TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/31 W196 1260569-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.01.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

31.01.2019

Norm

AsylG 2005 §57
BFA-VG §18
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs9
FPG §53
FPG §55 Abs4

Spruch

W196 1260569-4/ 5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.08.2018, Zl. 741911807 - 180111273 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 57 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und §§ 52 Abs. 9 iVm 46 FPG 2005, § 53 FPG sowie § 18 BFA VG und gemäß § 55 Abs. 4FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise am 20.09.2004 einen Asylantrag gemäß § 3 AsylG 1997 (idF BGBl I Nr. 101/2003).

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.04.2005, Zahl 04 19.118-BAE, wurde der Asylantrag gemäß § 7 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt II.) und dem Beschwerdeführer gleichzeitig gemäß § 8 Absatz 3 iVm § 15 Absatz 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).

Während seines Aufenthalts in Österreich wurde der Beschwerdeführer wegen folgender Delikte rechtskräftig verurteilt:

* Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .01.2006, rechtskräftig seit XXXX .04.2006, GZ. XXXX , wegen §§ 91 Abs. 2 erster Fall 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Wochen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren;

* Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .08.2007, rechtskräftig seit XXXX .08.2007, GZ. XXXX , wegen §§ 223 Abs. 2 und 224 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten unter Setzung einer Probezeit von zwei Jahren, die folglich auf fünf Jahre ausgeweitet wurde;

* Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .04.2009, rechtskräftig seit XXXX .11.2009, GZ. XXXX , wegen §§ 12 dritter Fall, 127., 128 Abs. 1/4, 129 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 15 Monaten, davon fünf Monate unbedingt und einer Probezeit von drei Jahren;

* Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .11.2009, rechtskräftig am XXXX .11.2009, GZ. XXXX , wegen § 83 Abs. 1, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 /1 erster Fall, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr

Aufgrund dieser Verurteilungen leitete das Bundesasylamt ein Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 9 AsylG 2005 ein.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.03.2010, Zl. 04 19.118/6-BAE, wurde der dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 von Amts wegen aberkannt. Unter Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer die befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen. Ferner wurde ausgesprochen, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation unzulässig sei. Im Wesentlichen wurde diese Entscheidung mit den strafrechtlichen Verurteilungen begründet. Die Unzulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung wurde mit der gegenwärtigen Lage in Inguschetien begründet.

Der Beschwerdeführer wurde während seines weiteren Aufenthaltes in Österreich rechtskräftig verurteilt und zwar:

* mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .12.2013, rechtskräftig am XXXX .03.2014, GZ. XXXX wegen §§ 15 StGB, 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr;

* mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .10.2016, rechtskräftig am XXXX .10.2016, GZ. XXXX , wegen § 223 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten

Am 03.07.2017 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Ausstellung einer Duldungskarte nach § 46a Abs. 4 FPG.

Am 01.03.2018 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zusammengefasst an, dass er keine Medikamente nehme und an keinen Krankheiten oder Beschwerden leide. Er sei ledig und habe keine Obsorgeverpflichtungen. Er sei in Inguschetien geboren und habe er dort 11 Jahre lang die Schule mit Berufsschule für Tourismus und Geschichte mit Abschluss (Matura) absolviert. Er sei im Alter von 21 Jahren nach Österreich gekommen. Seine Mutter, zu der regelmäßiger Kontakt bestehe, lebe so wie seine sechs Brüder und neun Schwestern als auch weitere Angehörige (Onkel, Tanten, Cousins) in Inguschetien. Seine Mutter sei in Pension und habe ein Haus, wo auch seine Geschwister mit deren Kindern leben würden. Befragt, warum er seine Heimat verlassen habe, gab er an, dass einer seiner Brüder auch von dort weggegangen und an einen anderen Ort innerhalb Russlands gegangen sei, wobei sein Bruder wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Er habe sein Herkunftsland verlassen, da er als Kind zufällig von Soldaten angeschossen worden sei, als er mit dem Auto in einen Schusswechsel geraten sei. Zu seinen strafrechtlichen Verurteilungen befragt, gab er an, dass er diese begangen habe, als er noch jünger gewesen sei und würde er die Zeit gerne zurückdrehen. Die letzte Verurteilung sei erfolgt, weil er von einem Ausgang nicht zurückgekommen und geflohen sei. Er habe nunmehr andere Leute kennen gelernt und sei er in besseren Kreisen unterwegs. Diese Leute habe er auf der Flucht im Jahr 2014 kennengelernt. Seither habe er auch eine Lebensgefährtin, die österreichische Staatsangehörige sei. Weiteres brachte er auf die Frage, ob er in seiner Heimat oder einer anderen Region innerhalb Russlands leben könne, vor, dass er glaublich dort nicht leben könne. Er wolle in Österreich bleiben. Derzeit verfüge er über kein Einkommen und sollte er vom AMS Arbeitslosengeld bekommen, weil er in der Haft als Vorarbeiter gearbeitet habe. Er bekomme derzeit nichts vom AMS, weil er keinen Ausweis habe. Daher brauche er die Duldungskarte. Er müsse sich immer von Leuten Geld ausleihen und werde er auch von seiner Lebensgefährtin, bei der er auch gemeldet sei, unterstützt. Zu seiner Integration befragt, gab er an, dass er vor einem Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs und auch den Gabelstaplerführerschein gemacht habe. Im Zeitraum 2008 und 2009 habe er etwa 1,5 Jahre als Angestellter gearbeitet. Im Jahr 2005 habe er "A1" gemacht.

Folglich wurde der Beschwerdeführer von dem Ergebnis der Beweisaufnahme verständigt. Ferner wurde ihm das Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation und Tschetschenien übermittelt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme binnen einer Frist von 14 Tagen eingeräumt. Zudem wurde er informiert, dass das Verfahren hinsichtlich seines Duldungsantrages gemäß § 38 AVG bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Rückkehrentscheidung ausgesetzt werde.

Am 16.04.2018 langte eine schriftliche Stellungahme durch den rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers beim Bundesamt ein. Dabei wurde begründend im Wesentlichen vorgebracht, dass der Beschwerdeführer seit über 10 Jahren in Österreich aufhältig sei. Hinsichtlich seines in der Vergangenheit strafrechtlich relevanten Verhaltens würde er das Unrecht seiner Tathandlungen einsehen und sei das verspürte Haftübel bereits erzieherisch prägend gewesen. Er habe ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein entwickelt und könne durchaus von einer positiven Zukunftsprognose ausgegangen werden und werde in diesem Zusammenhang die Einholung eines kriminalpsychologischen Sachverständigengutachtens beantragt. Zudem habe sich die Situation im Herkunftsland nicht verbessert und würde dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation jegliche Existenzgrundlage fehlen. Ferner sei aufgrund des gestellten Antrages einer Duldung unter Anbedacht der Straffälligkeit ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot eingeleitet worden. Zuletzt wurde die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens beantragt, zumal sich die Lage in der Russischen Föderation seit Jahren ähnlich gestalte und nicht gebessert habe.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 07.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 nicht erteilt (Spruchpunkt I.) und gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Unter den Spruchpunkten IV. und V. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt und einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz die aufschiebende Wirkung aberkannt wird. Ferner wurde unter Spruchpunkt VI. dieses Bescheides gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

In seiner Begründung stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nach einer Zusammenfassung des Verfahrensganges die Identität des Beschwerdeführers sowie seine russische Staatsangehörigkeit fest. Zu seinen persönlichen Verhältnissen wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat 11 Jahre die Schule, Berufsschule für Tourismus und Geschichte mit Abschluss (Matura), absolviert habe. Er sei arbeitslos und lebe von der Unterstützung seiner Lebensgefährtin und von Bekannten. Er selbst sei mittellos. Zwischen den Jahren 2008 und 2009 sei er etwa 1,5 Jahre als Angestellter tätig gewesen, jedoch habe er keine Nachweise seiner Versicherungszeiten erbracht. Er sei gesund und arbeitsfähig. Bisher seien für den Beschwerdeführer Mittel aus der Grundversorgung in der Höhe von € 15.000,- aufgewendet worden. Ferner wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2004 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist sei und 20.09.2004 einen Asylantrag gestellt habe, wobei die Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation für nicht zulässig erklärt und dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt worden sei. Der Beschwerdeführer sei massiv straffällig geworden und wurde auf die vorsätzlich gerichtlich strafbaren Handlungen hingewiesen, weshalb ihm am 03.03.2010 der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt worden und die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen worden sei. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer nach dem besagten Bescheid erneut straffällig und zweimal vom Landesgericht für Strafsachen Wien rechtkräftig verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer habe am 03.07.2017 einen Antrag auf Ausstellung einer Duldungskarte gem. § 46a Abs. 4 FPG gestellt. Er verfüge auch in keinem anderen Mitgliedsstaat über eine Aufenthaltsberechtigung oder Niederlassungsbewilligung und sei er im Bundesgebiet nahezu durchgehend aufrecht gemeldet. Der Beschwerdeführer sei nicht in der Lage seinen Aufenthalt in Österreich selbst zu finanzieren und gefährde sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Zu seinem Privat- und Familienleben wurde festgestellt, dass er in Inguschetien geboren und aufgewachsen sei. Er sei ledig und haben keine Kinder oder Sorgepflichten. Im österreichischen Bundesgebiet verfüge er über keine Familienangehörigen. Er habe angegeben, derzeit mit einer österreichischen Staatsangehörigen liiert zu sein. In seinem Herkunftsland würden seine Mutter, seine sechs Brüder, neun Schwestern und andere Angehörige (Onkel, Tanten, Cousins) leben. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seiner Mutter. Seine Mutter besitze in der Russischen Föderation eine Liegenschaft. Zu seiner Integration habe der Beschwerdeführer angegeben, dass er während seiner Haft einen einjährigen Deutschkurs besucht habe. Er sei weder beruflich noch gesellschaftlich in Österreich integriert, gehe keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und würden demnach weder familiäre noch legale berufliche Bindungen bestehen. Der Beschwerdeführer sei in Österreich in keinem Verein und keiner Organisation verankert. Ein schützenswertes Privatleben habe nicht festgestellt werden können. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf auf den Seiten 10 bis 42 des angefochtenen Bescheides unter Anführung von Quellen Länderfeststellungen sowohl zur Situation in der Russischen Föderation als auch zur Lage in Tschetschenien. In seiner Beweiswürdigung führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass die Abschiebung für unzulässig erklärt worden sei, weil der Beschwerdeführer angegeben habe in Tschetschenien/Inguschetien Probleme zu haben, weshalb der Beschwerdeführer am 01.03.2018 im Bundesamt niederschriftlich einvernommen und zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt worden sei. Dabei habe festgestellt werden können, dass eine Rückkehr möglich und zumutbar sei. Der Beschwerdeführer würde in seiner Herkunft wieder leben können, zumal er über ausreichende Wurzeln verfüge. Hingegen habe er kein Familienleben im Bundesgebiet. Da sich die Lage in der Heimat deutlich gebessert habe, wie aus dem aktuellen Länderinformationsblatt deutlich hervorgehe, würde eine Rückkehr nicht gegen Artikel 2 und 3 EMRK verstoßen. Auch stehe es dem Beschwerdeführer frei sich in anderen Regionen der Russische Föderation niederzulassen. Er habe keine stichhaltigen Gründe vorgebracht, welche eine Abschiebung in sein Herkunftsland unzulässig erscheinen ließen. Es sei auch nichts Maßgebliches bekannt, welches ihn an der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat hindern würde. Es könne dem Beschwerdeführer nicht nur zugemutet werden in sein Heimatland zurückzukehren, sondern würde sein kriminelles Verhalten und sein Unwille sich an die Gesetze des Gastlandes zu halten oder sich zu integrieren diese Entscheidung erforderlich machen. In seinem Herkunftsstaat sei er weder strafrechtlich oder politisch noch privat verfolgt, was bereits in seinem rechtskräftigem Asylverfahren festgestellt worden sei und habe er selbst bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA angegeben, in seiner Heimat nie straffällig geworden zu sein und dort auch nicht gesucht zu werden. Nach Auflistungen Verurteilungen folgerte die Behörde, dass gemäß § 53 Abs. 3 Ziffer 1 FPG ein Einreiseverbot über acht Jahre erlassen werde, da er Beschwerdeführer mit seinem Verhalten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle und auch in Zukunft sein werde. Hinzu komme, dass er nicht in der Lage sei den Besitz der Mittel zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes nachzuweisen und müsse er als mittelloser Fremder angesehen werden. In seiner rechtlichen Begründung führte die Behörde zusammengefasst aus, dass dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG zu erteilen sei, da er weder iSd § 46a Abs. 1 Z 1 od. Z 3 FPG geduldet sei noch zivil-, oder opferrechtliche Ansprüche geltend zu machen habe. Auch sei er - nicht einmal abstrakter - Antragsteller iSd § 382 EO und könne daher auch nicht glaubhaft machen, dass die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich sei. Nach einer Interessenabwägung im Sinn des § 9 BFA-VG kam die Behörde nach einer Gesamtschau der Umstände zu dem Ergebnis, dass die festgestellten individuellen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht so ausgeprägt seien, sodass die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der fremdenpolizeilichen und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen höher zu werten seien. Ein schützenswertes Privatleben habe nicht festgestellt werden können und wurde darauf hingewiesen, dass dem Beschwerdeführer wegen seiner Straffälligkeit bereits im Jahr 2010 der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt worden sei, er jedoch in Österreich verblieben und weiter straffällig geworden sei. Dem Beschwerdeführer komme damit kein Schutz nach dem Asylgesetz mehr zu. Er habe seine Zeit in Österreich lediglich dafür genutzt, um weiterhin Straftaten zu begehen und hohe Kosten verursacht. Er habe in Österreich keine näheren Angehörigen, sei in keinen Vereinen oder Organisationen Mitglied und gehe keiner legalen Erwerbstätigkeit nach. Nach neuerlicher Prüfung der Situation in seinem Herkunftsland müsse die Feststellung getroffen werden, dass eine Rückkehr in seine Heimat nicht nur zumutbar, sondern auch dringend erforderlich sei. Zur Beantragung betreffend die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachters zur Beurteilung der Lage in seiner Heimat, wurde darauf hingewiesen, dass die Abteilung Staatendokumentation des BFA auf entsprechende Sachverständige mit dem Schwerpunkt Russland zurückgreife und zeichne sich zudem durch höchste Qualitätsansprüche und Professionalität aus. Eine neuerliche Konsultation mit den zuständigen Experten würde ergeben, dass selbst die Gerichte in Fällen aus Inguschetien auf die vorliegenden-, in gegenständlichen Bescheid angeführten und dem Beschwerdeführer bereits zur Kenntnis gebrachten Informationen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zur russischen Föderation zurückgreifen würden. Inguschetien sei Teil der russischen Föderation und würden dort damit dieselben Gesetze gelten. Dem Hinweis aus seiner Stellungnahme, dass sich die Situation in seiner Heimat nicht entsprechend gebessert habe, sei zusätzlich entgegen zu halten, dass es dem Beschwerdeführer als alleinstehender gesunder junger Mann mehr als nur zumutbar sei, sich innerhalb der russischen Föderation eine neue Existenzgrundlage zu schaffen.

Ferner führte das Bundesamt zum befristeten Einreiseverbot aus, dass der Beschwerdeführer den Tatbestand gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG bereits aufgrund der Verurteilungen erfüllt habe. Seinen persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet stehe sohin der Umstand der Gefährdung öffentlicher Interessen gegenüber. Es würden insgesamt sechs Verurteilungen während seines Aufenthaltes vorliegen, wobei diese Verhalten, im Lichte des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von strafbaren Delikten, sohin den Interessen der österreichischen Gesellschaft, zuwiderlaufende. Bei Abwägung der genannten gegenläufigen Interessen sei zur Auffassung zu gelangen, dass die Erlassung eines 8-jährigen Einreiseverbotes zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen, somit zur Erreichung von im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen, dringend geboten sei und somit gegenüber den Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden. Zudem sei er mittellos, da er ausschließlich von privaten und staatlichen Zuwendungen seine Existenz bestreite. Im Fall des Beschwerdeführers sei gemäß § 18 Abs. 2 Ziffer 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung der Beschwerde aberkannt worden, weil eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vorliege und daher keine Frist für die Ausreise zu gewähren sei. Im Fall des Beschwerdeführers sei zu berücksichtigen, dass er bereits sechs Mal von einem inländischen Gericht rechtskräftig verurteilt worden sei. Zuletzt wegen der strafbaren Handlungen gegen die Zuverlässigkeit von Urkunden und Beweiszeichen (Urkundenfälschung). Er sei in der Vergangenheit unter anderem wegen Raufhandel, schweren Diebstahl, Körperverletzung und schwere Nötigung verurteilt worden. Aus diesem Verhalten sei klar erkennbar, dass auch lange Haftstrafen beim Beschwerdeführer - entgegen seiner Behauptungen in seiner Stellungnahme - zu keinem Sinneswandel geführt hätten und er bei der Durchsetzung seiner Belange das Eigentum Anderer nicht bereit sei anzuerkennen und auch vor der Anwendung von Gewalt gegen Leib und Leben nicht zurückschrecke. Er habe sich seinen illegalen Aufenthalt im Bundesgebiet nicht aus eigenen Stücken finanzieren können und müsse die Behörde davon ausgehen, dass er bei einem weiteren Verbleib in Österreich neuerlich straffällig werde. Bestrafungen hätten zu keinem Wertewandel geführt. In seinem Fall sei auch zu berücksichtigen, dass er über keine familiären, nennenswerten sozialen oder beruflichen Bindungen im Bundesgebiet zurückgreifen könne. Die Dauer des Einreiseverbotes sei im Hinblick auf einen Gesinnungswandel und betreffend die Stabilisation der finanziellen Verhältnisse bewusst so gewählt werden. Aufgrund seines persönlichen Verhaltens habe der Beschwerdeführer auch die Bestimmungen des FPG, NAG und SGK/SDÜ massiv verletzt, sodass mit dieser Dauer des Einreiseverbotes vorgegangen werden müsse. Ferner sei das Einreiseverbot im festgesetzten Bereich zu bemessen und sei der Höchstrahmen vom 10 Jahren nicht ausgeschöpft worden. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens sei unter Bedachtnahme auf sein Gesamtverhalten, d.h. im Hinblick darauf, wie er sein Leben in Österreich insgesamt gestaltet habe, davon auszugehen, dass die im Gesetz umschriebene Annahme, dass der Beschwerdeführer eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, gerechtfertigt.

Gegen den oben angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhob der Beschwerdeführer durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde und führte zusammengefasst aus, dass die Behörde hätte feststellen müssen, dass eine Rückführung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation aufgrund der individuellen Situation des Beschwerdeführers - Entfremdung aufgrund der langen Abwesenheit - unzulässig sei. Daran würde auch seine Straffälligkeit nichts ändern. Ferner lebe der Beschwerdeführer seit mehr als 14 Jahren in Österreich und sei er sozial und wirtschaftlich integriert. Zudem habe sich die Situation in Tschetschenien/Inguschetien/Nordkauskasus keinesfalls gebessert und wäre den Länderberichten im Vergleich mit der Situation zu den Berichten im Jahr 2010 keine Verbesserung ersichtlich. Zudem habe sich der Beschwerdeführer seit seinen letzten Verurteilungen im Jahr 2013 und 2016 wohlverhalten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und somit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 10 FPG. Er bekennt sich zur Glaubensrichtung des Islam. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Er ist in Inguschetien geboren, aufgewachsen und hat dort von 1988 bis 1999 die Grund- und von 1999 bis 2003 die Berufsschule besucht. In seiner Heimatregion leben seine Mutter, seine sechs Brüder und seine neun Schwestern. Seine Mutter hat ein Haus in Inguschetien, in dem auch seine Geschwister leben. Darüber hinaus verfügt er über weitere Verwandte (Tanten, Onkeln, Cousins) in seiner Heimat. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und spricht Russisch.

Im Jahr 2004 reiste der damals 21jährige Beschwerdeführer illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 20.09.2004 einen Asylantrag gemäß § 3 AsylG 1997, welcher vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 29.04.2005 hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten abgewiesen wurde. Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation für nicht zulässig erklärt und ihm gleichzeitig gemäß § 8 Absatz 3 iVm § 15 Absatz 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 28.12.2009 wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 62 Abs. 1 iVm Abs- 2 iVm § 60 Abs. 2 Zi 1 FPG BGBl. I Nr. 100/2005 gemäß § 63 FPG ein unbefristetes Rückkehrverbot erlassen. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.03.2010 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 9 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt. Die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation wurde für unzulässig erklärt. Am 03.07.2017 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Ausstellung einer Duldungskarte, wobei dieses Verfahren gemäß § 38 AVG ausgesetzt wurde.

Der Beschwerdeführer wurde sechsmal in Österreich rechtskräftig strafrechtlich verurteilt und zwar mit:

* Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .01.2006, rechtskräftig seit XXXX .04.2006, GZ. XXXX , wegen §§ 91 Abs. 2 erster Fall 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Wochen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren;

* Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .08.2007, rechtskräftig seit XXXX .08.2007, GZ. XXXX , wegen §§ 223 Abs. 2 und 224 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten unter Setzung einer Probezeit von zwei Jahren, die folglich auf fünf Jahre ausgeweitet wurde;

* Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .04.2009, rechtskräftig seit XXXX .11.2009, GZ. XXXX , wegen §§ 12 dritter Fall, 127., 128 Abs. 1/4, 129 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 15 Monaten, davon fünf Monate unbedingt und einer Probezeit von drei Jahren;

* Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .11.2009, rechtskräftig am XXXX .11.2009, GZ. XXXX , wegen § 83 Abs. 1, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 /1 erster Fall, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr;

* Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .12.2013, rechtskräftig am XXXX .03.2014, GZ. XXXX wegen §§ 15 StGB, 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr;

* Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .10.2016, rechtskräftig am XXXX .10.2016, GZ. XXXX , wegen § 223 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten

Der Beschwerdeführer war in den Zeiträumen von 08.08.2007 bis 08.10.2007 von 31.01.2008 bis 20.08.2008 von 21.09.2011 bis 01.02.2012 von 24.11.2009 bis 25.10.2010 von 25.10.2010 bis 09.11.2010 von 15.04.2013 bis 11.08.2017 inhaftiert.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich wegen seines unrechtmäßigen Aufenthaltes iSd. § 120 Abs. 1 Z 4 FPG verwaltungsstrafrechtlich rechtskräftig verurteilt.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer gesund ist.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Der Beschwerdeführer war 1,5 Jahre als Angestellter tätig und arbeitete zuletzt als Vorarbeiter und verfügt über einen Gabelstaplerführerschein. Festgestellt wird sohin, dass der Beschwerdeführer erwerbsfähig ist und im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht in eine existenzgefährdende Lage geraten wird. In der russischen Föderation verfügt der Beschwerdeführer über Familienangehörige.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte Integration des Beschwerdeführers in Österreich vorliegt. Der Beschwerdeführer lebt seit Antragstellung am 20.09.2004 in Österreich. Ein nicht auf das Asylgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht ist nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht erwerbstätig. Der Beschwerdeführer ist nicht selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer spricht Deutsch und brachte vor einen Deutschkurs und einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert zu haben. Die Absolvierung weiterer Deutschkurse oder Aus- und/oder Fortbildungen hat er nicht vorgebracht. Er verfügt über eine Lebensgefährtin im österreichischen Bundesgebiet, es besteht ein gemeinsamer Haushalt. Der Beschwerdeführer wird von Bekannten und seiner Lebensgefährtin finanziell unterstützt. Darüber hinaus verfügt der Beschwerdeführer über keine verwandtschaftlichen Bezugspunkte im Bundesgebiet. Es liegen keine sonstigen Hinweise auf eine besonders ausgeprägte und verfestigte Integration hinsichtlich des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers in Österreich vor. Der Beschwerdeführer leistet keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten und verfügt über keinen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich. Darüber hinaus können keine nennenswerten Anknüpfungspunkte sozialer oder wirtschaftlicher Natur zu Österreich festgestellt werden.

Zur Situation in der Russischen Föderation wird festgestellt:

Zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation wurden im angefochtenen Bescheid auf den Seiten 10 bis 42 umfangreiche Feststellungen getroffen, welche von der erkennenden Einzelrichterin des Bundesverwaltungsgerichtes geteilt und auch für das gegenständliche Erkenntnisses herangezogen werden. Diesen Feststellungen ist insbesondere zu entnehmen, dass in der Russischen Föderation, Inguschetien, nicht eine solche Situation herrscht, in der praktisch jedermann ein reales Risiko einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und Art. 3 EMRK oder nach dem 6. oder 13. ZPEMRK droht. Insbesondere ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation nicht jene gemäß der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegt, die die Rückkehr eines Fremden automatisch im Widerspruch zu Art. 2 oder Art. 3 EMRK erscheinen lässt. Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, wird eine in die Russische Föderation abgeschobene Person durch eine Rückkehr nicht automatisch in eine "unmenschliche Lage" versetzt und herrscht jedenfalls nicht eine solche Situation, die praktisch für jede Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor. Es konnten keine Umstände festgestellt werden, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russischen Föderation gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.

Zur Lage in der Russischen Föderation:

1 Politische Lage

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).

Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

* CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

* EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

* GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017

* GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

* Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017

* RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017

* Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert. So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens zurücktreten, nachdem er von Kadyrow kritisiert worden war, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter in die föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen im September 2016, wenn auch das Republikoberhaupt gewählt wird, durchzuführen. Die Entscheidung erklärte man mit potentiellen Einsparungen durch das Zusammenlegen der beiden Wahlgänge, Experten gehen jedoch davon aus, dass Kadyrow einen Teil der Abgeordneten durch jüngere, aus seinem Umfeld stammende Politiker ersetzen möchte. Bei den Wahlen vom 18. September 2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Den offiziellen Angaben zufolge wurde Kadyrow mit über 97% der Stimmen im Amt des Oberhauptes der Republik bestätigt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld HRW über Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte (ÖB Moskau 12.2016). In Tschetschenien hat das Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 24.1.2017).

Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird hart vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die darauf aus wären, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtlern, aber auch von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert. Im März ernannte Präsident Putin Kadyrow im Zusammenhang mit dessen im April auslaufender Amtszeit zum Interims-Oberhaupt der Republik und drückte seine Unterstützung für Kadyrows erneute Kandidatur aus. Bei den Wahlen im September 2016 wurde Kadyrow laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt, wohingegen unabhängige Medien von krassen Regelverstößen bei der Wahl berichteten (ÖB Moskau 12.2016). Im Vorfeld dieser Wahlen zielten lokale Behörden auf Kritiker und Personen, die als nicht loyal zu Kadyrow gelten ab, z.B. mittels Entführungen, Verschwindenlassen, Misshandlungen, Todesdrohungen und Androhung von Gewalt gegenüber Verwandten (HRW 12.1.2017).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

* BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

* HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html, Zugriff 28.6.2017)

* ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

* RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (19.1.2015): The Unstoppable Rise Of Ramzan Kadyrov, http://www.rferl.org/content/profile-ramzan-kadyrov-chechnya-russia-putin/26802368.html, Zugriff 21.6.2017

* Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 21.6.2017

0.2. Dagestan

Dagestan belegt mit einer Einwohnerzahl von knapp drei Millionen Menschen (2% der Gesamtbevölkerung Russlands) den dritten Platz unter den Republiken der Russischen Föderation. Über die Hälfte der Einwohner (54,9%) sind Dorfbewohner. Die Bevölkerung in Dagestan wächst verhältnismäßig schnell. Im Unterschied zu den faktisch monoethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann. Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014, vgl. ACCORD 14.4.2017).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der der Staat mit aller Härte gegen "Aufständische" vorgeht. Die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern war in den Jahre 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen. Aktionen von Sicherheitskräften nehmen auch die Familienangehörigen von bewaffneten Untergrundkämpfern ins Visier (AA 24.1.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Wie im Abschnitt über Dagestans Völkervielfalt erwähnt, stützt die ethnische Diversität ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. So hatte der Vielvölkerstatus der Republik das Amt eines Präsidenten oder Republikführers lange Zeit verhindert. Erst Anfang 2006 setzte der Kreml den Awaren Muchu Alijew als Präsidenten an die Spitze der Republik. Alijew war in sowjetischer Zeit ein hochrangiger Parteifunktionär und bekleidete danach zehn Jahre lang den Vorsitz im Parlament Dagestans. Er galt als "Mann des Volkes" in einer Republik, in der politische Macht bislang an die Unterstützung durch lokale und ethnische Seilschaften gebunden war. Alijew, so schien es anfangs, stand über diesen Clan-Welten. Doch die Hoffnung auf Korruptionsbekämpfung und bessere Regierungsführung wurde enttäuscht. Moskau ersetzte ihn 2009 durch Magomedsalam Magomedow, einen Sohn des langjährigen Staatsratsvorsitzenden, der als Präsidentenersatz fungiert hatte. Damit verschob sich die politische Macht im ethnischen Spektrum von den Awaren wieder zu den Darginern. Der neue Präsident war mit Hinterlassenschaften der 14-jährigen Herrschaft seines Vaters Magomedali Magomedow konfrontiert, die sein Amtsvorgänger Alijew nicht hatte bewältigen können. Das betraf vor allem Korruption und Vetternwirtschaft. In Dagestan bemühte sich Magomedow vor allem um einen Dialog zwischen den konfessionellen Konfliktparteien der Sufiten und Salafisten und um eine Reintegration der "Waldbrüder", des bewaffneten Untergrunds also, in die Gesellschaft. Er berief auch einen dagestanischen Völkerkongress mit fast 3.000 Teilnehmern ein, der im Dezember 2010 religiösen Extremismus und Terrorismus verdammte und die Bevölkerung aufrief, den Kampf gegen den bewaffneten Untergrund zu unterstützen. Ein Ergebnis des Kongresses war die Schaffung eines Komitees für die Reintegration von Untergrundkämpfern. Doch auch Magomedsalam Magomedow gelang es nicht, die Sicherheitslage in Dagestan zu verbessern. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramsan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus; 1999/2000 hatte er kurzzeitig das ein Jahr später abgeschaffte föderale Ministerium für Nationalitätenbeziehungen geleitet. Damit trat abermals ein Hoffnungsträger an die Spitze der Republik, der als Erstes der Korruption und dem Clanismus den Kampf ansagte. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagiert Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015).

Laut Swetlana Gannuschkina ist Abdulatipow ein alter sowjetischer Bürokrat. Sein Vorgänger Magomedsalam Magomedow war ein sehr intelligenter Mann, der kluge Innenpolitik betrieb. Er hatte eine Diskussionsplattform organisiert, wo verfeindete Gruppen miteinander gesprochen haben. Es ging dabei vor allem um den Dialog zwischen den Salafisten und den Anhängern des Sufismus. Unter ihm haben auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von Seiten der Polizei aufgehört. Er hat eine sogenannte Adaptionskommission eingerichtet. Diese Kommission hatte die Aufgabe, Kämpfern von illegal bewaffneten Einheiten eine Rückkehr ins bürgerliche Leben zu ermöglichen. Diejenigen, die kein Blut an den Händen hatten, konnten mit Hilfe dieser Kommission wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. Wenn sie in ihrem bewaffneten Widerstand Gewalt angewendet oder Verbrechen begangen hatten, wurden sie zwar verurteilt, aber zu einer geringeren Strafe. Auch diese Personen sind in die dagestanische Gesellschaft reintegriert worden. Mit der Ernennung Abdulatipows als Oberhaupt der Republik gab es keine Verhandlungen mehr mit den Aufständischen und er initiierte einen harten Kampf gegen den Untergrund. Dadurch stiegen die Terroranschläge und Gewalt in Dagestan wieder an (Gannuschkina 3.12.2014, vgl. AI 9.2013).

Quellen:

* ACCORD (14.4.2017): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

http://www.ecoi.net/news/190001::russische-foederation/120.sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen.htm, Zugriff 21.6.2017

* AI - Amnesty International (9.2013): Amnesty Journal Oktober 2013, Hinter den Bergen,

http://www.amnesty.de/journal/2013/oktober/hinter-den-bergen, Zugriff 21.6.2017

* Gannuschkina, Swetlana (3.12.2014): UNHCR Veranstaltung "Informationsaustausch über die Lage in der Russischen Föderation/ Nordkaukasus" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)

* IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

* SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 21.6.2017

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islam

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten