TE Vwgh Erkenntnis 2019/3/7 Ra 2018/21/0216

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Veröffentlicht am 07.03.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §46
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §52 Abs9
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/21/0217Serie (erledigt im gleichen Sinn):Ra 2018/21/0201 E 26.06.2019

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision von 1. H B, und 2. V H, beide in M und beide vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das am 17. September 2018 mündlich

verkündete und mit 5. Dezember 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L518 1423486- 4/30E (ad 1.) und L518 2000048-3/24E (ad 2.), betreffend insbesondere Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG 2005 und Erlassung von Rückkehrentscheidungen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es die beiden Revisionswerber betrifft, im Umfang seiner Anfechtung (sohin mit Ausnahme der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der am 1. März 1986 geborene Erstrevisionswerber und seine Lebensgefährtin, geboren am 7. April 1987, gelangten im September 2011 nach Österreich. Hier wurden ihre fünf gemeinsamen Kinder geboren, und zwar am 25. Mai 2012, am 25. August 2013 (Zweitrevisionswerber), am 4. Jänner 2015, am 5. Mai 2016 und am 13. April 2017.

2 Alle Familienangehörigen stellten Anträge auf internationalen Schutz, die jeweils zur Gänze - in Bezug auf den Erstrevisionswerber, seine Lebensgefährtin und das älteste Kind durch das Bundesasylamt, in Bezug auf die jüngeren Kinder durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - negativ beschieden wurden; unter einem ergingen Ausweisungen bzw. Rückkehrentscheidung en.

3 Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden des Erstrevisionswerbers, seiner Lebensgefährtin und der vier älteren Kinder (zur Beschwerde des jüngsten Kindes siehe Rn. 6) wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 19. September 2016, Asyl und subsidiären Schutz betreffend, als unbegründet ab. Im Übrigen verwies es (betreffend den Erstrevisionswerber, seine Lebensgefährtin und das älteste Kind) die Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zur jeweiligen Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das BFA zurück bzw. (betreffend die jüngeren Kinder) behob es die bekämpften Bescheide hinsichtlich der erlassenen Rückkehrentscheidungen.

4 In diesem Erkenntnis ging das BVwG davon aus, dass die Angaben des Erstrevisionswerbers und seiner Lebensgefährtin - beide Angehörige der armenischen Volksgruppe - dahingehend, sie seien in Aserbaidschan geboren worden und hätten nach ihrer Flucht von dort noch als Kleinkinder ab 1988 bis 2011 in Kasachstan gelebt, nicht glaubhaft seien. Vielmehr habe das Ermittlungsverfahren ergeben, dass sie aus Armenien stammten und von dort nach Österreich gekommen seien.

5 Mit Bescheiden je vom 13. Juli 2017, den Erstrevisionswerber, seine Lebensgefährtin und die vier älteren Kinder betreffend, sprach das BFA sodann aus, dass Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt würden. Unter einem wurden gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG - unter Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise - erlassen und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG jeweils festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Armenien zulässig sei.

6 Gegen diese Bescheide erhoben die Revisionswerber - zusammen mit dem jüngsten Kind, das dabei seinen negativen Asylbescheid, gleichfalls vom 13. Juli 2017, in den Punkten Asyl und subsidiärer Schutz unbekämpft ließ - Beschwerde.

7 Mit dem - vorerst nur von den beiden Revisionswerbern (Vater/Lebensgefährte und zweitältestes Kind) - angefochtenen Erkenntnis (der Mutter/Lebensgefährtin und den anderen Kindern wurde mit Beschlüssen vom heutigen Tag die Verfahrenshilfe zur Erhebung einer außerordentlichen Revision bewilligt) wies das BVwG diese Beschwerde in Bezug auf alle Familienmitglieder gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG, §§ 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46 und 55 FPG als unbegründet ab. Außerdem sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8 Über die von den beiden Revisionswerbern gegen dieses Erkenntnis, soweit es sie betrifft, erhobene Revision, in der die Aussprüche nach § 57 AsylG 2005 ausdrücklich unbekämpft bleiben, hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

10 Das BVwG hat betreffend die Situation in Armenien

u. a. folgende Feststellungen getroffen:

"Armenien hat zu wenig für die Bekämpfung der Armut und gegen die sich ausweitenden Wohlstands- und Einkommensgefälle unternommen. Rund 1,2 Mio. Armenier (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 3 Mio. Einwohnern) leben von circa 3 Euro pro Tag. ...

Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ist nach wie vor finanziell nicht in der Lage, seine Versorgung mit den zum Leben notwendigen Gütern ohne Unterstützung durch humanitäre Organisationen sicherzustellen. Angaben des nationalen Statistikamtes für das Jahr 2014 zufolge leben 32,3 % der Armenier unterhalb der Armutsgrenze (2008: 29,2 %). Ein Großteil der Bevölkerung wird finanziell und durch Warensendungen von Verwandten im Ausland unterstützt: 2015 wurde laut armenischer Zentralbank ein Betrag von etwa 1,209 Mrd. USD nach Armenien überwiesen, ein Rückgang von 30,1 % zum Vorjahr und das zweite

Jahr in Folge. ... Das die Armutsgrenze bestimmende

Existenzminimum beträgt in Armenien ca. 60.000 armenische Dram (derzeit ca. EUR 116,--) im Monat, der offizielle Mindestlohn 55.000 AMD (ca. EUR 105,--). ...

Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden ist."

11 Vor diesem Hintergrund kommt der spezifischen familiären Situation der Revisionswerber besondere Bedeutung zu. Sie sind Teil einer siebenköpfigen Familie mit fünf Kindern im Alter von ein bis sechs Jahren, wobei der Vater (Erstrevisionswerber) an Epilepsie leidet und bezüglich des zweitältesten, fünfjährigen Kindes (des Zweitrevisionswerbers) eine Sprachentwicklungsstörung sowie der Verdacht auf eine Autismusspektrumstörung vorliegen. Ausgehend von dieser Konstellation einerseits und den festgestellten wirtschaftlichen Verhältnissen in Armenien andererseits hätte es im Rahmen der vom BVwG sonst umfangreich vorgenommenen Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG noch einer näheren Untersuchung bedurft, welche Verhältnisse die Revisionswerber und ihre Familie bei einer Rückkehr nach Armenien vorfinden werden.

12 Das BVwG hat in diesem Zusammenhang aber nur folgende Feststellungen getroffen:

"Behaupteter Maßen waren die (Revisionswerber und ihre Familienmitglieder) niemals in Armenien und verfügen weder über ein familiäres noch ein bekanntschaftliches Netz. Die durchgeführten Sprachanalysen ergaben jedoch, dass es sich bei den (Revisionswerbern und ihren Familienangehörigen) um Armenier handelt und kann damit letztlich auch den Angaben nicht geglaubt werden, dass sie in ihrem Herkunftsstaat Armenien keinerlei Bindungen mehr hätten.

Sie gehören der dortigen Mehrheits- und Titularethnie an, bekennen sich zum dortigen Mehrheitsglauben und sprechen die dortige Mehrheitssprache auf muttersprachlichem Niveau. Ebenso ist davon auszugehen, dass in Armenien Bezugspersonen etwa im Sinne eines gewissen Freundes- bzw. Bekanntenkreises der (Revisionswerber und ihrer Familienangehörigen) existieren, da nichts darauf hindeutet, dass die (Revisionswerber und ihre Familienangehörigen) vor ihrer Ausreise in ihrem Herkunftsstaat in völliger sozialer Isolation gelebt hätten. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es den (Revisionswerbern und ihren Familienangehörigen) im Falle einer Rückkehr nach Armenien nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren, wie sie es auch hier in Österreich versucht haben."

13 Diese Überlegungen greifen zu kurz. Denn einerseits befinden sich der Erstrevisionswerber und seine Lebensgefährtin und Mutter der gemeinsamen Kinder jedenfalls seit mehr als sieben Jahren außerhalb Armeniens. Dass es dessen ungeachtet dort - wie das BVwG formuliert - "Bezugspersonen etwa im Sinn eines gewissen Freundes- bzw. Bekanntenkreises" gibt, ist zwar keine unschlüssige Annahme. Dass die Revisionswerber und ihre Familie - etwa in Bezug auf Unterkunftsmöglichkeiten - durch diese "Bezugspersonen" wirksame Hilfestellung erhalten würden, kann allerdings nicht ohne weiteres angenommen werden (siehe ähnlich VfGH 12.12.2018, E 667/2018 ua., II.6.4. der Entscheidungsgründe) und wurde so vom BVwG auch nicht festgestellt. Damit bedürfte es näherer Untersuchungen dazu, welche Unterstützungsleistungen von staatlicher oder karitativer Seite den Revisionswerbern und ihrer Familie bei einer Rückkehr nach Armenien zur Verfügung stünden.

14 Es wird nicht verkannt, dass sich die konkrete Rückkehrsituation - aus welchen Gründen immer - auch ohne derartige Unterstützungsleistungen als unproblematisch darstellen könnte, und dass es der Erstrevisionswerber und seine Lebensgefährtin durch die - von der Revision letztlich nicht bestrittene - Unrichtigkeit ihrer Angaben zur Herkunft unmöglich gemacht haben, das (allenfalls) zu erheben. Gleichwohl existieren keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür, die Revisionswerber und ihre Familie würden in ein problemloses Umfeld zurückkehren können, und zwar - das sei nochmals betont - vor dem Hintergrund ihrer speziellen Situation als siebenköpfige Familie mit fünf Kindern im Alter zwischen ein und sechs Jahren in Verbindung mit der Erkrankung des Vaters. Unter dem Aspekt des Kindeswohls - zu dessen Bedeutung auch im vorliegenden Zusammenhang allgemein etwa VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012, Rn. 8, mwN, einerseits und VfGH 24.9.2018, E 1416/2018, Punkt III.3.4. der Entscheidungsgründe andererseits - kann es dann aber auch nicht angehen, im Rahmen der Interessenabwägung die existenziellen Bedürfnisse der Kinder mit dem elterlichen Fehlverhalten aufzuwiegen, weshalb das angefochtene Erkenntnis ungeachtet dieses Fehlverhaltens mit dem schon erwähnten Ermittlungsmangel in Bezug auf den prognostizierbaren Erhalt von staatlicher oder karitativer Hilfe (insbesondere punkto notwendiger Unterkunft und existenzielle Versorgung) belastet ist. Es war daher, soweit es die beiden Revisionswerber betrifft, im Umfang seiner Anfechtung (Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 7. März 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210216.L00

Im RIS seit

09.09.2019

Zuletzt aktualisiert am

09.09.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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