Entscheidungsdatum
16.01.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W128 2196646-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN als Einzelrichter über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, gesetzlich vertreten durch das Amt der niederösterreichischen Landesregierung - Gruppe Gesundheit und Soziales - Koordinierungsstelle umF, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 24.04.2018, Zl. 1109888705-160456276, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.10.2018, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchteil I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchteil II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 16.01.2020 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der 2002 geborene Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste (spätestens) am 30.03.2016 illegal in das Bundesgebiet ein und brachte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz ein.
Dazu gab er zusammengefasst Folgendes an: Er stamme aus XXXX, Provinz Nangarhar. Afghanistan habe er verlassen, da sein Vater vom sogenannten islamischen Staat (IS) aufgrund seiner Tätigkeit bei der Organisation "ARD" mit dem Tod bedroht worden sei. Aus Angst um sein Leben und das seiner Familie, habe sein Vater sich Geld ausgeborgt und die Ausreise finanziert. Darüber hinaus habe er aufgrund des IS die Schule nicht mehr besuchen können. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst um das Leben seiner Familie.
2. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 09.03.2018 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei in XXXX geboren und aufgewachsen und habe sieben Jahre die Schule besucht. Sein Vater habe bei einer Organisation in Kabul gearbeitet und seine Mutter sei Hausfrau gewesen. Er habe gemeinsam mit seinen Eltern und drei Geschwistern in einem Mietshaus gelebt, ihre finanzielle Situation sei "mittelmäßig" gewesen. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan verlassen, da der IS seinen Vater drei bis viermal bedroht habe, weil dieser bei der Organisation IRD (eine amerikanische Organisation) als Koch gearbeitet habe. Eines Tages als sein Vater in die Arbeit gefahren sei, sei dieser vom IS angehalten und mitgenommen worden. Der IS habe "irgendwelche Informationen" von seinem Vater erlangen wollen. Hätte der IS den Dienstausweis seines Vaters gesehen, welchen er in seinen Schuhen versteckt habe, hätten sie ihn getötet. Sein Vater sei jedoch entkommen und anschließend nach Kabul zu seiner Arbeitsstelle gefahren. Auch sein älterer Bruder sei einmal angehalten worden; dieser habe seinem Vater über den Vorfall berichtet. Er wisse jedoch nicht, was damals vorgefallen sei. Der IS sei auch einmal bei seiner Familie zuhause gewesen und habe damals mit seinem älteren Bruder XXXX gesprochen. Der Beschwerdeführer wisse jedoch nicht, was sie besprochen hätten. Auch auf dem Schulweg seien seine Brüder vom IS angehalten und aufgefordert worden, sich dem IS anzuschließen. Im Falle einer Rückkehr würde er vom IS oder von den Taliban getötet werden.
In Österreich lebe er in einer Wohngemeinschaft mit seinem Bruder XXXX und anderen Asylwerbern. Weiters besuche er einen Deutschkurs.
Eine Schule besuche er derzeit nicht, da er keinen freien Platz bekommen habe. Seine Eltern und seine anderen Geschwister habe er auf der Flucht verloren. In Afghanistan befänden sich keine Verwandten mehr.
Weiters legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung über den Kurs "Baleh - Alphabetisierung/Deutsch (A1), Basisbildung und Mathematik für junge Flüchtlinge" der Caritas der Erzdiözese Wien vom 07.03.2018, eine Bestätigung über den Kurs "Baleh - Basisbildung für junge Flüchtlinge" der Caritas der Erzdiözese Wien vom 01.02.2018, ein Zertifikat für den Workshop "Demokratie in Österreich" der Caritas der Erzdiözese Wien vom 21.12.2017, eine Bestätigung für den Workshop "MEN" der Caritas der Erzdiözese Wien vom 15.11.2017, Deutschkursbestätigungen von "Deutschinstitut" vom 27.10.2016, 25.11.2016, 22.12.2016 und 30.01.2017, eine Schulbesuchsbestätigung der polytechnischen Schule XXXX vom Schuljahr 2015/2016, eine Schulnachricht der NMS XXXX vom Schuljahr 2016/2017, eine Schulnachricht der NMS XXXX vom Schuljahr 2016/2017 sowie zahlreiche Unterlagen betreffend die Tätigkeit seines Vaters bei der Organisation IRD, vor.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchteil I.) als auch des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchteil II.) ab. Unter einem sprach das BFA aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchteil III.), gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG und § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung erlassen werde (Spruchteil IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchteil V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchteil VI.).
Begründend führte das BFA Folgendes aus:
In seiner Begründung stellte das BFA zunächst fest, dass die Identität des Beschwerdeführers nicht feststehe. Der Beschwerdeführer sei afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei oder solche für die Zukunft zu befürchten habe.
Dem Beschwerdeführer drohe keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan: Der vorgebrachte Fluchtgrund, dass der Vater des Beschwerdeführers aufgrund seiner Tätigkeit bei der Organisation IRD mit dem Tod bedroht worden sei, sei unglaubwürdig. So habe der Beschwerdeführer im Zuge seiner Einvernahme einige Dokumente betreffend die Tätigkeit seines Vaters vorgelegt. Die Echtheit dieser Dokumente sei jedoch stark in Zweifel zu ziehen, weshalb davon ausgegangen werden müsse, dass dieses Vorbringen frei erfunden sei. Laut Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 26.01.2017 habe die Organisation IRD 2015 ihre Strukturen geändert und agiere sei 2016 unter dem Namen "Blumont" weiter. Ein Büro der IRD habe in Kabul bloß bis 2015 existiert. Auf der vorgelegten Anerkennungsurkunde (Certificate of Apprecetion) vom 14.04.2016, welche zu diesem Zeitpunkt in Kabul ausgestellt worden sei, befänden sich jedoch nach wie vor der IRD-Briefkopf und ein IRD-Stempel. Weiters werde die Tätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers bis 14.04.2016 bestätigt. Den Angaben des Beschwerdeführers zufolge, sei dieser jedoch gemeinsam mit der gesamten Familie Anfang 2016 ausgereist. Der Beschwerdeführer habe sich am 30.03.2016 bereits in Österreich befunden und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Aus diesen Gründen und aufgrund der Tatsache, dass es sich bei den Schriftstücken um teilweise sehr schlecht leserliche Kopien handle, stellten die vorgelegten Dokumente keinesfalls ein adäquates Beweismittel dar, um den geschilderten Sachverhalt bzw. die Tätigkeit des Vaters bei der IRD zu belegen. Darüber hinaus werde seine Unglaubwürdigkeit durch "einsilbige und informationsarme" Aussagen unterstrichen. So habe der Beschwerdeführer beispielsweise keinerlei Wissen über die Organisation IRD und er habe auch die Bedrohungen durch den IS nicht näher beschreiben können.
Zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr als arbeitsfähiger und junger (beinahe volljähriger) Mann mit Schulbildung selbst versorgen könne. Er könne in Kabul leben und seinen Lebensunterhalt bestreiten. Es bestehe keine sonstige, wie auch immer geartete, besondere Gefährdung des Beschwerdeführers in der Stadt Kabul. Kabul sei über den internationalen Flughafen erreichbar; weiters würde er mit seinem älteren Bruder XXXX nach Afghanistan zurückkehren. Es habe somit nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde, weshalb ihm kein subsidiärer Schutz zu gewähren sei.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen sei dem Beschwerdeführer nicht zu erteilen, da keiner der in § 57 AsylG genannten Gründe zutreffen würde.
Zur Rückkehrentscheidung sei festzuhalten, dass keine Integrationsfestigung festgestellt werden könne. Er sei gemeinsam mit seinem Bruder XXXX eingereist und habe mit diesem einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Darüber hinaus verfüge er im Bundesgebiet über keine weiteren Angehörigen. Der Aufenthaltsort seiner Eltern und seiner Geschwister sei ihm unbekannt. Der Beschwerdeführer besuche (derzeit) keine Schule und spreche unzureichend Deutsch. Er sei nicht berufstätig, befinde sich in der Grundversorgung und wohne in einer Unterkunft für Asylwerber. Es seien im gegenständlichen Verfahren auch keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die die Vermutung einer besonderen Integration in Österreich rechtfertigen würden. Darüber hinaus sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer sein bisheriges Leben im afghanisch/persischen Raum verbracht habe und daher mit den Gegebenheiten vor Ort in Afghanistan vertraut sei. Überdies sei der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der Köperverletzung gemäß § 83 StGB und der Entwendung gemäß § 141 StGB angezeigt worden. Auch wenn die Anzeigen bisher zu keiner rechtskräftigen Verurteilung geführt hätten, so ließen die Vorfälle erkennen, dass er den friedlichen Grundwerten in Österreich nicht folgen könne. Der Integrationswille des Beschwerdeführers sei daher nicht über die öffentlichen Interessen einer geordneten Zuwanderung zu stellen.
Eine Abschiebung nach Afghanistan sei zulässig, da keine der in Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte oder die Protokolle Nr. 6 und 13 zur EMRK verletzt würden.
Sohin sei der Beschwerdeführer zu einer freiwilligen Ausreise binnen 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides verpflichtet.
4. Gegen diesen Bescheid erhob die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde, in welcher zusammengefasst Folgendes vorbracht wurde:
Er habe ein altersentsprechendes detailliertes Fluchtvorbringen erstattet, das nicht nur im Einklang mit der tatsächlichen Lage in Afghanistan, sondern auch mit den Länderberichten stehe. Das BFA habe jedoch die ihm drohende Gefahr als vulnerabler Minderjähriger nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie die prekäre Sicherheitssituation. Zur Glaubwürdigkeit seines Vorbringens werde auf die ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes verwiesen, wonach das jugendliche Alter des Beschwerdeführers berücksichtigt werden müsse. Auch Ungereimtheiten und Widersprüche seines Vorbringens seien von Seiten des BFA mit einem milderen Maßstab zu beurteilen. Das BFA habe diese Glaubwürdigkeitsprüfungskriterien nicht in seine Entscheidung einfließen lassen. Überdies habe das BFA im Rahmen der Manuduktionspflicht alle dem Beschwerdeführer drohenden Gefahren von sich aus zu berücksichtigen. Durch das Wiedererstarken der Taliban habe sich seine Gefährdungslage massiv verschlechtert. So würde er abgesehen von der Gefahr der Ermordung durch die Taliban auch Gefahr laufen, zwangsrekrutiert zu werden. Die vorgebrachten Fluchtgründe würden somit ein relevantes Intensitätsausmaß darstellen, das insgesamt als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu sehen sei. Auch in Kabul herrsche Gefahr und nahezu täglich fänden sicherheitsrelevante Vorfälle statt. In Afghanistan wäre er auf sich alleine gestellt und als Minderjähriger wäre er besonders gefährdet. Bei richtiger Tatsachenfeststellung, Berücksichtigung der Länderberichte und richtiger rechtlicher Beurteilung hätte das BFA daher zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass ihm zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren sei.
5. Mit Schreiben vom 02.10.2018 legte die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers die UNHRC Richtlinien vom 30.08.2018, das Gutachten von XXXX vom 28.03.2018 sowie den Kommentar von XXXX zum Gutachten von Mag. XXXX vom 19.09.2019 vor.
6. Am 03.10.2018 fand eine öffentliche, mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an der der Beschwerdeführer sowie seine gesetzliche Vertreterin teilnahmen. Ein Vertreter des BFA ist entschuldigt (siehe Schreiben vom 25.05.2018) nicht erschienen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde eine Bestätigung über eine "Sprachberatung und Einstufung von Sprachkenntniss
en" der Volkshochschule XXXX vom 08.05.2018 vorgelegt. Weiters wurde eine Bestätigung über die Teilnahme an einer Projektwoche zur berufspraktischen Erprobung in handwerklich technischen Berufen des berufspädagogischen Instituts der österreichischen Jugendarbeit vom 30.04.2018 sowie eine Urkunde über die "hot wire competition" des berufspädagogischen Instituts der österreichischen Jugendarbeit vom 06.04.2018 vorgelegt.
7. Mit Schreiben vom 04.10.2018 legte die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers ein klinisch-psychologisches Gutachten von Dr. XXXX vom 14.09.2018 vor, wonach der Beschwerdeführer unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit Affektdurchbrüchen und einer Störung bei der Beziehungsaufnahme leide.
8. Mit Schreiben vom 22.10.2018 wurde eine Stellungnahme der gesetzlichen Vertreterin des Beschwerdeführers vorgelegt, in der im Wesentlichen Folgendes ausgeführt wurde:
Laut einer aktuellen Kurzinformation vom 11.09.2018 seien sowohl die Taliban als auch der IS in der Provinz Nangarhar aktiv. Die Taliban und andere Extremisten würden auch Bildungssysteme angreifen. Dem minderjährigen Beschwerdeführer könne somit keine Schulbildung in Afghanistan garantiert werden. Weiters werde berichtet, dass die Armut, angesichts des Wachstums sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, zunehme.Zudem leide der Beschwerdeführer unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer in eine ausweglose Situation geraten.
9. Mit Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 30.10.2018, Zl. 48 Hv 70/18h, rechtskräftig geworden am 03.11.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB unter Anwendung des § 5 JGG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Die verhängte Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
10. Mit Schreiben vom 29.11.2018 legte das BFA einen Bescheid vom 29.11.2018 vor, wonach der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 30.10.2018 aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG verloren habe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zum Beschwerdeführer
1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er trägt den im Spruch angeführten Namen, ist am XXXX geboren und stammt aus XXXX, Provinz Nangahar.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Er verließ Afghanistan gemeinsam mit seiner Familie Anfang 2016. Er spricht Paschtu, etwas Farsi und verfügt über eine siebenjährige Schulbildung. Der Beschwerdeführer leidet an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung.
Er reiste (spätestens) am 30.03.2016 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein.
In Österreich befindet sich sein Bruder XXXX. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seinen Eltern und zu seinen restlichen Geschwistern, welche er auf der Flucht nach Österreich verloren hat. In Afghanistan halten sich keine weiteren Verwandten des Beschwerdeführers auf. Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Freundin; ansonsten verfügt er über keine weiteren verwandtschaftlichen oder sozialen Anknüpfungspunkte. Er verfügt über grundlegende Deutschkenntnisse (A2), besucht (derzeit) keine Schule und ist in keinem Verein tätig. Der Beschwerdeführer befindet sich in Österreich in der Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer wurde wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB unter Anwendung des § 5 JGG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Die verhängte Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
1.1.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr einerseits aufgrund der Tätigkeit seines Vaters bei der Organisation IRD verfolgt würde und andererseits von den Taliban, dem IS oder anderen Milizen zwangsrekrutiert würde.
1.2.3. Im Falle eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan würde dieser mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan
1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil. Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen.
Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen.
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF; diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu. Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen. Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder.
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben. Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten.
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant.
(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 08.01.2019, S. 44 ff.)
1.2.2. Nangahar
Die Provinz Nangarhar liegt im Osten von Afghanistan. Im Norden grenzt sie an die Provinzen Kunar und Laghman, im Westen an die Hauptstadt Kabul und die Provinz Logar und an den Gebirgszug Spinghar im Süden. Die Provinzhauptstadt Jalalabad ist 120 Kilometer von Kabul entfernt. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf
1.573.973 geschätzt.
Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage
In den letzten Jahren hat sich die Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar verschlechtert; Nangahar war seit dem Sturz des Taliban-Regimes eine der relativ ruhigen Provinzen im Osten Afghanistans, jedoch versuchen bewaffnete Aufständische in den letzten Jahren ihre Aktivitäten in der Provinz auszuweiten. Begründet wird das damit, dass seit dem Fall des Taliban-Regimes von weniger Vorfällen berichtet worden war.
In den letzten Jahren versuchen Aufständische der Taliban und des IS in abgelegenen Distrikten Fuß zu fassen. Befreiungsoperationen, in denen auch Luftangriffe gegen den IS getätigt werden, werden in den unruhigen Distrikten der Provinz durchgeführt. Angriffe auch auf lokale Beamte und Sicherheitskräfte in der Provinz werden regelmäßig von Aufständischen der Taliban und dem IS durchgeführt. Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 795 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Nangarhar war die Provinz mit den meisten im Jahr 2017 registrierten Anschlägen.
Im gesamten Jahr 2017 wurden in Nangarhar 862 zivile Opfer (344 getötete Zivilisten und 518 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 1% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.
Militärische Operationen in Nangarhar
In der Provinz werden regelmäßig militärische Operationen ausgeführt, um gewisse Distrikte von Aufständischen zu befreien. Ebenso werden Luftangriffe durchgeführt; in manchen Fällen wurden Aufständische getötet; darunter auch IS-Kämpfer.
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Nangarhar
Anhänger der Taliban, als auch des IS haben eine Präsenz in gewissen Distrikten der Provinz; zu diesen werden mehrere südliche Distrikte gezählt. Nachdem die Grausamkeit des IS ihren Höhepunkt erreicht hat, sind die Taliban in Nangarhar beliebter geworden und haben an Einfluss gewonnen. Auch ist es dem IS nicht mehr so einfach möglich, Menschen zu rekrutieren. Obwohl militärische Operationen durchgeführt werden, um Aktivitäten der Aufständischen zu unterbinden, sind die Taliban in einigen Distrikten der Provinz aktiv. In Nangarhar kämpfen die Taliban gegen den IS, um die Kontrolle über natürliche Minen und Territorium zu gewinnen; insbesondere in der Tora Bora Region, die dazu dient, Waren von und nach Pakistan zu schmuggeln. Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und IS fanden statt, dabei ging es um Kontrolle von Territorium. In einem Falle haben aufständische Taliban ihren ehemaligen Kommandanten getötet, da ihm Verbindungen zum IS nachgesagt wurden. Seit dem Jahr 2014 tauchen immer mehr Berichte zu einem Anstieg von Aktivitäten des IS in manchen abgelegenen Teilen der Provinz - dazu zählt auch der Distrikt Achin. Der IS zeigte weiterhin große Widerstandsfähigkeit, wenngleich die afghanischen und internationalen Kräfte gemeinsame Operationen durchführten. Die Gruppierung führte mehrere Angriffe gegen die zivile Bevölkerung und militärische Ziele aus - insbesondere in Kabul und Nangarhar.
Eine Anzahl Aufständischer der Taliban und des IS haben sich in der Provinz Nangarhar dem Friedensprozess angeschlossen. Im Zeitraum 01.01.2017 - 31.01.2018 wurden in der Provinz Nangharhar IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen Zivilisten, Auseinandersetzungen mit den Streitkräften und Gewalt) gemeldet.
(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 08.01.2019, S. 173 ff.)
1.2.3. Sunniten
Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7 bis 89.7% Sunniten. Schätzungen zufolge, sind etwa 10 bis 19% der Bevölkerung Schiiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan.
Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen. Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt.
Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert; so gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürger/innen unabhängig von ihrer Religion. Wenn weder die Verfassung noch das Straf- bzw. Zivilgesetzbuch bei bestimmten Rechtsfällen angewendet werden können, gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung. Laut Verfassung sind die Gerichte dazu berechtigt, das schiitische Recht anzuwenden, wenn die betroffene Person dem schiitischen Islam angehört. Gemäß der Verfassung existieren keine eigenen, für Nicht-Muslime geltende Gesetze.
Mitglieder der Taliban und des IS töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.
(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 08.01.2019, S. 289f.)
1.2.4. Paschtunen
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge, sind 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen.
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.
Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; die meisten ihrer Regierungsvertreter sprechen auch Dari. Die Pashtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.
(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 08.01.2019, S. 299 ff.)
1.2.5. Wehrdienst, Wehrdienstverweigerung/Desertion
Afghanistan kennt keine Wehrpflicht. Das vorgeschriebene Mindestalter für die freiwillige Meldung beträgt 18 Jahre. Da die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstellt, erscheint die Notwendigkeit für Zwangsrekrutierungen jedoch eher unwahrscheinlich. Gemäß dem afghanischen militärischen Strafverfahrenskodex von 2008 wird die permanente Desertion mit einer Haftstrafe von zwei bis fünf Jahren bedroht. Bei Desertionen während einer Sondermission beträgt die maximale Haftstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Eine Abwesenheit von mehr als 24 Stunden wird als unerlaubt definiert. In der Praxis werden Deserteure jedoch in der Regel nicht rechtlich verfolgt. Im Jahr 2016 wurde ein Soldat wegen Desertion in erster Instanz zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt; Berichten zufolge wurde dies zu einem Medienfall, was u. a. auf die Seltenheit solcher Verurteilungen hinweist und auf die Absicht schließen lässt, ein Exempel zu statuieren.
2015 musste die afghanische Armee ca. ein Drittel ihrer 170.000 Soldaten wegen Desertion, Verlust bzw. dem niedrigen Anteil an Weiterverpflichtungen ersetzen. Im Jahr 2017 wurde vom Special Inspector General for Afghanistan (SIGAR) festgestellt, dass ca. die Hälfte der afghanischen Soldaten, die in den USA Fortbildungen besuchten, sich während ihres Aufenthalts unerlaubt vom Dienst entfernten; dies könne u.a. negative Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft der ANSDF haben. Dem Kommandanten der US-amerikanischen Truppen in Afghanistan zufolge ist die Zahl der Desertionen im Land gestiegen: Monatlich verlassen mindestens 4.000 Soldaten die ANDSF; diese Aussage wurde am nächsten Tag vom Verteidigungs- und Innenministerium dementiert. Desertionen sind in Afghanistan seit ca. 40 Jahren an der Tagesordnung.
Als Gründe für Desertion und unerlaubtes Fernbleiben gelten Korruption, die Angst vor den Taliban, niedrige Gehälter, schlechte Lebensbedingungen. Das Problem der Abwesenheit in der ANA wird ebenso damit begründet, dass Soldaten oftmals nicht in ihrer Heimatprovinz dienen. Viele von ihnen müssen einen langen Reiseweg auf sich nehmen, um in ihre Heimatdörfer zu gelangen und ihren Familien die Löhne geben zu können. Diese Deserteure werden schon aufgrund der sehr hohen Zahlen bezüglich vorübergehender Abwesenheiten nach Rückkehr zu ihrem ursprünglichen Standort wieder in die Armee aufgenommen. Allerdings ist die Zahl der unerlaubt Abwesenden in den letzten Jahren etwas gesunken, da nun fast jede Bezahlung der ANA-Soldaten elektronisch durchgeführt wird.
(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 08.01.2019, S. 274 f.)
Zwangsrekrutierung durch die Taliban
Allgemeines
Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, wie berichtet wird, weiterhin Kinder - sowohl Jungen als auch Mädchen - um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen einzusetzen, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln und als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung zu dienen.
(UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Punkt III.A.3.a.)
Die Taliban haben keinen Mangel an Freiwilligen bzw. Rekruten und nutzen die Zwangsrekrutierung nur in Ausnahmefällen. So wird beispielsweise berichtet, dass die Taliban versuchen, Personen mit militärischem Hintergrund, wie beispielsweise Mitglieder des ANSF, zu rekrutieren. Die Taliban nutzen auch die Zwangsrekrutierung in Situationen akuten Drucks. Druck und Zwang zur Aufnahme in die Taliban sind nicht immer gewalttätig und werden oft über die Familie, den Klan oder das religiöse Netzwerk ausgeübt, je nach den örtlichen Gegebenheiten. Es kann gesagt werden, dass die Folgen einer Nichtbefolgung im Allgemeinen ernst sind, einschließlich Berichten über Bedrohungen der Familie der angesprochenen Rekruten, schwere Körperverletzungen und Morde.
Obwohl die Taliban intern keine Kinder rekrutieren, deuten die verfügbaren Informationen darauf hin, dass die Rekrutierung von Kindern, insbesondere von Jungen nach der Pubertät, erfolgt. Kinder können von aufständischen Gruppen auf vielfältige Weise einer Gehirnwäsche unterzogen werden und können in Madrassas indoktriniert werden, einschließlich der Verbringung nach Pakistan zur Ausbildung.
(Zusammenfassung: EASO - Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, Rekrutierung durch bewaffnete Gruppierungen vom September 2016 [Punkt 1.5, 5.2., 5.2.1.2., 5.2.1.3. und 5.2.1.4.])
Zwangsrekrutierung durch den IS
2014 tauchten die ersten Gruppen in Afghanistan auf, die behaupteten, zum Islamischen Staat in Syrien und im Irak zu gehören. Im Januar 2015 schworen gewisse Personen in einer Videobotschaft dem Islamischen Staat Treue und erkannten die Führung von Abu Bakr al Baghdadi an. Sie schufen eine sogenannte Provinz des Islamischen Staates, den Wilayat Khorasan, nachstehend als Islamischer Staat in Khorasan (ISK) bezeichnet. Diese Gruppe wurde schließlich vom Islamischen Staat in Syrien und im Irak gebilligt. Es tauchten mehrere Gruppen in Provinzen wie Nangarhar, Helmand, Farah, Logar und Zabul auf, die im Wesentlichen aus enttäuschten oder entrechteten Kommandeuren und/oder Kämpfern der Taliban bestanden.
Der ISK genoss einen gewissen Spielraum und übte die Kontrolle über die Bevölkerung in den Distrikten aus, in denen er stark vertreten war, wie in Achin, Deh Bala, Spin Ghar und Nazyan in Nangarhar. In anderen Distrikten muss der ISK verdeckt arbeiten und sich auf Anwerbungsbemühungen und Propagandaaktivitäten beschränken. Eine Quelle in Kabul sagte, dass Propagandaflugblätter des ISK in Badachschan gefunden worden seien, in denen Talibankämpfer zum Überlaufen zum ISK aufgerufen worden seien. Im April 2016 hieß es in einer USIP-Studie, der ISK habe Anwerber in neun Provinzen ernannt, vier davon im Norden: Kunduz, Samangan, Sar-e Pul und Faryab. Laut einer Quelle in Kabul sind rund 70 % der ISK-Kämpfer TTP-Mitglieder aus dem Stamm der Orakzai und wurden 30 % lokal rekrutiert.
Der westliche Sicherheitsbeauftragte erklärte, dass der ISK trotz des anfänglich freundlichen Herangehens an die Menschen in den seiner Kontrolle unterstehenden Dörfern begann, sich nach Beginn des Krieges mit den Taliban deutlich aggressiver zu verhalten; daher fing seine Beliebtheit und Akzeptanz in den Dörfern zu schwinden an. An die Stelle der gewaltlosen Kontakte traten die Hinrichtung von Ältesten, die Zerstörung von Schreinen und das Verbot des Mohnanbaus. Diese von Gewalt geprägten Maßnahmen schadeten der Attraktivität des ISK als einer Alternative zu den Taliban. Vor allem das Verbot des Anbaus und des Handels mit Drogen (sowohl Mohn als auch Marihuana) untergrub sehr schnell jegliche lokale Akzeptanz der als ausländisch geltenden Kräfte.
Borhan Osman sagt, dass der ISK letzten Endes in den wenigen seiner Kontrolle unterstehenden Gebieten sehr brutale Methoden anwandte, um die Bevölkerung zu Unterordnung und Gehorsam zu zwingen. Osman war sich nicht sicher, ob der ISK Kämpfer zwangsweise rekrutiert hatte. Laut Antonio Giustozzi zwingt der ISK Einwohner in den von ihm kontrollierten Gebieten dazu, Nachschub bereitzustellen, aber nicht, aktiv an Kämpfen teilzunehmen. Der ISK rekrutiert in der örtlichen Bevölkerung Unterstützer für logistische Aufgaben wie Beförderung von Fracht und Kochen. Der ISK zahlt diesen Menschen zwar den vollen Lohn, versucht aber auch, sie zu indoktrinieren und aus ihnen Sympathisanten ihrer Ideologie und letztendlich Kämpfer zu machen. In Kabul und Jalalabad allerdings findet man nach Angaben von Aziz Hakimi viele Menschen, die unter anderem aus Angst vor Zwangsrekrutierung aus von dem ISK kontrollierten Gebieten geflohen sind. Binnenvertriebene berichteten dem UNHCR, sie seien aus Angst vor Zwangsrekrutierung durch den ISK geflohen. In den sozialen Medien zirkulierten Videos der willkürlichen Hinrichtung von unter anderem sogenannten Abtrünnigen. In Gebieten, in denen der ISK versucht, durch verdeckte Operationen und Propaganda Einfluss zu gewinnen, hat er keine operativen Möglichkeiten, um Menschen zu zwingen, sich ihm anzuschließen, und er verzichtet auch darauf, alle Taliban-Kämpfer zum Überlaufen aufzufordern. Laut einer Quelle in Kabul kann er dabei aber einen äußerst bedrohlichen Ton anschlagen. Auf Flugblättern, die in Badachschan gefunden wurden, wurden alle Talibankämpfer aufgefordert, sich dem Islamischen Staat anzuschließen, und all denjenigen, die dies nicht täten, wurde ihre Enthauptung angedroht.
(Zusammenfassung: EASO - Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, Rekrutierung durch bewaffnete Gruppierungen vom September 2016 [Punkt 2., 2.1. und 2.1.4.])
1.2.6. Medizinische Versorgung
Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung.
In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen. Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht. Gründe dafür waren u. a. eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert.
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren.
Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 bis 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt. Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baghlan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt.
Krankenkassen und Gesundheitsversicherung
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden. Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei.
Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden.
Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen.
Beispiele für Behandlung psychischer erkrankter Personen in Afghanistan
In der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gemeinschaftliche Unterstützung sicherstellen.
Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA.
Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es wird ihnen durch eine "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgeführt, bei dem konventionelle und kostengünstige e-Gesundheitslösungen angewendet werden, um die vier häufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden.
Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt.
Krankenhäuser in Afghanistan
Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw. schnellere medizinische Versorgung zu bekommen (IOM 5.2.2018). Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich.
In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Beeinträchtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw. fachlicher Expertise nicht behandelt werden können. Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung.
Beispiele für Nichtregierungsinstitutionen vor Ort
Ärzte ohne Grenzen (MSF)
Médecins sans Frontières (MSF) ist in verschiedenen medizinischen Einrichtungen in Afghanistan tätig: im Ahmad Shah Baba Krankenhaus und im Dasht-e Barchi Krankenhaus in Kabul, in der Entbindungsklinik in Khost, im Boost Krankenhaus in Lashkar Gah (Helmand) sowie im Mirwais Krankenhaus und anderen Einrichtungen in Kandahar.
Das Komitee des internationalen Roten Kreuz (ICRC)
Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. Für den Zeitraum von Dezember 2017 bis März 2018 wurden Berichten zufolge insgesamt 48 Zwischenfälle in 13 Provinzen registriert. Nach mehreren Angriffen mit Todesfolge auf Mitarbeiter des ICRC, hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes 2017 einen erheblichen Teil seines Personals im Land abgezogen. Trotzdem blieb im Laufe des Jahres 2017 das ICRC landesweit aktiv. Tätigkeiten des Komitees zur Förderung der Gesundheitsfürsorge waren z.B. der Transport von Kriegsverwundeten in nahe liegende Krankenhäuser für weitere medizinische Versorgung, die Bereitstellung von Medikamenten und medizinischer Ausstattung zur Unterstützung einiger staatlicher Krankenhäuser, die Bereitstellung von medizinischer Unterstützung für das Mirwais Krankenhauses in Kandahar, die Unterstützung von Gesundheitsdienstleistungen in zwei Gefängnissen (Kandahar und Herat) usw.
International Psychosocial Organization (IPSO) in Kabul
IPSO bietet landesweit psychosoziale Betreuung durch Online-Beratung und Projektfeldarbeit mit insgesamt 280 psychosozialen Therapeuten, wovon die Hälfte Frauen sind. Die Online-Beratung steht von 8-19 Uhr kostenfrei zur Verfügung; angeboten werden ebenso persönliche Sitzungen in Beratungszentren der Krankenhäuser. Einige der Dienste dieser Organisation sind auch an Universitäten und technischen Institutionen verfügbar. Unter anderem ist IPSO in den Provinzen Nangarhar, Kabul, Herat, Bamyan, Badakhshan, Balkh, Jawzjan und Laghman tätig.
Medica Afghanistan in Kabul
Medica Afghanistan bietet kostenfreie psychosoziale Einzel- und Gruppentherapien an. Die Leistungen sind nur für Frauen zugänglich und werden in Kabul in unterschiedlichen Frauenhäusern und -gefängnissen sowie Jugendzentren angeboten. Auch werden die Leistungen der Organisation in drei Hauptkrankenhäusern, im "Women's Garden, im Ministeirum für Frauenangelegenheiten (MoWA) und an weiteren Standorten in Kabul angeboten.
Parsa Afghanistan
Parsa ist seit 1996 als registrierte NGO in Afghanistan tätig. Die Organisation spezialisiert sich u.a. auf psychologische Leistungen und Ausbildung von afghanischem Fachpersonal, das in sozialen Schutzprogrammen tätig ist und mit vulnerablen Personen arbeitet. Zu diesen Fachkräften zählen Mitarbeiter in Zentren für Binnenvertriebene, Frauenhäusern und Waisenhäusern sowie Fachkräfte, die in lokalen Schulen am Projekt "Healthy Afghan Girl" mitarbeiten und andere Unterstützungsgruppen.
Weitere Projekte
Das Telemedizinprojekt des Mobilfunkanbieters Roshan, verbindet Ärzte in ländlichen Gegenden mit Spezialisten im französischen Kindermedizininstitut in Kabul und dem Aga Khan Universitätskrankenhaus in Pakistan. Durch eine Hochgeschwindigkeits-Videoverbindung werden mittellose Patienten auf dem Land von Fachärzten diagnostiziert. Unter anderem bietet die von Roshan zur Verfügung gestellte Technologie afghanischen Ärzten die Möglichkeit, ihre medizinischen Kenntnisse zu erweitern und auf den neuesten Stand zu bringen.
(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 08.01.2018, S. 342 ff.)
1.2.7. International Relief and Development (IRD) in Afghanistan
Das Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), ein unabhängiges Forschungsinstitut in Kabul listet in einem periodisch erscheinenden Bericht in Afghanistan arbeitende Vertretungen von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen auf. Für die Jahre 2013 - 2015 wurden Niederlassungen des Unternehmens IRD in Kabul gelistet. Devex, ein Sozialunternehmen, berichtet darüber, dass International Relief and Development (IRD) eine Neuadjustierung seiner Marke und seiner Struktur in Folge eines langjährigen Disputes über angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten mit seinem Hauptklienten, der USAID ankündigt. Eine Quelle erklärte, dass, durch Blumont alle Operationen sowie das Personal von IRD subsumiert würden.
(Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan "International Relief and Development [IRD], Gefährdung von IRD Mitarbeiter durch die Taliban vom 26.01.2017, S. 1ff.)
Gefährdung lokaler Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, sowie NGO-Mitarbeiter durch die Taliban
Das Immigration and Refugee Board of Canada berichtet am 22.2.2016, dass die Taliban Verhaltensregeln ("layha") entwickelt haben, welche auch "Vorschriften zur Schonung von Zivilisten" vorsehen. Davon sind staatliche Mitarbeiter und humanitäre Arbeiter jedoch ausgeschlossen. Dieselbe Quelle weist darauf hin, dass im Mai 2015 die Taliban erklärten, dass sie jeden Fremden, insbesondere Angehörige aus NATO-Staaten, als Eindringling betrachten würden. Auch werden Afghanen, welche mit Ausländern zusammenarbeiten, einschließlich Entwicklungshelfer, als deren "Hirelings" [Anmerkung:
Handlanger] angesehen.
Nach Angaben verschiedener Quellen seien lokale Hilfsarbeiter und lokales Personal sowie NGO-Mitarbeiter Ziele der Einschüchterung durch die Taliban. Die New York Times zitiert UN-Zahlen, wonach es im Jahre 2012 zu 175 Angriffen auf Hilfsarbeiter gekommen ist. Dabei kam es zu elf Ermordungen und 26 Verwundeten. Insgesamt 44 Personen sind inhaftiert oder entführt worden. Dieselbe Quelle berichtet, dass es von Jänner bis November 2013 zu 237 Angriffen auf Mitarbeiter der Hilfsorganisationen gekommen ist. Dabei wurden 36 Arbeitnehmer getötet, 46 wurden verletzt und 96 inhaftiert oder entführt. Amnesty International zitiert die internationale NGO-Sicherheits-Organisation in Afghanistan [Anmerkung: INSO], welche angibt, dass es im Jahr 2014 153 Angriffe auf Helfer gab, die vor allem durch die Taliban verübt worden sind. Dabei wurden 34 Menschen getötet und 33 Mensch