Entscheidungsdatum
31.01.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W204 2160885-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK
I. Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Martin Enthofer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung:
Hinsichtlich der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird das Verfahren wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1, 31 Abs. 1 VwGVG mit Beschluss eingestellt.
II. In derselben Sache erkennt das Bundesverwaltungsgericht zu Recht:
A)
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Am selben Tag wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich niederschriftlich erstbefragt. Dabei gab der BF u.a. an, ledig zu sein und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft anzugehören. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, er habe Afghanistan verlassen, weil er zwei Jahre für ausländische Truppen gearbeitet habe. Nachdem die Dorfbewohner das mitbekommen hätten, hätten die Taliban eine Nachricht geschickt, wonach der BF sofort aufhören solle zu arbeiten, andernfalls würden er und seine Familie getötet werden. Dann habe er mit seiner Arbeit aufgehört und das Land verlassen.
I.3. Am XXXX wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Der BF wurde dabei u.a. zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, er habe bei der Firma XXXX Company gearbeitet, die Produkte an ausländische Firmen liefern würde. Im ersten Jahr habe niemand bemerkt, dass der BF für diese Firma arbeitete. Nach dreizehn Monaten hätte der BF einen ersten Drohbrief der Taliban erhalten. Darin sei gestanden, dass die Taliban von der Arbeit des BF wüssten und er diese beenden müsste, andernfalls würde er getötet werden. Der BF habe den Drohbrief nicht ernst genommen und habe daher weitergearbeitet. Eines Tages seien die Taliban jedoch zum BF nach Hause gekommen und hätten ihn gesucht. Der BF habe sich bei seinen Nachbarn verstecken können. Die Taliban hätten seinem Vater eine Adresse gegeben, die der BF hätte aufsuchen sollen. Der BF habe danach dennoch weitergearbeitet. Vier Monate später habe sein Vater einen zweiten Drohbrief der Taliban erhalten. Auch nach Erhalt dieses Briefes hätte der BF weitergearbeitet, sei jedoch nicht mehr oft nach Hause gekommen, sondern habe bei Freunden der Familie übernachtet, da die Taliban öfters im Elternhaus nach dem BF gesucht hätten.
Als Beilage zur Niederschrift wurden diverse Integrationsunterlagen und afghanische Dokumente genommen.
I.4. Mit Bescheid vom XXXX , dem BF am XXXX zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die Behörde aus, dass der vom BF in Hinblick auf seine Verfolgung vorgebrachte Sachverhalt nicht glaubhaft sei, sodass ihm der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen sei. Selbst bei Wahrunterstellung seiner Angaben stünde dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Zu Spruchpunkt II. führte die Behörde aus, dass dem BF eine Rückkehr in seine Heimatprovinz nicht möglich sei, allerdings stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in einer vergleichsweise sicheren Stadt offen. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, weil die Voraussetzungen nicht vorlägen. Hinsichtlich Art. 8 EMRK führte das BFA eine Abwägung durch und kam dabei zum Schluss, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sowie bei Vorliegen der in § 46 Abs. 1 Z 1 bis 4 FPG genannten Voraussetzungen sei seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig.
I.5. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
I.6. Am XXXX erhob der BF durch seine damalige Rechtsvertretung Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften. Es wurde beantragt, dem BF Asyl zu gewähren; in eventu ihm subsidiären Schutz zu gewähren; in eventu festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig und dem BF ein Aufenthaltstitel zu erteilen sei; sowie eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen.
Begründend wird der Beweiswürdigung des BFA entgegengetreten. Das Vorbringen des BF sei glaubhaft, es sei ihm daher Asyl zu gewähren. Da er in Kabul oder anderen Städten keinen familiären Anschluss habe, sei ihm auch eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zuzumuten.
Der Beschwerde beigelegt waren mehrere Integrationsunterlagen.
I.7. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX vorgelegt.
I.8. Am XXXX übermittelte das BFA eine Beschäftigungsbewilligung des AMS für den BF.
I.9. Am XXXX legte der bisherige Vertreter seine Vollmacht nieder. Ebenfalls am XXXX zeigte der im Spruch genannte Vertreter seine Bevollmächtigung an und legte mehrere Integrationsunterlagen vor.
I.10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF sowie die im Spruch genannte Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA verzichtete mit Schreiben vom XXXX auf die Teilnahme an der Verhandlung. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.
Im Rahmen der Verhandlung zog der BF seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids zurück.
I.11. Am XXXX nahm der BF zu dem zuvor übermittelten aktuellen Länderinformationsblatt Stellung und führte dazu aus, dass die Sicherheitslage in Afghanistan insbesondere in Kabul eine Rückkehr des BF nicht zulasse. Aufgrund seiner gelungenen Integration sei ihm ein Aufenthaltstitel zu erteilen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
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Einsicht in den den BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, insbesondere in das Befragungsprotokoll;
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Befragung des BF im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX ;
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Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die vom BF vorgelegten Unterlagen;
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Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.
II.1. Sachverhaltsfeststellungen:
II.1.1. Zum BF und seinen Fluchtgründen:
Die Identität des BF kann nicht festgestellt werden, die im Spruch genannte ist lediglich seine Verfahrensidentität seit seiner Einreise im November 2015. Er ist Staatsangehöriger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Der BF beherrscht Paschtu, Dari und Farsi in Wort und Schrift. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF stammt aus dem Dorf XXXX in der Provinz XXXX , wo er bis zu seiner Ausreise, abgesehen von einigen Besuchen in Kabul, lebte. Der BF besuchte in Afghanistan zwölf Jahre lang die Schule und schloss diese mit Matura ab. Während seiner Schulzeit half der BF seiner Familie in der Landwirtschaft. Danach arbeitete der BF zwei Jahre lang für eine Baufirma.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr in die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Gefahr läuft, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. In der Heimatregion verfügt der BF über zahlreiche Familienmitglieder, ein Onkel väterlicherseits lebt in Kabul. Der BF steht in Kontakt zu seinen Familienmitgliedern und einem Freund aus seinem Heimatdorf.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Er bezog bis XXXX Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Ab dem XXXX arbeitete der BF als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter und verfügte über ein Bruttogehalt in Höhe von XXXX . Die Beschäftigungsbewilligung wurde dem BF bis zum XXXX erteilt. Aktuell bezieht der BF keine Grundversorgung.
Der BF hat seit XXXX hämorrhoidenähnliche Beschwerden und nimmt dagegen Medikamente und eine Salbe. Ansonsten ist der BF gesund. Er ist arbeitsfähig. Im Bundesgebiet befinden sich keine Familienangehörigen.
Der BF engagierte sich von August 2016 bis März 2018 im Ausmaß von 344 Stunden ehrenamtlich im "Volkshilfe Sozialmarkt XXXX ". Von 14.08.2017 bis 17.08.2017, von 04.09.2017 bis 06.09.2017, von 02.10.2017 bis 13.10.2017 und von 24.04.2018 bis 27.04.2018 beschäftigte sich der BF gemeinnützig bei der Stadt XXXX . Er hat mehrere Deutschkurse besucht und das "ÖSD Zertifikat A2" bestanden. Der BF knüpfte in Österreich bisher keine sozialen Kontakte im nennenswerten Ausmaß.
II.1.2. Zur Situation im Herkunftsland:
Politische Lage:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018
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