TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/12 L521 2163376-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.10.2018
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Entscheidungsdatum

12.10.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L521 2163376-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2017, Zl. 1085399603-151234614, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 29.08.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 31.08.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien am Tag der Antragstellung gab der Beschwerdeführer an, den im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in Bagdad geboren und habe dort zuletzt auch gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der schiitischen Glaubensrichtung und ledig.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak im August 2015 legal von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Izmir sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und dort von der Polizei aufgegriffen worden. Er habe einen Landesverweis erhalten und sei in der Folge zunächst mit der Fähre auf das Festland gebracht worden und anschließend mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln und teilweise zu Fuß nach Österreich gelangt.

Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er gemeinsam mit seinem Bruder als Schweißer gearbeitet habe. Im Mai 2015 habe eine Gruppe von Männern von seinem Bruder gefordert, dass dieser Pistolen für sie schweißen solle. Nachdem er sich geweigert habe, sei er angeschossen worden. Er selbst habe daraufhin aus Angst um sein Leben den Irak verlassen.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 20.06.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, einvernahmefähig zu sein und die arabische Sprache zu verstehen.

Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe im Irak die Volksschule besucht und den Beruf des Schlossers erlernt, außerdem habe er als Installateur und als Maler gearbeitet. Er habe als Schlosser Türen, Fenster und Wohncontainer montiert. Die Werkstätte habe seinem Bruder gehört und sei im Bezirk XXXX gelegen. Gelebt habe er ebenfalls in Bagdad und zwar im Bezirk XXXX. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern würden derzeit im Irak leben, sein Vater sei pensionierte Polizist und seine Mutter führe den Haushalt. Im Irak lebten auch seine zwei Brüder, die verheiratet wären und als Schlosser arbeiten würden. Sein Verhältnis zur Familie sei normal und er stehe mit dieser in Kontakt.

Den Irak habe er verlassen, da eines Tages drei oder vier Personen zu ihm und seinen Bruder gekommen wären. Diese worden vermummt gewesen und hätten seinen Bruder aufgefordert, Schalldämpfer für sie zu erzeugen. Danach wären sie wieder weggegangen. Noch am selben Tag hätten sie ihren Vater über den Vorfall informiert und am nächsten Tag zunächst die Eltern und den gemeinsamen Bruder Ahmad nach XXXX geschickt. Er und sein Bruder hätten in der Folge einen Klein-LKW mit den Habseligkeiten beladen. In diesem Moment sei ein Auto vorbeigefahren und hätten Personen daraus das Feuer eröffnet. Sein Bruder sei am Bein getroffen worden, er selbst sei unverletzt geblieben. Nachdem er seinen Bruder in ein Krankenhaus gebracht habe, habe er seinen Eltern erklärt, dass er den Irak verlassen werde, den Reisepass bei seiner Tante abgeholt und daraufhin einen Reisebus in die Türkei bestiegen.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person aus, der Beschwerdeführer sei von Privatpersonen zu einer illegalen Tätigkeit aufgefordert worden und sei ein Schussattentat wider den Beschwerdeführer nicht auszuschließen. Eine Gefährdung durch staatliche Organe können nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer sei auch im Fall einer Rückkehr keiner Gefährdung durch staatliche Organe ausgesetzt, er Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und sei ihm eine Rückkehr zumutbar und möglich. Hinsichtlich einer Rückkehr habe er nur "eine unspezifische Angst vor unbekannten Akteuren als Hinderungsgrund angegeben".

In der Beweiswürdigung wird diesbezüglich dargelegt, das Vorbringen des Beschwerdeführers werde der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt, ungeachtet des Umstandes, dass dieses als nicht nachvollziehbar erachtet werde.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Der vom Beschwerdeführer geschilderte Vorfall sei ein krimineller Akt, dem ein Bezug zu einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Schutzgrund fehlen würde. Der Beschwerdeführer habe außerdem nicht versucht, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen, obwohl ein solcher in Gestalt der irakischen Sicherheitskräfte grundsätzlich zur Verfügung stehen würde.

Dem Beschwerdeführer sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak über genügend Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem Beschwerdeführer sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.

4. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

5. Gegen den dem Beschwerdeführer am 17.06.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der beigegebenen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt habe ihn unzureichend befragt. Im Falle entsprechender Nachfragen hätte er darlegen können, dass er "die starke Vermutung" habe, dass die Bedroher Milizen angehören würden, da derartige Vorfälle oftmals von Milizen ausgehend würden. Das belangte Bundesamt habe die angefochtene Entscheidung außerdem auf unvollständige Länderberichte gestützt und insbesondere Ermittlungen zur Lage von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland nach erfolgloser Asylantragstellung unterlassen. Dem Bundesamt werde außerdem eine mangelhafte Beweiswürdigung zur Last gelegt.

6. Die Beschwerdevorlage langte am 05.07.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am 20.12.2017 langte eine Beschwerdeergänzung beim Bundesverwaltungsgericht ein, worin der Beschwerdeführer darlegt, homosexuell zu sein und seine sexuelle Orientierung bereits im Irak ausgelebt zu haben. Seine sexuelle Orientierung sei nicht der Grund für die Ausreise gewesene, weshalb er bislang dazu nicht vorgebracht habe. Dem Beschwerdeführer falle außerdem nach wie vor schwer, vor anderen Personen über seine sexuelle Orientierung zu sprechen, weshalb er auch nicht in der Lage gewesen sei, diesen Aspekt bei seiner Einvernahme darzulegen. Auch wenn er im Irak bis zur Ausreise keine Schwierigkeiten gehabt habe, fürchte er im Fall einer Rückkehr Verfolgung von staatlicher Seite sowie durch die Gesellschaft, weshalb er dazu gezwungen wäre, seine sexuelle Orientierung im Geheimen auszuleben. Aufgrund der Lage von homosexuell orientierten Personen im Irak sei ihm der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

Zum Beweis seines Vorbringens wird in der Beschwerdeergänzung die Einvernahme einer Person beantragt, mit der der Beschwerdeführer "bereits geschlechtliche Beziehungen" gepflegt habe.

8. Für den 06.07.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung anberaumt und dazu der Beschwerdeführer, seine rechtsfreundliche Vertretung und der namhaft gemachte Zeuge geladen. Die an den Beschwerdeführer und den Zeugen gerichteten Ladungen wurden dem Bundesverwaltungsgericht jeweils mit dem Vermerk "unbekannt" zurückgestellt. Eine neuerliche Zustellung Ladung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes scheiterte zunächst, da der Beschwerdeführer an seiner Meldeadresse nicht angetroffen werden konnte.

Am 27.06.2018 langte eine Vollmachtsaufkündigung der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe beim Bundesverwaltungsgericht ein, da sich der Beschwerdeführer trotz Fristsetzung nicht bei der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe gemeldet habe.

Am 28.06.2018 erschien der Beschwerdeführer schließlich bei der Polizeiinspektion St. Pölten Bahnhof und behob die hinterlegte Ladung.

Am 06.07.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Seitens des erschienenen Vertreters der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe wurde die neuerliche Übernahme der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers bekannt gegeben. Aus zeitlichen Gründen und weil der geladene Zeuge nicht erschienen war erfolgte einer Vertagung. Seitens des Beschwerdeführers wurden im Verlauf der Verhandlung Lichtbilder und ein Dokument in arabischer Sprache betreffend den Spitalsaufenthalt des Bruders als weitere Beweismittel in Vorlage gebracht.

9. Am 29.08.2018 wurde die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache fortgesetzt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert, welche dem Beschwerdeführer ausgefolgt und eine Stellungnahme hiezu freigestellt wurde. Außerdem wurde nach nunmehr erfolgreicher Ladung XXXX, als Zeuge einvernommen.

10. Mit Telefax vom 10.09.2018 übermittelte die rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zu den in der mündlichen Verhandlung ausgehändigten Länderdokumentationsunterlagen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX, er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort zuletzt im Bezirk XXXX gemeinsam mit der Familie in einem Haus im Eigentum seines Vaters. Der Beschwerdeführer bekennt sich zum Islam der schiitischen Glaubensrichtung, erachtet sich jedoch nicht als gläubig und praktiziert seine Religion nicht. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule im Ausmaß von vier Jahren. Im Anschluss an den Schulbesuch trat der Beschwerdeführer in das Erwerbsleben ein und erlernte den Beruf des Schlossers. Bis zur Ausreise war er in diesem Beruf tätig, zuletzt in einer von seinem Bruder XXXX betriebenen Werkstätte in Bagdad im Bezirk XXXX. Der Beschwerdeführer montierte dorr Türen, Fenster und Wohncontainer, nebenbei war er auch als Maler und Installateur tätig.

Die Eltern des Beschwerdeführers leben derzeit in der Stadt XXXX im Irak, sein Vater ist pensionierter Polizist und seine Mutter führt den Haushalt. Der Beschwerdeführer hat außerdem zwei Brüder, die beide verheiratet sind und sich im Irak aufhalten. Die Brüder des Beschwerdeführers erlernten ebenfalls den Beruf des Schlossers. Der Beschwerdeführer steht eigenen Angaben zufolge nicht mit seinen Angehörigen in Kontakt. In Bagdad leben außerdem Onkeln väterlicherseits und ein Onkel mütterlicherseits sowie Tanten mütterlicherseits des Beschwerdeführers.

An einem nicht feststellbaren Tag im Juni, Juli oder August 2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal von Bagdad ausgehend in die Türkei. In weiterer Folge gelangte er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und von dort aus mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln nach Österreich, wo er am 31.08.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat vor der Ausreise Drohungen oder Übergriffen einer schiitischen Miliz oder eines ihrer Mitglieder ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat Drohungen oder Übergriffen einer schiitischen Miliz oder einer Zwangsrekrutierung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Ferner kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer homosexuell orientiert ist. Er hat auch keine individuelle Gefährdung oder psychische und/oder physische Gewalt im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat aufgrund einer ihm unterstellten homosexuellen Orientierung zu befürchten.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit hinreichender Ausbildung in der Schule und mehrjähriger Berufserfahrung im Herkunftsstaat als Schlosser. Der Beschwerdeführer verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat und dort in seiner Heimatstadt Bagdad sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft.

Dem Beschwerdeführer steht ferner die Möglichkeit offen, sich in XXXX anzusiedeln. Er verfügt auch dort über eine gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft.

Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens im Herkunftsstaat möglich und zumutbar.

Der Beschwerdeführer verfügt über ein irakisches Ausweisdokument im Original (Personalausweis).

1.4. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 31.08.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Er bewohnt derzeit in einer Wohngemeinschaft für Asylwerber in St. Pölten gemeinsam mit einer weiteren Person ein Zimmer. Zuvor war der Beschwerdeführer in Unterkünften für Asylwerber in XXXX und in der Gemeinde XXXX untergebracht, bevor er am 07.02.2017 eigenmächtig nach Wien verzog. Da er dort keine Grundversorgung beziehen konnte, kehrte er am 03.05.2017 nach Niederösterreich zurück und lebt seither in St. Pölten.

Der Beschwerdeführer ist nicht legal erwerbstätig und er hat auch keine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht. Er ist derzeit als Erntehelfer tageweise erwerbstätigt, ohne bei der Sozialversicherung angemeldet zu sein.

Der Beschwerdeführer verrichtete in einem nicht feststellbaren Zeitraum Remunerationstätigkeiten für die Gemeinden XXXX und XXXX in Niederösterreich. Derzeit verrichtet er weder Remunerationstätigkeiten, noch gemeinnützige Arbeit.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte, vorwiegend mit Personen aus dem arabischen Kulturkreis. Für Freizeitaktivitäten begibt er sich etwa einmal in der Woche in die Bundeshauptstadt Wien. Er ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer mit dem syrischen Staatsangehörigen XXXX, in einer Beziehung lebt.

Der Beschwerdeführer besuchte in einem nicht feststellbaren Zeitraum im Jahr 2016 Deutschkurse, er verfügt jedoch über keine Kursbestätigungen und legte keine Prüfungen über Kenntnisse der deutschen Sprache ab. Seit der Wohnsitznahme in St. Pölten besucht er keine Deutschkurse. Er verfügt über nur rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.5. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017).

Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück (siehe hiezu die untenstehende Karte). Details dazu siehe Punkte

1.1. und 2.4.

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften).

Wahlen & Premierminister

Die nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).

Abadis Reformen waren nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).

Am 12.5.2018 wurden im Irak neuerlich Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteilung lag bei 44,5 Prozent - die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist und 54 Sitze erreichte. Auf zweitem Platz liegt mit 47 Sitzen das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt mit 42 Sitzen nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018). Die Sitzverteilung stellt sich wie Folgt dar:

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Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herumhandle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).

Eine neue Regierung wurde bislang noch nicht gebildet, da keiner der Wahlblöcke eine Mehrheit erreichte und deshalb Koalitionsverhandlungen geführt werden müssen.

2. Sicherheitslage

Hintergrund

Nachdem die irakische Armee im Sommer 2014 vorübergehend Auflösungserscheinungen zeigte und dem IS kampflos große Gebiete des Landes überließ (Spiegel 15.6.2014), veröffentlichte der schiitische Religionsführer im Irak, Großayatollah Ali al-Sistani einen Aufruf zur Mobilisierung gegen den IS, infolge dessen sich zahlreiche schiitische Milizen gründeten. Auch ältere schiitische Milizen aus der Zeit der religiös motivierten Gewalt von 2006 gewannen wieder an Einfluss. Mit Unterstützung des Irans konnten diese einen Angriff des IS auf die Hauptstadt verhindern und die Terrororganisation weiter nach Norden zurückdrängen. Seit Ende 2015 forciert Bagdad eine Regierungsoffensive gegen den IS, bei der mit Einsatz von schiitischen Milizen, sunnitischen Stammeskämpfern und Luftunterstützung der USA vorige IS-Hochburgen wie Ramadi und Fallujah zurückerobert werden konnten (ACCORD 12.2016). In den Jahren 2015 und 2016 wurden auch die Städte Tikrit, Hit, Rutba, sowie die Gegend um Sinjar, die sich unter der Kontrolle des IS befunden hatten, zurückerobert (ÖB 12.2016). Der bewaffnete Konflikt ging somit im Jahr 2016 unvermindert weiter (AI 31.12.2016), und mit Stand Dezember 2016 waren bereits 60 Prozent des Gebietes, das im Irak unter Kontrolle des IS stand, zurückerobert (ÖB 12.2016). Laut dem Irakexperten des "Institute for the Study of War", Patrick Martin, hat der IS im Irak mit Stand Juli 2017 nur noch etwa sieben Prozent des ursprünglichen IS-Gebietes unter seiner Kontrolle, gleichzeitig warnt er jedoch davor, den IS zu früh als mögliche weitere Bedrohung abzuschreiben (Daily Star 10.7.2017). Im Zuge der Rückeroberungen werden im Irak immer wieder zahlreiche Massengräber gefunden (Standard 11.5.2017; USDOS 3.3.2017, HRW 16.11.2016). Die Offensive zur Rückeroberung Mossuls startete im Oktober 2016 und am 9. Juli 2017 verkündete Premierminister Abadi (nach fast neun Monaten schwerer Kämpfe und fast einer Million Vertriebener) den erfolgreichen Abschluss derselben (OCHA 13.7.2017).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 10.5.2016).

Aktuelle Sicherheitslage

Nachdem Premierminister Abadi am 31. August 2017 die gesamte Provinz Ninewah für vom IS zurückerobert erklärt hatte (Rudaw 31.8.2017), liegt der Focus nun auf den Provinzen Anbar und Kirkuk. Am 21. September 2017 startete die Operation zur Rückeroberung der in der Provinz Kirkuk/Tameem liegenden Stadt Hawija und deren Umgebung (BAMF 25.9.2017). Bei der Operation nehmen irakische Truppen, sowie schiitische Milizen teil, die kurdischen Peschmerga sind derzeit nicht beteiligt (Al-Jazeera 23.9.2017). Das Gebiet liegt jedoch im von den Kurden für sich beanspruchten Gebiet (Al-Jazeera 27.9.2017). Gleichzeitig findet eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Anbar statt, an der die irakischen Sicherheitskräfte, einschließlich Polizeieinheiten und schiitischer PMF-Milizen (PMF: Popular Mobilization Forces) teilnehmen (Al-Monitor 26.9.2017).

In der Provinz Anbar haben sich irakische Regierungstruppen westlich von Bagdad heftige Gefechte mit dem IS geliefert. Laut Angaben eines irakischen Generals vom 27.9.2017 waren IS-Kämpfer in die Ortschaft al-Tach südlich der Stadt Ramadi sowie in das "Kilometer Sieben" genannte Gebiet westlich davon vorgedrungen (Standard 27.9.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

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(BBC 3.11.2017)

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(Liveuamap 17.11.2017, Stand 17.11.2017)

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Im Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Die Sicherheitslage im Irak hat sich nach der dramatischen Verschlechterung (vor allem durch den Vormarsch des IS ab Mitte 2014) in den Jahren 2015 und 2016 (mit Ausnahme von einigen vom IS zurückeroberten Gebieten) nicht verbessert (AA 7.2.2017). Es herrschen weiterhin Langzeit-Instabilität und Gewalt an mehreren Fronten gleichzeitig (OA/EASO 2.2017). Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen hat sie sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (AA 7.2.2017; vgl. ÖB 12.2016). Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninewah, ?ala? ad-Din und Diyala im Norden und Westen des Landes (AA 7.2.2017). Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter der Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen des IS an tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53 Prozent der Bevölkerung Iraks) sind von Gewalt betroffen (AA 7.2.2017). Zuletzt griff der IS am 4. Juli 2017 das Dorf Imam Gharbi, südlich von Qayyarah, an. Dabei gab es 170 Opfer, einige davon Zivilisten (OCHA 13.7.2017). Dem IS wird auch immer wieder vorgeworfen, Chemiewaffen einzusetzen (Zeit 16.4.2017). Laut World Health Organization (WHO) sind mögliche Fälle von Einsätzen von Chemiewaffen im Irak seit 2016 stark angestiegen, insbesondere in Mossul gibt es regelmäßig solche Berichte. Die WHO bezog jedoch nicht Stellung, ob die Chemiewaffeneinsätze auf das Konto des IS oder das von anderen Gruppen, die in die Kämpfe um Mossul verwickelt sind, gehen (New Arab 26.6.2017).

Neben den sicherheitsrelevanten Handlungen des IS wird auch von Gewalttaten gegen Zivilisten von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen berichtet (AA 7.2.2017). Die Milizen sind ein wichtiger Teil der Offensiven gegen den IS, gleichzeitig sind sie jedoch stark religiös/konfessionell motiviert, und es gibt zahlreiche Berichte über Racheakte insbesondere an der sunnitischen Bevölkerung (s. dazu ausführlich die Abschnitte zur Menschenrechtslage sowie den Abschnitt zu IDPs). Allgemein ergeben sich zunehmende Spannungen dadurch, dass die (vorwiegend) schiitischen Milizen der PMF zunehmend an Macht und Terrain gewinnen. Im Norden Iraks nimmt das Gebiet, das die Milizen im Zuge der Mossul-Rückeroberungsoffensive unter ihrer Kontrolle haben, stark zu. (BBC 3.12.2016). Im Nordwesten des Irak eroberten pro-iranische schiitische Milizen beispielsweise die Stadt Baadsch im irakisch-syrischen Grenzgebiet vom IS zurück. Weitere Vorstöße erfolgten in Richtung der Stadt Al-Qaim. Der Sprecher der Volksmobilisierungseinheiten, Karim al-Nuri, betonte zudem, dass in Koordination mit dem syrischen Regime der IS auch auf syrischem Boden bekämpft wird. Die neue Dominanz der pro-iranischen Milizen im Grenzgebiet stößt auf heftige Kritik der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) in Syrien, die davor warnen syrisches Territorium zu betreten. Ein Einmarsch der schiitischen Milizen würde neue Spannungen zwischen den von den USA unterstützten Kurden und den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen schaffen. Premierminister Abadi kritisierte die Aussage des Kommandanten der Volksmobilisierungseinheiten und betonte, dass es gemäß Verfassung Irakern nicht gestattet ist, über die Grenzen des Landes hinaus zu kämpfen (IFK 9.6.2017).

Gewaltmonopol des Staates

Staatlichen Stellen ist es derzeit nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen sowie der IS handeln eigenmächtig. Dadurch sind die irakischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage, den Schutz der Bürger sicherzustellen (AA 7.2.2017). Insbesondere über den Nordwesten des Irak kann die Regierung nicht die Kontrolle behalten und muss sich auf die [vorwiegend] schiitischen Milizen der PMF verlassen. Die zwei wichtigsten davon sind Asaïb Ahl al-Haq (AAH) und die Badr-Brigaden, die beide [effektiv] unter dem Kommando des Iran stehen (Stansfield 26.4.2017). Durch die staatliche Legitimierung der Milizen verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Staatliche Ordnungskräfte können sich teilweise nicht mehr gegen die mächtigen Milizen durchsetzen (AA 7.2.2017).

Anschläge

Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden. Die Anschläge richteten sich wahllos und teils gezielt gegen Zivilpersonen auf belebten Märkten und öffentlichen Plätzen oder beim Besuch schiitischer Schreine (AI 22.2.2017). VBIEDs (vehicle-borne improvised explosive devices - Autobomben) und Sprengsätze von Selbstmordattentätern wurden auf öffentlichen Märkten, Sicherheitskontrollpunkten und in vorwiegend schiitischen Umgebungen zur Explosion gebracht (USDOS 3.3.2017). V.a. Städte waren im Fokus des IS. Bagdad war dabei am stärksten betroffen und war der Ort, an dem mehr als die Hälfte der gesamten Todesfälle passierten (USDOS 3.3.2017). Der IS stellt trotz der massiven Rückschläge, die er erlitten hat, im Irak weiterhin eine ernstzunehmende Gefahr dar, und seine Transformation zu einer Organisation, die ihre Ressourcen zunehmend für Aufstände, Guerilla-Angriffe und terroristische Anschläge benutzt, hat bereits begonnen (Daily Star 10.7.2017). Im Zusammenhang mit der Zurückdrängung des Kontrollgebietes des IS sieht das Institute for the Study of War (ISW) bereits jetzt ein (Wieder)-Erwachen von anderen aufständischen sunnitischen Gruppen, die durch die Schwächung des IS und den dadurch entstehenden Freiraum wieder Fuß fassen können. Regierungsfeindliche Gruppen formieren sich einerseits, weil die Sunniten im konfessionell geprägten Konflikt von der schiitisch dominierten Regierung weiterhin zunehmend marginalisiert werden, und sie Angst vor den an Bedeutung gewinnenden, vom Iran aus gelenkten schiitischen Milizen haben. Andererseits werden diese Probleme von Seiten radikaler Gruppen wie Al Qaeda und ex-/neo-baathistischen Gruppen wie Jaysh al-Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiya (JRTN) benutzt, um sunnitische Bürger für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Diese Gruppen sind - Annahmen des Institutes for the Study of War zufolge - bereits jetzt zunehmend für Anschläge im Irak verantwortlich (ISW 7.2.2017). Terroristische Organisationen sind im gesamten Irak weiterhin imstande tödliche Anschläge durchzuführen. Heimische Terrororganisationen sind dabei für den Großteil der Anschläge verantwortlich und sind in den meisten Fällen religiösen oder politischen Organisationen zuordenbar. Zu diesen Gruppen gehören neben dem (sunnitischen) IS auch die Peace Brigades von Muqtada al Sadr (schiitisch), sowie die ebenfalls schiitischen Gruppen Asa'ib Ahl al-Haq (AAH) und Kata'ib Hizballah (OSAC 1.3.2017).

2.1. Statistiken und Grafiken zur Sicherheitslage im Irak

Die irakische Regierung veröffentlicht selbst keine Zahlen zu den Opfern des bewaffneten Konfliktes mehr und ist im Gegenteil bemüht, das Ausmaß von Gewalttaten herunterzuspielen (Harrer 10.8.2017; vgl. Wing 20.7.2017).

UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq) dokumentierte für das Jahr 2017 3298 getötete Zivilisten. Für das Jahr 2016 wurden noch 6.878 Zivilisten dokumentiert, die durch "Terrorismus, Gewalt und bewaffnete Konflikte" getötet wurden. Dies sind geringfügig weniger als im Jahr 2015 mit 7.515 getöteten Zivilisten. Zu beachten ist, dass UNAMI bis November 2016 auch Bundespolizisten in die Statistik einbezog, und ab Dezember 2016 diese nicht mehr einbezog (UNAMI 2016/2017). Im Folgenden findet sich eine Statistik, die die Zahlen der von UNAMI dokumentierten monatlich getöteten Zivilisten darstellt:

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(Quelle: UNAMI 2016/2017; Darstellung: Staatendokumentation)

Laut UNAMI selbst wurde die Organisation bei der Erfassung der Opferzahlen behindert, die Zahlen sollten laut dieser als absolute Mindestangaben und nicht als vollständig angesehen werden. Die Organisation hat auch Berichte von großen Zahlen von Opfern erhalten, bezüglich welcher sie nicht die Möglichkeit hatte, diese zu verifizieren. Darüber hinaus hat UNAMI Berichte über große Zahlen von Menschen erhalten, die durch sekundäre Folgen der Gewalt ums Leben gekommen sind (Mangel an Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung), gestorben sind, die ebenfalls nicht in den Zahlen enthalten sind. Bei jenen Monaten mit Stern sind die Zahlen aus der Provinz Anbar zudem jeweils nicht enthalten (UNAMI 2016/2017). In jedem monatlichen Bericht UNAMI's werden jeweils die Zahlen zu den am stärksten betroffenen Provinzen angegeben. Im Monat Juni 2017 sind das beispielsweise die Provinzen Ninewa, Bagdad, Salahuddin und Babil. In den meisten der monatlichen Berichte der letzten Jahre war Bagdad jene Provinz mit den meisten zivilen Opfern, zuletzt trat diesbezüglich Ninewah in den Vordergrund. Zahlen zu den in geringerem Ausmaß betroffenen Provinzen werden nicht veröffentlicht (UNAMI 2016/2017).

Die folgende Tabelle zeigt eine Aufgliederung ziviler Opfer in den sechs am intensivsten von Gewalt betroffenen Provinzen im Zeitraum Juni 2014 bis November 2016 auf Basis von Daten von UNAMI:

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(UK Home Office 3.2017)

Iraqi Body Count (eine Datenbank, die von der in London ansässigen Firma Conflict Casualties Monitor betrieben wird) dokumentierte im Jahr 2016 16.393 Zivilisten, die durch Gewalt ums Leben kamen (also rund 2,4 mal so viele, wie UNAMI). Im Jahr davor wurden von Iraqi Body Count ca. 17.578 getötete Zivilisten dokumentiert. Die vorläufigen Zahlen des ersten Halbjahres 2017 (10.672) zeigen, dass diese Zahlen höher sind, als die der vier Halbjahre davor. Im Folgenden findet sich eine Grafik, die die von Iraqi Body Count dokumentierten monatlich durch Gewalt getöteten Zivilisten darstellt (die grauen Balken zeigen vorläufige Zahlen):

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(Iraqi Body Count 7.2017; Iraqi Body Count selbst weist darauf hin, dass auf Grund von Lücken bei Berichterstattung und Aufzeichnungen selbst die höchsten von Iraqi Body Count veröffentlichten Zahlen viele Fälle von durch Gewalt getöteten Zivilisten nicht enthalten).

Joel Wing, der unter anderem von BBC und CNN als Experte eingeladen wird, für die Jamestown Foundation geschrieben hat, immer wieder in einschlägigen Berichten (z.B. UK Home Office-Bericht zum Irak oder von der österreichischen Nahost-Expertin Gudrun Harrer) zitiert wird (LATimes 20.1.2017), veröffentlicht in seinem Blog "Musings of Iraq" ebenfalls Zahlen zu den Opfern von Gewalt im Irak. Die Statistiken von Joel Wing enthalten genaue Angaben zur Anzahl der Getöteten / getöteten Zivilisten / Verwundeten, etc. - und dies jeweils in Kombination mit der Art des Angriffes/Anschlages. Hier ein exemplarischer Ausschnitt aus einer solchen Auflistung:

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(MOI - Musings on Iraq 2016/2017)

Diese Auflistungen wurden von Seiten der Staatendokumentation im Folgenden zu Grafiken verdichtet. Laut Joel Wing handelt es sich bei diesen Zahlen der Vorfälle um keine Schätzungen, die versuchen das Gesamtausmaß zu erfassen, sondern um einzeln dokumentierte Fälle. Sie seien daher keinesfalls als erschöpfend anzusehen. Zudem würde die irakische Regierung aus Propagandagründen immer wieder aktiv Informationen über einige Vorfälle unterdrücken (Wing 20.7.2017).

Joel Wing dokumentierte im letzten Jahr (Zeitraum Juli 2016 - Juni 2017) im Irak 22.322 im Rahmen des bewaffneten Konflikts getötete Zivilisten. Insgesamt wurden von dieser Quelle im Irak im selben Zeitraum 7.083 Vorfälle dokumentiert, bei denen 26.545 Personen (Zivilisten und Nicht-Zivilisten zusammen) getötet und 36.582 verwundet wurden. Die folgende Grafik zeigt die von Joel Wing dokumentierten monatlichen Zahlen (Anm.: Im Zuge von Stammeskonflikten Getötete sind nicht inkludiert, im Zuge von "gewöhnlichen" kriminellen Handlungen Getötete (Raubüberfälle, Kidnapping, etc.), sind nur in manchen Provinzen inkludiert, s.u.):

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(Quelle: MOI - Musings on Iraq 2016/2017; Darstellung:

Staatendokumentation)

Eine Gegenüberstellung der drei Quellen (UNAMI, Iraqi Body Count und Joel Wing) bezüglich der Zahlen zu den getöteten Zivilisten zeigt folgende gravierenden Unterschiede (Zum Teil zeigen die Quellen Iraqi Body Count und Musings on Iraq drei bis sechs Mal so hohe Zahlen wie UNAMI an):

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(Quellen: UNAMI 2.7.2017, Iraqi Body Count 7.2017 und Musings on Iraq 2016/2017, Darstellung: Staatendokumentation)

Die detaillierte Aufschlüsselung der Zahlen von Joel Wing ermöglicht eine weitere Grafik, die die Zahlen der getöteten Personen (Zivilisten und Nicht-Zivilisten) zu den einzelnen Provinzen zeigen (Zeitraum Juli 2016 bis Juni 2017):

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(Quelle: MOI - Musings on Iraq 2016/2017; Darstellung:

Staatendokumentation)

Anm.: Die Provinz Ninewah ist auf Grund der extrem hohen Zahl von

18.369 getöteten Personen in dieser Grafik nicht enthalten. Die Grafik zeigt die laut dieser Quelle am stärksten betroffen Provinzen (ausgenommen Ninewa).

Anhand der von Joel Wing veröffentlichten Statistik lässt sich auch die folgende Grafik erstellen, die die dokumentierten Todesfälle von Zivilisten durch Gewalt/Terrorismus (Todesfälle durch Stammeskonflikte sind wiederum nicht inkludiert) in den letzten vier Monaten aufgeschlüsselt nach den meist betroffenen Provinzen zeigt (Ninewah wird auf Grund der enorm hohen Zahlen nicht angezeigt):

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(Quelle: MOI 2016/2017; Darstellung Staatendokumentation)

Im Country Policy and Information Note des UK Home Office findet sich eine ebenfalls auf Joel Wing's Zahlen beruhende Grafik zur Art der gewaltsamen Angriffe und Anschläge in den sechs am meisten betroffenen Provinzen des Irak zwischen Juni 2014 und Jänner 2017:

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(Quelle: UK Home Office 3.2017, Grafik anhand der Zahlen von Joel Wing)

Im Folgenden findet sich eine Tabelle mit Schätzungen der Bevölkerungszahlen der irakischen Provinzen (herausgegeben von der Republik Irak, mit Stand 2009):

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(Quelle: Republik Irak,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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