TE Bvwg Erkenntnis 2019/2/8 W182 2176176-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.02.2019
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Entscheidungsdatum

08.02.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

W182 2176175-1/27E

W182 2176171-1/25E

W182 2176176-1/12E

W182 2176174-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerden von 1.) XXXX, geb. XXXX, 2.) XXXX, geb. XXXX, 3.) XXXX, geb. XXXX, und 4.) XXXX, geb. XXXX, alle StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.09.2017, Zl. ad 1.) 1091190901-151562182, ad 2.) 1058482001-150344187, ad 3.) 1058482110-150344195 und ad 4.) 1058482208-150344209 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI.

I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52, 46, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz

(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.1. Die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden BF2) reiste gemeinsam mit ihren minderjährigen Töchtern, der Dritt- und Viertbeschwerdeführerin (künftig BF3 und BF4) illegal in das Bundesgebiet ein und stellten am 06.04.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Die BF2 begründete ihren Antrag im Wesentlichen damit, dass ihr Mann, der als Taxifahrer gearbeitet habe, eines Tages blutüberströmt nach Hause gekommen sei und ihr gesagt habe, dass sie weggehen solle. Das habe die BF2 schließlich auch getan und sei mit den Kindern zu ihrer Tante in ein Bergdorf gegangen. Einen Monat später habe ihr Mann sie angerufen und ihr gesagt, sie sollten das Land verlassen, er werde sie schon finden. Daraufhin sei sie mit den Kindern nach Österreich gegangen, sie wisse nicht, ob ihr Mann noch am Leben sei. Die BF2 habe Angst, dass ihren Kindern etwas angetan werde.

1.2. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden BF1) reiste am 15.10.2015 illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 16.10.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge seiner Erstbefragung brachte er vor, Ende 2014 als Taxilenker Widerstandskämpfer transportiert zu haben, die ihn rekrutieren hätten wollen, nachdem er abgelehnt habe, sei er von ihnen zusammengeschlagen worden. Er habe seine Familie weggeschickt und sich in seiner Heimat versteckt. Mit der Polizei habe er auch Probleme gehabt, sein Nachbar sei Kämpfer gewesen und die Behörde habe geglaubt, er habe mit ihm zusammengearbeitet. Vor zwei Wochen sei er erneut auf die Widerstandskämpfer getroffen, die ihn am linken Arm mit einem Messer verletzt hätten.

Anlässlich der Einvernahme am 20.07.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) brachte der BF1 zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, im Januar 2013 von Polizisten zu seinem Nachbarn befragt worden zu sein, der im Jahr 2012 getötet worden sei, dieser sei ein Wahhabit gewesen. Er sei zwei Tage lang in einem Keller festgehalten, befragt und geschlagen worden, ehe sie ihn freigelassen hätten. Sie hätten dem BF1 Fotos gezeigt, wo er mit seinem Nachbarn zu sehen gewesen sei. Ende 2014 habe er als Taxifahrer gearbeitet, als drei bärtige Männer in sein Taxi gestiegen wären, ihm Geld angeboten hätten und ihn aufgefordert hätten, das nächste Mal, wenn sie wieder kämen, mit ihnen zu kämpfen, der BF1 habe dies abgelehnt. Ende Jänner 2015 wären wieder drei Personen in sein Auto gestiegen, diesmal wären sie bewaffnet gewesen, sein Beifahrer habe eine Pistole herausgezogen und gefragt, ob er diesmal mitkäme, was der BF1 neuerlich verneint habe. Daraufhin hätten sie ihn aus dem Auto geworfen und ihn geschlagen. Sie wüssten alles über ihn und würden ihm eine letzte Chance geben. Der BF1 habe daraufhin seine Frau verständigt, sie müsse von hier fortgehen, woraufhin sie mit den Kindern in die Berge zu ihrer Tante gegangen sei. Zwei Monate später habe der BF1 einen Drohanruf erhalten, wo man ihm mit der Ermordung seiner Familie gedroht habe, anschließend sei er nach Moskau gegangen. Dort habe er ungefähr sechs Monate verbracht. Polizisten hätten ihn einmal widerrechtlich angehalten, was er auch zur Anzeige habe bringen wollen, dies schließlich jedoch nicht getan habe. Ende September 2015 sei er zurück nach Dagestan gegangen, wo er bald darauf mit dem Auto angehalten worden sei, es habe sich erneut um Wahhabiten gehandelt. Es sei zu einer Auseinandersetzung gekommen, der BF1 sei mit einem Messer verletzt worden. Nach diesem Vorfall habe der BF1 das Land verlassen.

Die BF2 gab bei ihrer Einvernahme im Wesentlichen an, Ende Jänner 2015 mit ihren Kindern zu ihrer Tante in die Berge übersiedelt zu sein, nachdem ihr Mann verprügelt nach Hause gekommen wäre. Alles habe im Jahr 2013 begonnen, als ihr Mann von der Polizei mitgenommen worden sei, zwei Tage später sei er verletzt wieder nach Hause gekommen. Zwei Monate später sei ihr Mann wieder gewaltsam von Polizisten mitgenommen worden, die BF2 habe ihren Chef kontaktiert, der dann zur Polizei gegangen sei. In der Nacht sei ihr Mann schließlich wieder freigelassen worden, er sei wieder ganz zerschlagen gewesen. Der BF2 sei es psychisch sehr schlecht gegangen, sie habe einen Nervenzusammenbruch gehabt, weshalb sie in Behandlung gestanden sei. Es sei schließlich einige Zeit Ruhe gewesen und ihr Mann habe begonnen, als Taxifahrer zu arbeiten. Ende Jänner 2015 sei er in der Nacht wieder verprügelt nach Hause gekommen und habe ihr gesagt, sie müsse mit den Kindern weggehen, andernfalls würde man sie finden und umbringen. Am nächsten Tag wäre sie gemeinsam mit den Kindern zu ihrer Tante gefahren, sie hätten einen umständlichen Weg gewählt, weil sie gewusst hätten, dass man sie beobachte. Nachdem sie ungefähr einen Monat bei ihrer Tante gewohnt habe, sei sie von ihrem Mann angerufen worden, der ihr dazu geraten habe, das Land zu verlassen, da man ihren Aufenthaltsort kenne. Die BF2 habe mit Hilfe ihrer Verwandten Geld gesammelt und sei einen Monat später mit den Kindern nach Russland gefahren, von wo sie schließlich nach Österreich gereist wären. Sie hätten in keinen anderen Landesteil der Russischen Föderation gehen können, ihr Mann habe gesagt, diese Leute wären gefährlich und hätten überall Verbindungen.

Zu ihrem Aufenthalt in Österreich gefragt, führte sie an, dass sie in Österreich schon gearbeitet habe, in den Ferien putze sie in einer Schule, auch bei der Gemeinde und beim Roten Kreuz habe sie als Vertretung Reinigungsarbeiten durchgeführt. Sie habe außerdem als Dolmetscherin gearbeitet, allerdings sehr wenig. In ihrer Freizeit helfe sie in einer Küche eines Altenheims aus, wo sie auch bei Festen mithelfe. Sie habe österreichische Freunde, in einem Verein sei sie allerdings nicht aktiv. Unmittelbar nach der Einreise in Österreich sei es sehr schwer gewesen, die Kinder hätten ständig geweint und sie hätten nicht schlafen können, weil sie so Angst gehabt hätten. Nun habe sich alles normalisiert, die Kinder würden sehr gut Deutsch sprechen, hätten Freunde und würden gute Leistungen in der Schule bringen.

Sie fürchte, bei einer Rückkehr umgebracht zu werden, ebenso ihre Kinder und ihr Mann.

2. Das Bundesamt wies mit den im Spruch genannten Bescheiden vom 25.09.2017 die Anträge auf internationalen Schutz der BF1 bis BF4 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF1 bis BF4 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass deren Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde unter Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF1 bis BF4 gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Die Behörde stellte fest, dass der BF1 zwei Mal von der Polizei mitgenommen worden sei weil diese ihn für einen Wahhabiten gehalten und Informationen von ihm gewollt hätten. Er sei von ihnen in einen Keller gebracht und geschlagen worden. Anfang Jänner 2015 sei der BF1 nach einer Taxifahrt von drei Wahhabiten bedroht worden, sie hätten versucht ihn zu rekrutieren, was der BF1 abgelehnt habe. Ende Jänner 2015 sei er nochmal von Wahhabiten bedroht worden, man habe ihm gedroht, dass die BF2 und die Kinder (BF3 und BF4) umgebracht würden. Daraufhin wäre die BF2 mit den Kindern geflohen, der BF1 sei für ein halbes Jahr nach Moskau gegangen. Ende September 2015 sei er zurück nach Dagestan gegangen, wo der BF1 neuerlich von Wahhabiten körperlich attackiert und verletzt worden sei. Schließlich habe er die Russische Föderation verlassen. Im Herkunftsstaat würden noch Familienangehörige und Verwandte leben, es wären keine Umstände bekannt, die einer Ausweisung in die Russische Föderation entgegenstehen würden.

Die Schilderungen des BF1 und der BF2 wären ausführlich, substantiiert und nachvollziehbar gewesen, auch unter Einbeziehung der Erstbefragung und den Einvernahmen der BF2 wären keine Widersprüche entstanden. Aus diesem Grund gehe die Behörde von der Glaubwürdigkeit der Angaben aus. Hinsichtlich der Bedrohung durch Wahhabiten sei es nachvollziehbar, dass der BF1 nach den Erfahrungen im Jahr 2013 die Bedrohung durch die Wahhabiten nicht anzeigen habe wollen, er hätte aber dennoch eine Anzeige bei der Polizei erstatten können, zumal aus den Länderfeststellungen nicht hervorgehe, dass die russischen Behörden generell bei Übergriffen und Bedrohungen durch Privatpersonen schutzunfähig oder schutzunwillig wären. Auch habe die Polizei großes Interesse an der Ergreifung von Wahhabiten. Darüber hinaus stehe ihm das gesamtes Staatsgebiet der Russischen Föderation als innerstaatliche Fluchtalternative offen. Es sei im Verfahren auch nicht hervorgekommen, dass die Polizei ein so starkes Interesse an dem BF1 habe, dass sie eine landesweite Fahndung nach ihm ausgeschrieben hätten, wofür auch der Umstand spreche, dass die dagestanische Polizei den BF1 ab März 2013 nicht mehr behelligt habe und er auch 2015 nach einer Kontrolle in einer U-Bahnstation in Moskau diese Polizeistation sofort wieder verlassen habe können. Aus den Länderfeststellungen wären keine Informationen über eine gezielte Verfolgung von abgewiesenen Asylwerbern ersichtlich. Die BF seien in Dagestan geboren worden, wo sie auch aufgewachsen seien. Sie würden beide über eine abgeschlossene Grundschulbildung verfügen.

Zur Integration in Österreich wurde ausgeführt, dass Bemühungen um eine solche, festzustellen wären und aus den vorgelegten Unterstützungsschreiben hervorgehe. Diese wären allerdings aufgrund des freundlichen und zuvorkommenden Auftretens der BF, allerdings in Unkenntnis der asyl- und fremdenrechtlichen Bestimmungen verfasst worden. Es sei erwiesen, dass der Aufenthaltsstatus der BF stets ungewiss gewesen sei, was ihnen auch habe bewusst sein müssen. Erschwerend käme hinzu, dass der Asylantrag von vornherein unbegründet gewesen sei. Bei einer Abwägung würden somit die öffentlichen Interessen überwiegen.

Mit Verfahrensanordnung vom 25.09.2017 wurden den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

3. Die BF erhoben durch ihre Rechtsvertretung innerhalb offener Frist Beschwerde gegen den Bescheid in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Darin wurde eine mündliche Verhandlung beantragt und ausgeführt, dass der Nachbar der BF Widerstandskämpfer gewesen sei und deshalb dem BF1 von den Behörden unterstellt worden sei, Kontakt zu Widerstandskämpfern zu haben. Polizisten hätten den BF1 deshalb verhört und ihn immer wieder nach seinen Kontakten gefragt, ihn entführt und geschlagen. Später hätten wahhabitische Widerstandskämpfern versucht, den BF1 zu rekrutieren, was dieser jedoch abgelehnt habe. Daraufhin sei er von ihnen zusammengeschlagen worden, auf Grund seiner Vorerfahrung mit der Polizei habe er sich nicht an diese wenden können. Der BF1 sei bei einem Freund in Moskau untergetaucht, als er nach Dagestan zurückgekehrt sei, habe er jedoch wieder die Widerstandskämpfer getroffen und sei von ihnen mit einem Messer am Arm verletzt worden, die BF2 sei zwischenzeitlich schon nach Österreich gereist.

Die BF hätten sich in Österreich gut integriert, sie würden über einen großen Freundeskreis verfügen und hätten bereits mehrere Deutschkurse absolviert. Der BF1 sei als Hausmeister tätig, die BF2 als Reinigungskraft und Dolmetscherin, beide Töchter würden die Schule besuchen, sie wären gute Schülerinnen. Die Behörde habe unvollständige Länderberichte verwendet und die verwendeten Berichte nur unzureichend ausgewertet. Es werde auf weitere Länderberichte verwiesen, aus welchen die katastrophale Lage Dagestans ersichtlich sei. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation müssten die BF um ihr Leben fürchten, da die Widerstandskämpfer sie überall aufspüren könnten. Schutz durch die Behörden könne seitens der BF nicht erwartet werden, sie könnten sich auch keine Existenzgrundlage aufbauen. Die BF hätten glaubhaft und nachvollziehbar darlegen können in ihrem Herkunftsland verfolgt zu werden. Bei einer Überstellung drohe ihnen Verfolgung wegen oppositioneller Gesinnung durch wahhabitische Widerstandskämpfer, weil der BF1 sich nicht rekrutieren habe lassen. Bei einer Rückkehr der BF wäre damit zu rechnen, dass sie gefoltert und getötet würden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liege nicht vor, weil die Widerstandskämpfer sehr gut vernetzt wären und man die BF überall finden könne. Die Behörde hätte jedoch schon alleine angesichts der prekären Sicherheitslage für Personen aus Dagestan den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gehabt. Letztlich sei zur erfolgreichen Integration der BF auf deren gute Deutschkenntnisse zu verweisen und auf die beigelegte Unterschriftenliste bzw. ein Konvolut an Unterstützungsschreiben. Weiters wurden zwei Zeitungsberichte über die BF vorgelegt.

4.1. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 29.06.2018, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF1 und der BF2 in Anwesenheit ihres Vertreters sowie einer Dolmetscherin der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Die BF legten in Kopie Ladungen des BF1 vom 23.11.2017 und vom 20.03.2018 XXXX vor. Der BF1 sei als Zeuge in einem strafrechtlichen Verfahren geladen worden, die Verfahrensnummer sei auf beiden Ladungen gleich.

Der BF1 brachte dazu vor, dass seine Mutter ihm diese Ladungen vor einer Woche geschickt habe. Bis auf die Ladungen sei es jedoch zu keinen neuen Vorfällen gekommen. Er habe zu seiner Mutter, seinem Vater und seiner Schwester Kontakt, zuletzt habe er vor ein paar Tagen mit seiner Mutter gesprochen. Es kämen regelmäßig Leute zu ihnen und würden nach dem BF1 fragen.

Der BF1 brachte im Wesentlichen wie bisher vor, dass er erstmalig im Jänner 2013 morgens von Polizisten abgeholt worden sei und für zwei Tage in einen Keller verbracht worden sei, wo man ihn brutal zusammengeschlagen habe. Man habe ihn zu seinem ehemaligen Nachbarn, der im Jahr 2012 umgebracht worden sei, befragt, nach zwei Tagen sei er schließlich freigekommen. Zwei Monate später sei er vor dem Geschäft, wo seine Frau gearbeitet habe, wiederum von Polizisten mitgenommen worden. Man habe einen Sack über seinen Kopf gezogen, weshalb er nicht genau sagen könne, wo er hingebracht worden sei. Die Polizisten hätten ihn wieder zu seinem Nachbarn befragt, woher er ihn kenne, wo er mit ihm gewesen sei, dabei hätten sie den BF1 mit Wasserflaschen geschlagen. Man habe ihm Fotos gezeigt, wo er gemeinsam mit seinem Nachbarn im Garten zu sehen gewesen sei, wobei der BF1 versucht habe zu erklären, dass sie nur Nachbarn gewesen seien und er niemals mit ihm gearbeitet habe. Damit meine er Unterstützungsleistungen im Zusammenhang mit Terroraktionen, Involvierung in terroristische Aktivitäten, was er verneint habe. Es wären fünf Polizisten gewesen, immer wenn der BF1 verneint habe, etwas zu wissen, sei er schrecklich geschlagen, bespuckt und beleidigt worden. Am nächsten Tag hätten ihn Polizisten abgeholt und mit dem Auto irgendwo hingebracht, wo sie ihn rausgeschmissen hätten. Man habe ihn vor allem im Bauchbereich geschlagen, er habe am ganzen Körper blaue Flecken gehabt, vor allem auf der linken Rumpfhälfte, bis heute habe er Probleme. Zum Arzt sei er allerdings nicht gegangen, erst in Österreich sei er beim Arzt gewesen. Seine Frau habe gesehen, wie er von den Polizisten mitgenommen worden sei, diese habe durch ihren Chef versucht, den BF1 wieder freizubekommen. Nach diesem Vorfall sei eineinhalb Jahre Ruhe gewesen. Der BF1 habe mittlerweile als Taxifahrer gearbeitet, als eines Tages drei Fahrgäste eingestiegen wären, der Beifahrer habe ihm eine große Tasche voller Geld gezeigt und ihm gesagt, dass er das Geld erhalte, wenn er mit ihnen zusammenarbeite. Er vermute, es habe sich um Wahhabiten gehandelt. Der BF1 habe abgelehnt, woraufhin diese Leute ihm gesagt hätten, sie wüssten alles über ihn und dass sie ihn in einer Woche wiedersehen würden. Zwei Wochen später wären wieder drei Gäste eingestiegen, der Beifahrer sei derselbe gewesen, sie wären bewaffnet gewesen, der Beifahrer habe seine Pistole auf seinen Schoß gelegt. Sie wären in eine Siedlung gefahren und diese Leute hätten gesagt, ob er sich jetzt anders entschieden habe, was der BF1 verneint habe. Daraufhin hätten sie ihn aus dem Auto gezerrt und ihn geschlagen und gesagt, seine Familie und er wären bereits Leichen, als der BF1 sich wieder gefasst habe, wären alle drei wieder weg gewesen. Die BF2 sei dann mit den Kindern zu einer Tante in ein Bergdorf gefahren, er selbst habe zwei bis drei Monate in einer leerstehenden Wohnung eines Bekannten gelebt. Einen Monat später habe er einen Anruf eines Unbekannten erhalten, der seinen Aufenthaltsort gekannt habe und der ihm gedroht habe, dass er und seine Familie gefunden und umgebracht würden. Über Nachfrage, warum diese Leute ihn ausgewählt hätten, gab der BF1 an, dass er das nicht wisse, auch wisse er nicht, ob es in Zusammenhang mit diesem Nachbarn stehe. Er habe seine Gattin angerufen und ihr gesagt, sie solle das Land verlassen. Er selbst sei nach Moskau gegangen, wo er ein halbes Jahr gelebt habe, einmal hätten ihn Polizisten mitnehmen wollen, der BF1 habe jedoch sehr laut gesprochen, wodurch er Aufsehen bei anderen Passanten erregt habe und die Polizisten von ihm abgelassen hätten. Am nächsten Tag sei er zu einer Polizeistelle gegangen, um das Verhalten jener Polizisten anzuzeigen, wo man ihm mitgeteilt habe, dass das Verfahren an seiner Meldeadresse abgehalten werden würde. Eigentlich habe er sich nur erkundigen wollen, ob Polizisten so mit einem umgehen dürfen, weil er ja nichts gemacht habe. Er habe wissen wollen, ob er Schutz von der Polizei bekäme und habe sich als jemand anderes ausgegeben. Nach diesem Vorfall sei er zurück nach Dagestan, wo er von einem Mann mit dem Auto geschnitten worden sei und schließlich von zwei Personen festgehalten worden sei, einer davon habe ein Messer gehabt, der BF1 habe sich jedoch befreien können. Er vermute es habe sich bei einer der Personen um die Wahhabiten aus dem Taxi gehandelt. Er habe dann von seiner Schwiegermutter den Aufenthaltsort seiner Frau und seiner Kinder erfahren. Auf Nachfrage führte der BF1 an, dass er keine Telefonnummer von ihr gehabt habe, als er in Moskau gewesen sei und deshalb wieder zurück nach Dagestan habe gehen müssen.

4.2. Am 13.07.2018 fand eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei der die BF2 einvernommen. Diese brachte im Wesentlichen wie bisher vor, dass sie wegen der Probleme ihres Gatten das Herkunftsland verlassen habe und es auch für sie und ihre Kinder in Dagestan gefährlich gewesen sei. Sie habe erst wieder Kontakt zu ihrem Mann gehabt, als dieser in Österreich gewesen sei. Sie habe den Nachbarn auch gekannt, er sei XXXX gewesen und später habe sie erfahren, dass er ein Kämpfer gewesen sei. Im Herkunftsland würden sich ihre Eltern und ihre drei Geschwister aufhalten, außerdem fünf Onkel und drei Tanten, sie habe in Dagestan die Matura gemacht, eine Berufsausbildung habe sie nicht absolviert. In Österreich beziehe sie Grundversorgung, sei aber immer wieder als Reinigungskraft in der Gemeinde und in der Schule tätig, sie habe bereits als Kindergartenhelferin und als Dolmetscherin gearbeitet. Sie habe den B1 Deutschkurs zuletzt und einen Dolmetscherkurs besucht. Künftig wolle sie in der Altenpflege arbeiten und in diesem Bereich eine Ausbildung machen. Bei einer Rückkehr nach Dagestan befürchte sie, dass sie von den Terroristen und der Polizei gefunden werden und sie keine Ruhe finden könnten. Jede Information werde an die Polizei weitergeleitet, wenn sie sich Ummelden zum Beispiel, das gelte für die gesamte Russische Föderation. Auch die Wahhabiten würden sie in ganz Russland finden, das hätten diese Leute zu ihrem Mann gesagt. Zu den Ladungen führte sie an, dass die Polizei damit beweisen habe wollen, dass ihr Mann nicht vergessen worden sei und sie ihn jederzeit befragen könnten.

4.3. In einer schriftlichen Stellungnahme des Vertreters der BF vom 12.07.2017 wurde u.a. wiederholt, dass aus den letzten Kurzinformationen hervorgehe, dass Vladimir Vasiliev seit 03.10.2017 zum kommissarischen Leiter von Dagestan eingesetzt worden sei, der Berichten zufolge als "Putin's starker Mann" gelte und dessen Hauptaufgabe in der Bekämpfung von Korruption und vor allem Anti Terroroperationen liege. Im Januar und Februar 2018 sei die gesamte Regierung Dagestans entlassen worden und eine Säuberungskampagne unter Einsatz föderaler Sicherheits- und Rechtsschutzorgane durchgeführt worden. Im Jahr 2018 sei es immer wieder zur Festnahmen mutmaßlicher Rebellen gekommen. Muslime, die religiösem Extremismus nahestehen oder unter ausländischem Einfluss stünden, würden in Dagestan als Wahhabiten bezeichnet.

4.4.Die beschwerdeführenden Parteien brachten im Zuge ihres

Verfahrens folgende Unterlagen in Vorlage:

Hinsichtlich des BF1:

-

Arbeitsvorvertrag einer GmbH im Falle der Erlangung eines Aufenthaltstitels;

-

Ärztlicher Befund einer Fachärztin für Psychiatrie vom 21.11.2017, Diagnose: depressive Reaktion, entsprechende Psychopharmaka wären verordnet;

-

Teilnahmebestätigung für einen Deutschkurs B1 vom 15.10.2018;

-

Teilnahmebescheinigung vom 02.06.2017 Deutsch Modul D "Kommunikation A2";

-

Diverse Unterstützungsschreiben.

Hinsichtlich der BF2:

-

Bestätigungsschreiben der Caritas vom 28.05.2018 über Freiwilligenarbeit;

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Praktikumsbestätigung der Caritas über ein freiwilliges Helferinnenpraktikum bei einem Kindergarten von XXXX.2018 bis 23.03.2018;

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Bestätigungsschreiben einer Gemeinde vom XXXX.2016, wonach die BF2 von Juli bis Oktober 2015 im Rahmen der gesetzlichen Arbeitsmöglichkeiten während des Asylverfahrens im öffentlich gemeinnützigen Bereich Tätigkeiten verrichtet habe, es sei beabsichtigt, sie im Rahmen der Beschäftigungsmöglichkeiten wieder einzusetzen;

-

Diverse Unterstützungsschreiben;

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Teilnahmebestätigung Deutschkurs B1 vom 02.10.2017 und vom 15.10.2018;

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Teilnahmebescheinigung vom 02.06.2017 Deutsch Modul D "Kommunikation A2";

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Teilnahmebescheinigung vom 07.04.2017 Deutsch A2 Modul C;

-

ÖSD Zertifikat A1 vom 06.10.2016;

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Diverse Deutschkursbestätigungen;

-

Bestätigungsschreiben der Caritas über Dolmetscher Tätigkeit der BF2 vom15.07.2017;

-

Teilnahmebestätigung eines Seminars Vom Verstehen und Verstanden werden- Dolmetschen von und für MigrantInnen vom 03.03.2017.

Hinsichtlich der BF3:

-

Semesterinformation der Klasse 2 (3. Schulstufe) einer Volksschule;

-

Protokoll über die mündliche Information zum Jahresende der dritten Klasse, wobei die BF3 nur hinsichtlich der Lesekompetenz nicht die beste Bewertung bekam.

Hinsichtlich der BF4:

-

Semesterinformation der Klasse 1 (2. Schulstufe) einer Volksschule.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF, ein Ehepaar und deren zwei Töchter sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Der BF1 gehört der tschetschenischen Volksgruppe, die BF2 der Volksgruppe der XXXX an. Sie sind muslimischen Glaubens. Vor ihrer Einreise nach Österreich hielten sie sich in Dagestan auf, wo sie auch aufwuchsen. Ihre Identität steht fest.

Nachdem ein Nachbar der BF im Jahr 2012 bei einem Schusswechsel mit der Polizei als Terrorismusverdächtiger erschossen wurde, ist der BF1 seitens der dagestanischen Polizei unter dem Verdacht mit seinem Nachbarn zusammengearbeitet zu haben, Anfang 2013 zwei Mal angehalten, verhört und dabei brutal geschlagen worden. Seither ist der BF von der Polizei seines Herkunftslandes nicht mehr verfolgt worden.

Nicht festgestellt werden kann, dass islamistische Extremisten versucht hätten, den BF1 zu rekrutieren.

Der BF1 hat sich bis Ende September 2015 etwa ein halbes Jahr in Moskau aufgehalten, wo er über einen Bekanntenkreis verfügt, der ihn unterstützt hat, und er auch eine Wohnung gemietet hat.

Die BF halten sich bis auf den BF1, der im September 2015 nach Österreich eingereist ist, seit April 2015 im Bundesgebiet auf.

Die BF sind im Wesentlichen gesund, beim BF1 wurde eine depressive Reaktion diagnostiziert.

Im Herkunftsland halten sich die Eltern, eine Schwester sowie zahlreiche Onkeln und Tanten des BF1 sowie die Eltern, zwei Brüder, eine Schwester sowie zahlreiche Onkeln und Tanten der BF2 auf.

Der BF1 verfügt über Schulbildung auf Reifeprüfungsniveau, ist arbeitsfähig und war im Herkunftsland im Bereich Wohnungssanierungen und Innenausbau und als freiberuflicher Taxilenker erwerbstätig. Die BF2 verfügt über Schulbildung auf Reifeprüfungsniveau, ist arbeitsfähig und war im Herkunftsland als Verkäuferin in einem Geschäft erwerbstätig. Über eine Berufsausbildung verfügen beide nicht. Der BF1 hat im Herkunftsland einen Kurs über Innenausbau und die BF2 einen Kurs über Heimpflege besucht, der ihr ermöglicht Familienmitglieder zu betreuen.

Der BF1 und die BF2 haben einen A2 Deutschkurs positiv absolviert und haben zuletzt einen B1-2 Kurs besucht. Die BF beziehen seit ihrer Einreise Grundversorgung und leben in einem Flüchtlingsheim. Der BF1 verfügt über zwei Arbeitsplatzzusagen bzw. konnte einen Arbeitsvorvertrag vorlegen. Der BF1 leistet je nach Bedarf einmal in der Woche unentgeltlich Hilfstätigkeiten im Rahmen der Betreuung von alten und kranken Menschen und hat im Sommer 2016 und 2017 auch gemeinnützige Tätigkeiten für die Aufenthaltsgemeinde erbracht. Die BF2 betreut unentgeltlich für 2 Stunden in der Woche kranke Leute in einem Altersheim, und hat drei Wochen ein Praktikum als Helferin in einem Kindergarten absolviert. Sie war auch als Dolmetscherin gemeinnützig aktiv.

Die 12-jährige BF3 und die 8-jährige BF4 sprechen die deutsche Sprache und besuchen österreichische Schulen, wo sie gute Leistungen erbringen und sozial integriert sind. Die BF haben im Bundesgebiet umfassende soziale Kontakte geknüpft und verfügen über einen großen Freundes- und Bekanntenkreis.

Sie sind strafgerichtlich unbescholten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt sind. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefen, in ihrem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Dagestan ausgegangen:

1. Politische Lage im Allgemeinen

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).

Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017

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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017

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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017

1.1. Politische Lage in Dagestan im Besonderen

Dagestan belegt mit einer Einwohnerzahl von knapp drei Millionen Menschen (2% der Gesamtbevölkerung Russlands) den dritten Platz unter den Republiken der Russischen Föderation. Über die Hälfte der Einwohner (54,9%) sind Dorfbewohner. Die Bevölkerung in Dagestan wächst verhältnismäßig schnell. Im Unterschied zu den faktisch monoethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann. Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014, vgl. ACCORD 14.4.2017).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der der Staat mit aller Härte gegen "Aufständische" vorgeht. Die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern war in den Jahre 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen. Aktionen von Sicherheitskräften nehmen auch die Familienangehörigen von bewaffneten Untergrundkämpfern ins Visier (AA 24.1.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in dem Kadyrow'schen Privatstaat. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Wie im Abschnitt über Dagestans Völkervielfalt erwähnt, stützt die ethnische Diversität ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. So hatte der Vielvölkerstatus der Republik das Amt eines Präsidenten oder Republikführers lange Zeit verhindert. Erst Anfang 2006 setzte der Kreml den Awaren Muchu Alijew als Präsidenten an die Spitze der Republik. Alijew war in sowjetischer Zeit ein hochrangiger Parteifunktionär und bekleidete danach zehn Jahre lang den Vorsitz im Parlament Dagestans. Er galt als "Mann des Volkes" in einer Republik, in der politische Macht bislang an die Unterstützung durch lokale und ethnische Seilschaften gebunden war. Alijew, so schien es anfangs, stand über diesen Clan-Welten. Doch die Hoffnung auf Korruptionsbekämpfung und bessere Regierungsführung wurde enttäuscht. Moskau ersetzte ihn 2009 durch Magomedsalam Magomedow, einen Sohn des langjährigen Staatsratsvorsitzenden, der als Präsidentenersatz fungiert hatte. Damit verschob sich die politische Macht im ethnischen Spektrum von den Awaren wieder zu den Darginern. Der neue Präsident war mit Hinterlassenschaften der 14-jährigen Herrschaft seines Vaters Magomedali Magomedow konfrontiert, die sein Amtsvorgänger Alijew nicht hatte bewältigen können. Das betraf vor allem Korruption und Vetternwirtschaft. In Dagestan bemühte sich Magomedow vor allem um einen Dialog zwischen den konfessionellen Konfliktparteien der Sufiten und Salafisten und um eine Reintegration der "Waldbrüder", des bewaffneten Untergrunds also, in die Gesellschaft. Er berief auch einen dagestanischen Völkerkongress mit fast 3.000 Teilnehmern ein, der im Dezember 2010 religiösen Extremismus und Terrorismus verdammte und die Bevölkerung aufrief, den Kampf gegen den bewaffneten Untergrund zu unterstützen. Ein Ergebnis des Kongresses war die Schaffung eines Komitees für die Reintegration von Untergrundkämpfern. Doch auch Magomedsalam Magomedow gelang es nicht, die Sicherheitslage in Dagestan zu verbessern. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramsan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus; 1999/2000 hatte er kurzzeitig das ein Jahr später abgeschaffte föderale Ministerium für Nationalitätenbeziehungen geleitet. Damit trat abermals ein Hoffnungsträger an die Spitze der Republik, der als Erstes der Korruption und dem Clanismus den Kampf ansagte. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagiert Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015).

Laut Swetlana Gannuschkina ist Abdulatipow ein alter sowjetischer Bürokrat. Sein Vorgänger Magomedsalam Magomedow war ein sehr intelligenter Mann, der kluge Innenpolitik betrieb. Er hatte eine Diskussionsplattform organisiert, wo verfeindete Gruppen miteinander gesprochen haben. Es ging dabei vor allem um den Dialog zwischen den Salafisten und den Anhängern des Sufismus. Unter ihm haben auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von Seiten der Polizei aufgehört. Er hat eine sogenannte Adaptionskommission eingerichtet. Diese Kommission hatte die Aufgabe, Kämpfern von illegal bewaffneten Einheiten eine Rückkehr ins bürgerliche Leben zu ermöglichen. Diejenigen, die kein Blut an den Händen hatten, konnten mit Hilfe dieser Kommission wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. Wenn sie in ihrem bewaffneten Widerstand Gewalt angewendet oder Verbrechen begangen hatten, wurden sie zwar verurteilt, aber zu einer geringeren Strafe. Auch diese Personen sind in die dagestanische Gesellschaft reintegriert worden. Mit der Ernennung Abdulatipows als Oberhaupt der Republik gab es keine Verhandlungen mehr mit den Aufständischen und er initiierte einen harten Kampf gegen den Untergrund. Dadurch stiegen die Terroranschläge und Gewalt in Dagestan wieder an (Gannuschkina 3.12.2014, vgl. AI 9.2013).

Quellen:

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ACCORD (14.4.2017): Themen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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