TE Vfgh Erkenntnis 1997/3/12 B991/96, B992/96

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Veröffentlicht am 12.03.1997
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Index

36 Wirtschaftstreuhänder
36/01 Wirtschaftstreuhänder

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
Wirtschaftstreuhänder-DisziplinarO §1, §2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Verhängung von Disziplinarstrafen über einen Wirtschaftstreuhänder infolge Einräumung eines größeren Einflusses auf die Entscheidungsfindung an den Kammeranwalt aufgrund Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Berufungen des Beschwerdeführers; kein Parteiengehör für den Beschwerdeführer zu diesen Stellungnahmen

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtenen Bescheide in dem durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Die Kammer der Wirtschaftstreuhänder ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit insgesamt 54.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Senat für Kärnten des Ehrengerichts- und Disziplinarausschusses der Kammer der Wirtschaftstreuhänder erkannte mit drei Bescheiden vom 26. November 1992 den Beschwerdeführer der Beeinträchtigung des Standesansehens nach §47 Abs1 der Wirtschaftstreuhänder-Berufsordnung, BGBl. 125/1955, (WT-BO), mit einem dieser drei Bescheide darüber hinaus auch der Verletzung von Berufspflichten nach §27 WT-BO, schuldig und verhängte über den Beschwerdeführer gemäß §48 litc WT-BO Geldbußen in bestimmter Höhe.

Der gemäß §1 Abs1 und §2 Abs2 der Wirtschaftstreuhänder-Disziplinarordnung, BGBl. 63/1962, (WT-DO), eingerichtete Berufungssenat gab den dagegen vom Beschwerdeführer erhobenen Berufungen zum Teil Folge und zum Teil keine Folge. In allen Fällen blieben aber Schuldsprüche und Geldstrafen aufrecht.

2. Gegen diese (drei) Berufungsbescheide wenden sich die drei vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide, hilfsweise die Abtretung der Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

3. Der Berufungssenat als jene Behörde, die die bekämpften Bescheide erlassen hat, legte die Akten der Verwaltungsverfahren vor und erstattete zu allen drei Beschwerden eine Gegenschrift, in der er begehrt, den Anträgen des Beschwerdeführers nicht stattzugeben.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. Neben anderen Vorwürfen macht der Beschwerdeführer geltend, daß der Berufungssenat nicht als Tribunal i.S. des Art6 EMRK eingerichtet sei; ferner daß im Disziplinarverfahren die Öffentlichkeit ausgeschlossen und keine mündliche Verhandlung durchgeführt worden sei, der Berufungssenat jedoch trotzdem den Kammeranwalt geladen und angehört, den Beschwerdeführer aber jeglicher Chance auf Entgegnung beraubt habe.

2. Diese Vorwürfe sind zum Teil unberechtigt, zum Teil berechtigt.

a) Zur Widerlegung der Bedenken ob der mangelnden Tribunalqualität des Berufungssenates ist der Beschwerdeführer auf das Erkenntnis VfSlg. 11872/1988, zur Frage der Öffentlichkeit von Disziplinarverhandlungen auf die Erkenntnisse VfSlg. 11569/1987, 11855/1988 und 13432/1993 zu verweisen.

Da der Beschwerdeführer die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt hat, war es im Hinblick auf §17 Abs7 WT-DO gesetzmäßig, eine solche nicht durchzuführen.

b) Wie sich aus den vorgelegten Verwaltungsakten der Berufungsbehörde (Zl. 58/88, S 545 ff.; Zl. 50/88, S 603 ff.; Zl. 2/89, 4/89, S 387 ff.) ergibt, hat der Berufungssenat zwar keine mündliche Verhandlung allein mit dem Kammeranwalt durchgeführt; er hat diesem aber Gelegenheit geboten, zu den vom Beschwerdeführer eingebrachten Berufungen Stellung zu nehmen. Der die Funktion eines Disziplinaranwaltes ausübende Kammeranwalt (§6 WT-DO) erstattete in der Sache ausführliche Äußerungen und trat in allen drei Fällen für die Abweisung der Rechtsmittel ein. Die Äußerungen wurden dem Beschwerdeführer nicht zur Kenntnis gebracht, aber dennoch vom Berufungssenat in seine Überlegungen einbezogen. So heißt es in der vom Berufungssenat erstatteten Gegenschrift, daß (sowohl die Berufung als auch) "die Äußerung (des Kammeranwaltes) zur Berufung ... vom Berufungssenat gewürdigt und in den Entscheidungen entsprechend berücksichtigt" wurden.

Damit aber hat der Berufungssenat nicht bloß einen einfachgesetzlichen Verfahrensfehler begangen, sondern einen solchen, der in die Verfassungssphäre eingreift (vgl. z.B. VfSlg. 10549/1985). Er hat nämlich den sich aus dem verfassungsgesetzlichen Gebot, ein faires Verfahren durchzuführen (Art6 EMRK), ergebenden "Grundsatz der Waffengleichheit" verletzt, weil er den Kammeranwalt gegenüber dem Beschuldigten privilegiert und jenem größeren Einfluß auf seine Entscheidung einräumte als dem Beschuldigten. (Vgl. die Erkenntnisse VfSlg. 12462/1990 und 12585/1990, die - ebenso wie hier - gegen Angehörige eines freien Berufes, nämlich dort Rechtsanwälte, geführte Disziplinarverfahren zum Gegenstand hatten; der Verfassungsgerichtshof nahm aufgrund des damals gegebenen Sachverhaltes zwar keine Verletzung des Art6 EMRK an, setzte jedoch offenkundig den "Grundsatz der Waffengleichheit" als selbstverständlich voraus. Vgl. weiters das Erkenntnis VfSlg. 8687/1979, welches das von der Generalprokuratur erstattete Croquis zum Gegenstand hatte und dieses als unzulässig erklärte. Vgl. schließlich die Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte betreffenden Erkenntnisse VfSlg. 9431/1982 und 10858/1986, in denen es der Verfassungsgerichtshof als dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend ansah, daß dem Generalprokurator ein Informationsvorsprung gegenüber dem Beschuldigten eingeräumt wurde.)

Die angefochtenen Bescheide waren sohin wegen Verletzung des durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein faires Verfahren aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 9.000 S enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Wirtschaftstreuhänder, Disziplinarrecht Wirtschaftstreuhänder, Parteiengehör, Öffentlichkeitsprinzip, Waffengleichheit (Disziplinarverfahren), fair trial

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1997:B991.1996

Dokumentnummer

JFT_10029688_96B00991_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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