TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/21 W175 2148738-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.01.2019
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Entscheidungsdatum

21.01.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W175 2148736-2/20E

W175 2148739-2/15E

W175 2148738-2/8E

W175 2148737-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Neumann als Einzelrichter über die Beschwerde 1.) des XXXX, geboren am XXXX,

2.)

der XXXX, geboren am XXXX, 3.) des XXXX, geboren am XXXX, und

4.)

des XXXX, geboren am XXXX, afghanische Staatsangehörige, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.12.2017, Zahlen: 1.) 1075487000/150752315, 2.) 1075486504/150752358, 3.) 1075487207/150752340 und 4.) 1075487109/150752331, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden von XXXX, XXXX, XXXX und XXXX wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und XXXX, XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern XXXX, XXXX, XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (in Folge: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (in Folge: BF2) sind verheiratet, die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer (in Folge: BF3 und BF4) sind die gemeinsamen Söhne des BF1 und der BF2. Die BF brachten am 27.05.2015 nach unrechtmäßiger Einreise beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) einen Antrag gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (in der Folge: AsylG) ein.

2. Am 28.06.2015 Tag fanden die Erstbefragungen des BF1 und der BF2 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Hierbei gab der BF1 an, dass er afghanischer Staatsangehöriger, volljährig, sowohl traditionell als auch standesamtlich verheiratet, Vater zweier Söhne und Schiit sei. Er habe kein Reisedokument, ein solches habe er auch bei der Ausreise nicht besessen.

Er sei im Iran geboren, habe drei Jahre die Grundschule besucht und als Tischler gearbeitet. Seine Eltern und Geschwister würden im Iran leben. Er habe den Iran von Mashhad aus mit seiner Familie im Mai 2015 verlassen und sei schlepperunterstützt nach Österreich gelangt.

Kurz zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF1 an, dass die wirtschaftliche Lage im Iran sehr schlecht gewesen sei, man finde keine Arbeit. Afghanen würden ausgebeutet. Er habe das Land verlassen, um seinen Söhnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Er habe Angst nach Afghanistan abgeschoben zu werden, da seine Familie im Iran allein nicht überleben könne. Er habe keinen Bezug zu Afghanistan, da er im Iran geboren sei. In Afghanistan herrsche Krieg und er fürchte, dass seine Familie dort getötet werde.

Die BF2 gab an, afghanische Staatsbürgerin und volljährig zu sein. Sie sei mit dem BF1 sowohl traditionell als auch standesamtlich verheiratet, Mutter zweier Söhne, Schiitin und Hazara. Eine eventuelle Erstehe (die Frage ist im vollständig ausgefüllten Formularvordruck vorgesehen) führte sie nicht an. Sie habe kein Reisedokument, ein solches habe sie auch bei der Ausreise nicht besessen.

Sie sei im Iran geboren, habe ein Jahr die Grundschule besucht und sei Hausfrau gewesen. Ihre Eltern und ihr 12jähriger Bruder würden im Iran leben. Als letzte eigene Wohnadresse im Iran gab sie Mashhad an. Sie habe den Iran von Mashhad aus mit ihrer Familie im Mai 2015 verlassen und sei schlepperunterstützt nach Österreich gelangt.

Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die BF2 an, dass sie Angst habe, dass der BF1 nach Afghanistan abgeschoben werde, als Frau könne sie nicht allein überleben. Sie habe keinen Bezug zu Afghanistan, da sie im Iran geboren sei. In Afghanistan herrsche Krieg, sie habe Angst, dass ihre Familie dort getötet werde.

Den BF wurden die Protokolle der Befragung rückübersetzt, sie gaben an, keine Verständigungsprobleme gehabt zu haben und bestätigten dies jeweils mit ihrer Unterschrift.

3. Im Zuge der Einvernahme im Asylverfahren vor dem BFA am 02.12.2015 gab der BF1 an, dass er nicht, wie in der Erstbefragung angegeben, im Iran geboren sei. Er sei in Afghanistan geboren und seit seinem zweiten Lebensjahr im Iran aufgewachsen. Andere Unstimmigkeiten gab er trotz Nachfrage nicht an.

Sämtliche Identitätsdokumente hätten sie im Meer verloren. Er legte Bestätigungen der afghanischen Botschaft in Wien vom 16.11.2015 vor, wonach die BF afghanische Staatsangehörige seien. Er sei vermutlich Tadschike.

Der BF1 sei mit der BF2 seit 26.12.2004 verheiratet. Die Heiratsurkunde hätten sie verloren.

Er habe fast sein ganzes Leben illegal im Iran gelebt und sei mehrmals nach Afghanistan abgeschoben worden. Seine Eltern würden nach wie vor in Teheran leben, er habe noch Kontakt. Nach der Hochzeit habe er auch mit seiner Frau in Teheran aber nicht bei seinen Eltern gelebt. Die Frau habe gelegentlich als Friseurin gearbeitet.

Nach seinem Fluchtgrund befragt gab er an, seine Cousine (Anm.: die BF2) habe auch im Iran gelebt, ihre Eltern seien aber gegen eine Heirat gewesen. Im Jahr 2003 sei die Cousine mit der Familie nach Afghanistan gegangen. Als der BF1 gehört habe, dass sie einen alten Mann heiraten solle, sei er 2004 nach Herat gegangen und sie seien gemeinsam nach Mashhad geflohen. Die Familie der Cousine habe das mitbekommen, sei nach Mashhad gekommen und habe ihn geschlagen. Ohne die Hilfe der Nachbarn hätten sie ihn getötet. Danach seien sie nach Teheran gegangen und hätten dort neun oder zehn Jahre gelebt, auch die Kinder seien dort geboren worden. Im April/Mai 2015 sei er erneut abgeschoben worden, weil er keine Dokumente gehabt habe. Nach zwei Monaten sei er wieder in den Iran gekommen und sie seien sofort im Juni/Juli 2015 Richtung Europa aufgebrochen. Sein Leben sei in Gefahr gewesen und sie hätten im Iran keine Dokumente gehabt. Als er in Afghanistan gewesen sei, seien sie hinter ihm her gewesen, die Söhne seien hinter ihm her gewesen. Nachgefragt gab er an, er meine damit die Angehörigen des Mädchens, das er habe heiraten wollen. Diese würden ihn auch jetzt noch verfolgen.

Auf neuerliche Anfrage gab er an, dass es sich bei der Cousine um die BF2 handle. Auf die Frage, weshalb er das nicht früher gesagt habe, gab er an, man habe ihn nicht gefragt. Wenn er alles erzählen würde, würden alle weinen. Man habe ihn bei der Erstbefragung nur nach der Reiseroute befragt. Auf Vorhalt, man habe ihn auch nach den Fluchtgründen befragt, gab er an, es habe so viele Probleme gegeben, man habe ihn nicht arbeiten lassen.

Befragt was er bei einer Rückkehr zu befürchten habe, gab er an, er werde getötet, sein Leben sei in Gefahr. Die Eltern der BF2 würden in Afghanistan leben.

Seit sie In Teheran gelebt hätten, habe es keine Probleme mehr gegeben. Die Frage, ob es nach der Abschiebung nach Afghanistan im Jahr 2015 Probleme mit den Angehörigen der Frau gegeben habe, bejahte er, er habe zu einer Cousine gehen wollen, diese habe gemeint, er solle nicht zu ihnen kommen. Näheres gab er nicht an.

Die BF2 erschien mit einer Vertrauensperson zur Befragung am 02.12.2015. Sie gab an, in Mashhad im Iran geboren zu sein. Sie habe den BF1 am 26.12.2004 traditionell vor einem Mullah und zwei Zeugen in Mashhad geheiratet. Er sei ihr "Cousin" aus der Familie der Adoptiveltern. Sie habe seit ihrer Kindheit psychische Probleme, seit ihr Vater sie mit einem alten Mann habe verheiraten wollen. Sie habe im Iran auch Tabletten genommen. Eine Therapie besuche sie nicht.

Ihre Mutter sei sehr krank gewesen und habe sie einem Bekannten und dessen Familie übergeben, bei denen sie aufgewachsen sei. Der leibliche Vater habe nie nach ihr gefragt, der Ziehvater sei drogensüchtig und ein Spieler gewesen. Sie habe einen (Adoptiv)Bruder, der bei ihrer Flucht aus Afghanistan 12 Jahre alt gewesen sei, sie selbst sei 14 Jahre alt gewesen. Dokumente hätten sie nie besessen, deshalb habe es auch im Iran Probleme gegeben. Die Adoptiveltern würden in Herat leben. Sie habe illegal als Friseurin gearbeitet und sei dabei vor dem Haus gesessen.

Im Jahr 2004 sei sie mit dem BF1 aus Afghanistan nach Mashhad geflüchtet, wo sie sieben bis acht Monate gelebt hätten. Danach hätten sie bis zu ihrer Ausreise in Teheran gelebt. Auf die Frage, weshalb sie bei der Erstbefragung angegeben habe, dass sich ihre Adoptiveltern und ihr Adoptivbruder im Iran aufhielten, gab sie an, sie habe ihren Bruder zuletzt in Mashhad gesehen, mehr wisse sie nicht. Vorher sei er in Afghanistan gewesen.

Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die BF2 an, dass sie ihr Vater beim Kartenspiel an einen alten Mann verkauft habe, als sie nach Afghanistan zurückgegangen seien, da der Vater gemeint habe, dass es dort besser für ihn sei. Dieser sei 50 oder 60 Jahre alt und verheiratet gewesen. Die BF2 sei 14 Jahre alt gewesen. Der BF1 habe sie bereits im Iran heiraten wollen, aber der Vater sei dagegen gewesen. Der BF1 sei dann auch nach Afghanistan gekommen und habe mit der Mutter der BF2 etwas ausgemacht. Der alte Mann habe der BF2 manchmal erlaubt, nach Hause zu gehen, da habe der BF1 die Mutter der BF2 gebeten, dass er kurz mit der BF2 reden könne. Die BF2 habe sich gefreut und ihm von der Heirat erzählt. Er habe gemeint, dass sie zusammen fliehen könnten. Sie habe ihm gesagt, sie müsse um 06.00 Uhr morgens aufstehen und das Frühstück machen. Als sie gesehen habe, dass der BF1 mit einem Auto draußen gestanden sei, sei sie eingestiegen und sie seien gefahren.

Nach dem genauen Grund ihrer Flucht nach Europa befragt gab sie an, in Mashhad um 01:00 Uhr morgens von Schreien geweckt worden zu sein. Man habe den BF1 mit Messern und Scheiben (Anm.: gemeint wahrscheinlich Scherben) geschlagen. Es sei ihr schlecht gegangen. Unter den Angreifern sei auch der Sohn ihres ersten Ehemannes gewesen, der sie in Afghanistan immer wieder gefesselt und vergewaltigt habe. Der BF1 dürfe das nicht wissen. Der alte Mann habe sie überdies immer wieder beim Kartenspiel verloren und sie habe immer wieder mit einem anderen Mann schlafen müssen. Sie hätten auch in Teheran Probleme gehabt, aber man habe sie nicht gefunden. Die Mutter des BF1 habe ihr gesagt, dass sie in Afghanistan in Gefahr seien, da man den BF1 suchen würde. Sie würden ihn töten wollen. Der BF1 sei zuletzt im April/Mai nach Afghanistan abgeschoben worden.

Den BF wurde auch diesmal die Protokolle der Befragung rückübersetzt, sie gaben an, keine Verständigungsprobleme gehabt zu haben und bestätigten dies mit ihrer Unterschrift.

4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit den beschwerdegegenständlichen Bescheiden vom 22.12.2017 die Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und erkannte den BF den Status eines Asylberechtigten nicht zu. Das BFA erkannte den BF weiters den Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung gültig bis 22.12.2018 (Spruchpunkt III.).

In der Bescheidbegründung traf die Erstbehörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Sie hätten keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht. Sie hätten in Teheran mehrere Jahre problemlos leben können, eine Verfolgung sei nicht gegeben gewesen. Eine Verfolgung in Afghanistan hätten sie nicht dargelegt.

5. Mit Schreiben vom 25.01.2018 brachten die BF das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem die Bescheide hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochten wurden. Man habe die westliche Orientierung der BF2 nicht in Betracht gezogen. Die Schlussfolgerungen der Behörde seien insgesamt nicht nachvollziehbar.

6. Die BF2 legte im Verfahren zahlreiche Befundberichte aus dem Jahr 2016 vor. In einem Befundbericht vom 19.12.2016 berichtete die BF2 von einem Abortus und dass sie sich Sorgen mache, einen negativen Bescheid zu bekommen. Einem weiteren Bericht ist zu entnehmen, dass der Ehemann trotz Zusicherung der Behörden (Anm.; BFA) von dem sexuellen Missbrauch erfahren habe. Er frage sie nun immer, weshalb sie ihm das nie erzählt habe.

Einem ärztlichen Entlassungsbrief vom 08.06.2017 ist zu entnehmen, dass die BF2 vom 06.06.2017 bis 08.06.2017 stationär aufhältig war, da sie unter anderem am 06.06.2017 eine Überdosis Medikamente (40 Stück Trittiko) zu sich genommen habe. Als Grund dafür gab sie traumatische Erlebnisse in Ihrer Jugend an und die Angst, abgeschoben zu werden. Im Wohngebiet ihrer Eltern sei weiters eine Bombe explodiert. Die Beziehung zum BF1 beschrieb die BF2 jedoch als sehr positiv.

Einem fachärztlichen Befundbericht vom 09.11.2017 ist zu entnehmen, dass die BF2 an Anpassungsstörungen mit depressiven Reaktionen leide. Der Ehemann mache ihr durch sein Misstrauen das Leben schwer, sie lebe in Vorbereitungen einer Scheidung. Sie habe große Sorgen um die Kinder.

Auch der BF1 legte im Verfahren diverse medizinische Unterlagen vor. So unter anderem einen psychiatrischen Ambulanzbefund vom 15.09.2017 (Der BF1 sei seit zwei Jahren in Österreich und lebe in einer ihn belastenden Trennungssituation. Die Gattin sei immer wieder weg, er wisse nicht wo und müsse sich allein um die Kinder kümmern).

Laut einem Bericht vom 10.05.2018 leide er unter einer Anpassungsstörung mit depressiven Symptomen und Schlafstörungen. Die Trennung von Gattin und Kindern mache ihm zu schaffen. Diese habe Anzeige wegen aggressiver Handlungen gegen ihn erstattet.

7. Mit Beschluss des BG Mödling vom 02.03.2018 bekam die BF2 auf Antrag die vorläufige alleinige Obsorge für den BF3 und den BF4 übertragen. Der BF1 erklärte seine Zustimmung dazu, der BF2 die alleinige Obsorge zu übertragen, sofern er ein regelmäßiges Kontaktrecht bekäme.

In mehreren Anzeigen im März und April 2018 wurde der BF1 von der BF2 beschuldigt, sie im November 2017 während eines Aufenthaltes in den Niederlanden vergewaltigt zu haben. Er habe weiters gedroht, die Kinder nach Afghanistan zu verschleppen, er habe sie so gezwungen, mit ihm in die Niederlande zu seinen Angehörigen zu fahren.

Im Zuge der Befragungen vor dem LG Wr. Neustadt wurden die Anschuldigungen durch die BF2 massiv ausgeweitet, insbesondere auch auf die Zeit des Aufenthaltes in Österreich.

Mit Beschluss des LG Wr. Neustadt vom 27.04.2018 wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung der Untersuchungshaft vom 26.04.2018 aufgrund "massiver Widersprüche und erschütterter Glaubwürdigkeit" der BF2 abgewiesen. Auf die Darstellung der ausführlichen Begründung wird im gegenständlichen Fall verzichtet.

Am 09.05.2018 stellte die BF2 einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung gemäß § 382 e EO. Darin führte die BF2 etwa aus, dass sie im Iran von "den Söhnen des Mannes und ihr unbekannten Freunden" verfolgt worden seien. Mit Beschluss vom 17.05.2018 wurde dem BF1 aufgetragen, die Kontaktaufnahme zu der BF2 und zu den BF3 und BF4 zu unterlassen. Eine Befragung des BF1 fand nicht statt, entschieden wurde aufgrund der Angaben der BF2 und aufgrund des laufenden Verfahrens gegen den BF1 am LG Wiener Neustadt.

8. Am 29.05.2018 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG durchgeführt, zu der der BF1 in Begleitung seiner gewillkürten Vertreterin erschien. Er gab an, nie afghanische Dokumente besessen zu haben, die iranischen habe man ihm bei einer Abschiebung nach Afghanistan durch die iranischen Behörden abgenommen. Seine Eltern würden illegal im Iran leben. Seine Familie habe Afghanistan ursprünglich wegen der allgemeinen Sicherheitslage verlassen.

Nach dem Grund seine Flucht nach Europa befragt gab der BF1 an, dass er mit der BF2 etwa ein Jahr in Mashhad gelebt habe, als der Sohn des Mannes der BF2 gekommen sei und ihn geschlagen habe. Er habe ihn an den Beinen verletzt. Der BF legte mehrere aktuelle Befunde vor, wonach er eine Meniskusverletzung habe. Dass es sich dabei um alte Verletzungen handle, ist den Befunden nicht zu entnehmen.

Er sei dann mit seiner Frau nach Teheran geflohen, wo sie neun oder zehn Jahre gelebt hätten. Nachgefragt gab er an, dass im Jahr 1382 (2003) einige unbekannte Leute in sein Haus gekommen seien. Sie hätten ihn geschlagen. Er sei dann ins Krankenhaus gekommen und zwei Wochen später seien sie ausgereist. Er sei auch mit einem Messer am Arm verletzt worden. Sein Bein habe operiert werden müssen. Der Sohn des Ehemannes der BF2 sei dabei gewesen, die BF2 sei ja immer noch mit einem anderen Mann verheiratet gewesen. 1381 (etwa 2002) habe man sie nach Afghanistan gebracht. Ein Jahr danach sei der BF1 von Mashhad nach Afghanistan gefahren und habe sie zurückgebracht. Dann hätten sie ein Jahr in Mashhad gelebt und dann in Teheran, wo sie 10 Jahre gelebt hätten. Auf die Frage, wie er die BF2 aus Herat weggebracht habe, gab er an, dass er das mit der Mutter der BF2 besprochen habe, diese habe mit der BF2 gesprochen. Eines Tages sei die Frau zur Mutter gekommen, sie habe sie einmal in der Woche besucht, und um 05:00 Uhr morgens habe er sie von der Mutter abgeholt. Er habe von den Problemen mit dem Sohn ihre Ex-Mannes nichts gewusst. Er habe das erst aus dem Befragungsprotokoll erfahren. Er sei weder traurig noch böse gewesen. Er habe sie trotzdem geliebt. Das Problem sei gewesen, dass das Verfahren in Österreich so lange gedauert habe. Er habe Probleme mit der Frau gehabt, diese sei immer mit Freundinnen unterwegs gewesen, er habe Medikamente genommen. Die Frage, weshalb er bei der Erstbefragung lediglich finanzielle Probleme als Fluchtgrund angegeben habe, beantwortete der BF nicht, er führte nur an, dass er im Iran die Firma auf einen Iraner habe schreiben lassen müssen, um arbeiten zu können.

Befragt, weshalb er vor dem LG Wr. Neustadt angeführt habe, dass sich seine Frau eine Geschichte zurechtgelegt habe, damit sie in den Niederlanden Asyl erhalten würden, gab er an, dass die BF2 eine Geschichte erfunden habe. Sie seien illegal in den Niederlanden gewesen, der BF1 sei nicht im selben Heim untergebrach gewesen. Nachdem sich drei Jahre in Österreich nichts getan habe, seien sie in die Niederlande gefahren, um es dort zu versuchen. Damit die BF2 und die Kinder Asyl bekämen, hätte sie dann erzählt, dass der BF1 sie geschlagen und vergewaltig hätte. Er habe das nie gemacht. Die Frau habe in Österreich Party gemacht und er habe auf die Kinder aufgepasst. Sie hätten es anders geplant gehabt und einen Tag vor ihrer Einvernahme in den Niederlanden dann noch darüber gesprochen. Sie hätten zuvor absichtlich gestritten, damit die Frau das dann erzählen könne, was sie sich ausgemacht hätten.

9. Am 05.06.2018 erschien die BF2 in Begleitung ihrer gewillkürten Vertreterin und einer Vertrauensperson vor dem BVwG. Sie legte eine Bescheinigung über den Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft für sich und ihre Kinder (BF3 und BF4) vor.

Sie sei im Iran geboren und in Mashhad bei Adoptiveltern aufgewachsen, da die Mutter verstorben sei. Als sie 14 Jahre alt gewesen sei, sei sie mit ihrer Familie nach Herat gefahren, wo sie acht bis neun Monate aufhältig gewesen sei. Danach sei sie mit dem BF1 (von ihr als "der Cousin" betitelt) zurück nach Mashhad geflüchtet, wo sie sieben bis acht Monate gewesen seien. Ihr letzter Aufenthalt sei in Teheran gewesen.

Zwei Monate nachdem sie mit dem BF1 nach Mashhad geflüchtet sei, hätte es abends an der Tür geklopft. Der BF1 habe die Tür geöffnet. Dann sei sie gekommen und habe ihn auf dem Boden liegen sehen. Man hätte ihn mit einem Messer und Glasscherben verletzt. Die Narben habe er immer noch auf Beinen und Händen. Nachgefragt, was sie genau gesehen habe, gab sie an, sie habe ihren Bruder und den Sohn des Ex-Mannes gesehen. Die anderen habe sie nicht gekannt. Als die BF2 gekommen sei, seien die anderen schnell gegangen. Die beiden BF seien ursprünglich von Herat nach Mashhad geflohen, dort hätten sie in einem Hotel gewohnt. Sie hätten zwei Familien kennengelernt, die ihnen geholfen hätten, eine Wohnung zu finden. Als sie eine gefunden hätten, hätten sie sieben bis acht Monate dort gewohnt. Dann seien sie nach Teheran geflohen.

Nachgefragt, wieviel Personen es gewesen seien, gab sie an, sie glaube etwa fünf. Mehrfach gefragt, was diese getan hätten, gab die BF2 an, sie habe nur ihren Cousin bluten gesehen, die anderen seien gegangen, sie habe niemanden sehen können. Sie habe geschrien und geweint, dann seien die Nachbarn gekommen und die Rettung. Es sei gegen 01:00 Uhr in der Nacht gewesen. Sie habe weder ihren Bruder noch die anderen wieder gesehen noch mit ihnen ein Wort gewechselt. Sie haben geschrien und die Männer seien sofort freiwillig gegangen.

Befragt, weshalb sie bisher nie erwähnt habe, dass der Bruder dabei gewesen sei, gab die BF2 an, dass sie dies bei der ersten Einvernahme gesagt habe. Das letzte Mal sei der Dolmetscher aus Kabul gewesen und sie habe ihn nicht richtig verstanden. Das sei 2015 gewesen. Auf Vorhalt, dass sie gesagt habe, sie habe einen 12jährigen Bruder und würden seither nichts über ihn wissen, gab sie an, dass sei derselbe, der bei diesem Vorfall anwesend gewesen sei. Sie sei nicht gefragt worden, wo und wann sie ihn denn gesehen habe.

Auf die Frage, was diese Leute eigentlich gewollt hätten, gab sie an, sie sei eine verheiratete Frau gewesen und hätte nicht mit einem anderen Mann weggehen dürfen. Sonst werde man mit dem Tod bedroht. Die Frage, ob sie denn bedroht worden sei, beantwortete die BF nicht, sondern gab an, dass sie der Sohn des (Ex)Mannes in Afghanistan mehrfach vergewaltigt habe. Der Mann sei alt gewesen, anstatt dass er mit ihr schlafe, habe sie jeden Tag mit dem Sohn oder mit anderen Männern schlafen müssen.

Auf neuerliche Frage, ob man sie bedroht habe, gab sie an, man habe sie weder in Mashhad noch in Teheran bedroht. Sie wisse nicht, was die Männer zu ihrem Mann gesagt hätten, als sie ihn niedergeschlagen hätten.

Ihre Mutter habe gewusst, dass sie beide sich lieben würden. Der Cousin habe mit der Mutter eine Plan geschmiedet von dem die BF2 nicht Bescheid gewusst habe. Der Exmann habe ihr etwa fünf bis sechs Monate vor der Flucht verboten, die Mutter zu besuchen. Er habe gefürchtet, dass sie zu ihre Mutter gehen und ihr die ganze Geschichte erzählen werde. Er habe gedroht, sie zu töten, wenn sie etwas erzähle. Zuvor habe sie die Mutter besuchen dürfen, etwa vier oder fünfmal, seit sie mit dem alten Mann verheiratet gewesen sei. Sie habe den Cousin durch Zufall bei der Mutter getroffen. Sie habe ihm die ganze Geschichte erzählt, als die Mutter in der Küche gewesen sei, und ihn um Hilfe gebeten. Vom Sohn des Mannes und von den Freunden habe sie ihm nichts erzählt. Er habe sie gefragt, wann sie wieder von zu Hause weggehen könne. Sie hab ihm gesagt, dass sie in der Früh Frühstück machen müsse und dann weggehen könne. Er sei in der Früh mit dem Auto gekommen und sie sei zu ihm gegangen. Dann seien sie zusammen in den Iran gefahren. Er habe ihr keinen bestimmten Plan gesagt, nur, dass sie um 06:00 Uhr von zu Hause weggehen solle. Sie habe ihn nicht gefragt, sie habe selbst herausgefunden, dass er mit der Mutter etwas geplant habe. Sie hätten ihr von dem Plan aber nichts erzählt. Erst in Mashhad habe er ihr alles erzählt.

Auf mehrmalige Fragen gab die BF2 an, dass er ihr im Auto erzählt habe, dass sie nach Mashhad führen.

Nach den Kindern befragt gab die BF an, dass diese derzeit in der Schule beziehungsweise im Kindergarten seien. Der ältere Sohn habe viele Probleme, er habe gesehen, dass der BF1 die BF2 in den Niederlanden vergewaltigt habe.

Nach den Vorfällen in den Niederlanden habe sie entschlossen, keine Religion mehr zu haben. Sie habe einen iranischen Freund, sie liebe ihn und außerdem sei er Christ. Er habe einen Konventionsreisepass. Sie habe ihn nach der Rückkehr aus den Niederlanden kennengelernt. Sie sei Friseurin und könne arbeiten. Im Verfahren gab auch der BF1 mehrfach an, vom Freund der BF2 Kenntnis zu haben.

Auf die Frage, was sie zu den Angaben des BF1 sagen könne, dass sie sich abgesprochen hätten, um Asyl zu bekommen, gab sie an, dass sie und ihr Cousin immer die Wahrheit gesagt hätten, sie hätten nicht gelogen, um Asyl zu bekommen. Vor der ersten Einvernahme hätten sie über die Ereignisse in Afghanistan gesprochen. Der Mann habe nicht die ganze Geschichte gewusst. Von der ersten Ehe habe sie keine Unterlagen, die Unterlagen der zweiten Ehe habe sie auf dem Weg nach Österreich verloren.

Die Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe. Die Vertreterin wies auf das westliche Erscheinungsbild der BF hin, sie sei geschminkt und trage ein figurbetontes Oberteil und Jeans.

10. Im Zuge des Verfahrens wurden auch die Zeugeneinvernahmen der BF2 vom 07.06.2018 und vom 21.06.2018 vor dem LG Wr. Neustadt eingesehen.

Im Asylverfahren relevante Angaben der BF2 lauten wie folgt (Auszug):

-

Sie hätten im Sommer 2016 gestritten, er habe gesagt, was würden die Eltern sagen, wenn sie erfahren würden, dass sie zuvor schon einen anderen Mann gehabt hätte.

-

Die Familie sei wegen einer Erbschaftssache nach Afghanistan gegangen. Sie sei etwa 14 Jahre alt gewesen.

-

Der alte Mann habe ihr erlaubt, die Mutter zu besuchen und sie habe den BF1 dort gesehen. Sie habe ihn um Hilfe gebeten.

-

2016 habe sie eine Fehlgeburt gehabt und der BF1 habe die Unterlagen an sich genommen, da habe er gelesen, was sie vor dem BFA angegeben habe. Er habe sie die ganze Nacht belästigt und ihr ständig die Frage gestellt, weshalb sie ihm das nicht erzählt habe.

11. Das Ermittlungsverfahren gegen den BF1 wegen §§ 107b (1), 107b

(3) Z 2, 107b (4) StBG, § 12 2. Fall StGB wurde mit Beschluss der Staatsanwaltschaft Wr. Neustadt vom 18.07.2018 eingestellt.

12. Mit Beschluss des BG Mödling vom 20.07.2018 wurde dem BF1 dennoch die Obsorge über den BF3 und den BF4 unter Hinweis auf die einstweilige Verfügung aufgrund des Gewaltschutzgesetzes endgültig entzogen und der BF2 die alleinige Obsorge übertragen. Der BF habe trotz Aufforderung nicht mehr am Verfahren teilgenommen.

13. In einer Stellungnahme vom 08.10.2018 wurde ausgeführt, dass der BF2 nunmehr das alleinige Sorgerecht für die Kinder zukomme. Sie habe seit Anfang 2017 eine Beziehung zu einem iranischen Staatsangehörigen, der Asylstatus in Österreich habe und lebe seit 26.03.2018 in Lebensgemeinschaft mit ihm. Der Mann lebe überdies öffentlich seinen christlichen Glauben. Sie habe mit ihrem Glauben gebrochen und habe auch die Kinder vom Religionsunterricht abgemeldet. Es drohe ihr in Afghanistan Verfolgung wegen eines Zina-Verbrechens, sie pflege einen selbstbestimmten Lebensstil, trage körperbetonte Kleidung und sei berufstätig. Seit 01.08.2018 sei sie als Raumpflegerin tätig und habe sich bereits bei verschiedenen Friseurbetrieben beworben. Sie könne sich nicht auf andere Familienmitglieder stützen und nehme ihr Leben selbst in die Hand.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsicht in:

-

die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 28.06.2015, die Niederschriften der Einvernahmen vor dem BFA am 02.12.2105 sowie die Beschwerde 15.01.2018-

-

diverse Stellungnahmen des BF1 und der BF2 wie oben angeführt

-

zahlreiche im Verfahren vorgelegte Befunde (verfahrensrelevante oben angeführt)

-

diverse Unterlagen des eingestellten Verfahrens gegen den BF1 am LG Wr. Neustadt

-

die von der BF2 beim Bg Mödling bewirkten Beschlüsse.

Weiters herangezogen wurden die Angaben des BF1 und der BF2 in den Verhandlungen vor dem BVwG am 29.05.2018 sowie am 05.06.2018

2. Feststellungen (Sachverhalt):

1. Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sind der schiitischen Glaubensrichtung des Islam zuzurechnen. Der BF1 und die BF2 sind volljährig, die traditionell und staatlich geschlossene Ehe ist nach wie vor aufrecht. Der BF3 und der BF4 sind minderjährige Kinder des BF1 und der BF2.

2. Die BF haben die meiste Zeit ihres Lebens im Iran gelebt, zuletzt - und wohl die meiste Zeit - in Mashhad, wo der BF1 als Tischler und die BF2 als Hausfrau tätig waren. Beide haben im Iran eine Grundschule besucht. Der BF3 und der BF4 sind im Iran geboren. Die Kernfamilien der BF leben im Iran. Die Ausreise der BF aus dem Iran erfolgte Mitte 2015 von Mashhad aus schlepperunterstützt, die Angaben über Organisation und Abwicklung der Ausreise sind nicht gegenstandrelevant.

3. Die BF sind in Afghanistan weder vorbestraft, noch wurden sie jemals inhaftiert oder hatten mit den dortigen Behörden sonstige Probleme. Die Gründe für die Ausreise aus dem Iran waren die Befürchtungen, nach Afghanistan abgeschoben zu werden, wo Krieg die Familie bedrohe.

Des Weiteren steht die persönliche Haltung der BF2 über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen im Herkunftsstaat mehrheitlich unterworfen sind. Die BF2 ist von ihrer persönlichen Wertehaltung her überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert.

Eine darüber hinausgehende wie auch immer geartete Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung konnten die BF weder glaubhaft machen, noch geht sie aus dem Akt hervor.

4. Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Stand August 2018):

Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan's Paradoxical Political Party System: A new AAN report, https://www.afghanistan-analysts.org/publication/aan-papers/outside-inside-afghanistans-paradoxical-political-party-system-2001-16/, Zugriff 28.5.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (12.4.2018): Afghanistan Election Conundrum (6): Another new date for elections, https://www.afghanistan-analysts.org/afghanistan-election-conundrum-6-another-new-date-for-elections/, Zugriff 16.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (25.11.2017): A Matter of Regisration: Factional tensions in Hezb-e Islami, https://www.afghanistan-analysts.org/a-matter-of-registration-factional-tensions-in-hezb-e-islami/, Zugriff 16.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (11.10.2017): Mehwar-e Mardom-e Afghanistan: New opposition group with an ambiguous link to Karzai, https://www.afghanistan-analysts.org/mehwar-e-mardom-e-afghanistan-new-opposition-group-with-an-ambiguous-link-to-karzai/, Zugriff 28.5.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (3.5.2017): Charismatic, Absolutist, Divisive: Hekmatyar and the impact of his return, https://www.afghanistan-analysts.org/charismatic-absolutist-divisive-hekmatyar-and-the-impact-of-his-return/, Zugriff 17.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (22.1.2017): Afghanistan's Incomplete New Electoral Law: Changes and Controversies, https://www.afghanistan-analysts.org/afghanistans-incomplete-new-electoral-law-changes-and-controversies/, Zugriff 16.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (18.12.2016): Update on Afghanistan's Electoral Process: Electoral deadlock - for now, https://www.afghanistan-analysts.org/update-on-afghanistans-electoral-process-electoral-deadlock-broken-for-now/, Zugriff 4.6.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President's CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document),

https://www.afghanistan-analysts.org/the-presidents-ceo-decree-managing-rather-then-executive-powers/, Zugriff 16.4.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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