im Falle einer mängelfreien Feststellung des Fehlens von Drittstaatsicherheit sei die belangte Behörde berechtigt, mit Bescheidkassation, die aber dann keinen Raum für eine neuerliche Zurückweisung des Asylantrages gemäß § 4 AsylG infolge Drittstaatsicherheit in Ungarn durch das Bundesasylamt gelassen hätte, vorzugehen.
Der Mitbeteiligte hatte während des Verwaltungsverfahrens geltend gemacht, in Ungarn würde trotz Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention kein Asylverfahren entsprechend den Grundsätzen der Flüchtlingskonvention eingerichtet sein, es bestünde für ihn kein Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens und es sei nach ungarischem Recht im Rahmen des fremdenpolizeilichen Verfahrens eine aufschiebende Wirkung einer Berufung jedenfalls ausgeschlossen. Der Aufenthalt bis zum Ende des zweitinstanzlichen (gerichtlichen) Asylverfahrens in Ungarn sei keinesfalls gewährleistet. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 20. September 1998 nennt der Mitbeteiligte sodann in diesem Zusammenhang den Fall der Abschiebung von sechs irakischen Asylwerbern von Ungarn nach Ägypten und Syrien und den Fall eines irakischen Asylsuchenden, der im Zeitpunkt der Erstattung des Schriftsatzes in unmittelbarer Gefahr seiner Abschiebung vor rechtskräftigem Abschluss seines Asylverfahrens gestanden sei. Darüberhinaus machte der Mitbeteiligte in diesem Schriftsatz geltend, die Berufungsbehörde habe, ungeachtet der Frist des § 32 Abs. 2 AsylG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Sache selbst zu entscheiden.
Die belangte Behörde hat richtig erkannt, dass zu einer mängelfreien Beurteilung, ob die Vermutung des § 4 Abs. 3 AsylG zutrifft und somit vom Zurückweisungsgrund des § 4 Abs. 1 AsylG Gebrauch gemacht werden kann, zunächst die Rechtslage im potentiellen Drittstaat ermittelt werden muss und zwar bezogen auf die individuelle Situation des konkreten Asylwerbers. Über die Ermittlung der Rechtslage hinausgehende, weitere Ermittlungen sind nur dann entbehrlich, wenn nicht begründete Zweifel an der Umsetzung einer grundsätzlich als "sicher" erkannten Rechtslage auftauchen, die das gesetzliche Wahrscheinlichkeitskalkül erschüttern. Solche Zweifel müssten etwa dann angenommen werden, wenn der Asylwerber substantiierte Behauptungen zu relevanten Rechtsverletzungen betreffend Personen in seiner Situation aufstellt oder wenn Berichte namhafter Organisationen auf dem Gebiet des Flüchtlingswesens vorliegen, die die Effektivität der ausländischen Rechtslage (auch für den betreffenden Asylwerber) in Frage stellen. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass der Mitbeteiligte sowohl in der Berufung als auch in seinem ergänzenden Schriftsatz vom 20. September 1998 derartige Behauptungen aufgestellt hatte. Ergänzende Ermittlungen zur faktischen Situation im Drittstaat haben derartigen Behauptungen zu folgen und die Prognoseentscheidung nach § 4 Abs. 1 AsylG ist auf ihrer Grundlage zu treffen (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 23. Juli 1998, Zl. 98/20/0175, sowie vom 11. November 1998, Zl. 98/01/0284).
Dem beschwerdeführenden Bundesminister ist aber insofern beizupflichten, als die belangte Behörde diese genannten Ermittlungstätigkeiten selbst durchzuführen gehabt hätte. Praktische Schwierigkeiten bei der Einhaltung der Frist des § 32 Abs. 3 AsylG bieten keine Rechtfertigung dafür, entgegen der Vorschrift des § 66 Abs. 4 AVG nicht in der Sache selbst zu entscheiden. Der vorliegende Fall gleicht insofern, als die belangte Behörde - im Übrigen diesbezüglich ohne jegliche Begründung - davon ausging, ihr stünde in einem Verfahren nach § 32 AsylG über eine Berufung gegen die Zurückweisung eines Asylantrages gemäß § 4 AsylG eine kassatorische Entscheidungsbefugnis zu, demjenigen, der dem hg. Erkenntnis vom 23. Juli 1998, Zl. 98/20/0175, zugrundelag. Auf das zuletzt zitierte Erkenntnis wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen. Aus den dort dargestellten Gründen war auch der vorliegende Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.
Wien, am 22. April 1999
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1999:1998200465.X00Im RIS seit
20.11.2000