Entscheidungsdatum
06.12.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W191 2135469-2/5E
W191 2135469-3/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerden von Herrn XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen
1) den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.09.2017, Zahl 1099773801-152029806,
2) den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2018, Zahl 1099773801-180937040,
zu Recht:
Ad 1)
A)
Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 22.09.2017 wird gemäß § 3 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Ad 2)
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der Bescheid vom 03.10.2018 ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein. Er stellte am 19.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage vom 20.12.2015 ergab, dass der BF am 14.12.2015 in Griechenland erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 20.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes des PAZ (Polizeianhaltezentrum) Linz gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei am XXXX in der Provinz Kapisa, Afghanistan, geboren. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, Moslem und ledig. Er habe sechs Jahre lang die Grundschule im Iran besucht und zuletzt als Schweißer gearbeitet. Im Iran würden sich seine Eltern sowie seine sechs Schwestern und sein Bruder aufhalten.
Vor ca. drei Wochen habe er den Iran verlassen und sei über die Türkei nach Griechenland gelangt. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien sei er schließlich nach Österreich gereist.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass in seinem Dorf in Afghanistan Armut geherrscht habe und jetzt die Taliban dort seien. Seine Familie sei deshalb vor etwa 13, 14 Jahren in den Iran gegangen. Den Iran habe er verlassen müssen, weil man ihn zwangsweise für den Krieg habe rekrutieren wollen.
1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Erstaufnahmestelle (EAST) Ost in Traiskirchen, hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter und veranlasste eine sachverständige Altersschätzung.
Das medizinische Sachverständigengutachten vom 13.05.2016 ergab nach einer multifaktoriellen Untersuchung des BF am XXXX (Befragung und körperliche Untersuchung) unter Einbeziehung eines Röntgenbildes der linken Hand vom 13.01.2016, einer Computertomographie der brustbeinnahen Schlüsselbeinregion und eines Panoramaröntgens des Gebisses ein Mindestalter zum Zeitpunkt der Asylantragstellung von 19 Jahren. Das vom BF angegebene Geburtsdatum könne aufgrund der erhobenen Befunde aus gerichtsmedizinischer Sicht nicht belegt werden.
Das BFA stellte mit Verfahrensanordnung vom 19.06.2016 das Geburtsdatum des BF mit XXXX fest.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 04.08.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei sunnitischer Moslem. In Afghanistan habe er in der Provinz Kapisa gelebt, seit seinem siebten Lebensjahr sei er im Iran aufhältig. Im Iran habe er sechs Jahre lang die Schule besucht und als Schweißer Hilfstätigkeiten verrichtet. Alle seine Verwandten würden im Iran leben und er habe keinen Bezug mehr zu seiner Heimat. In Kapisa habe er Verwandte, aber er kenne die Leute alle nicht. Er habe nie gefragt und sich auch nie interessiert, ob es dort noch konkret wen gebe, er wolle mit Afghanistan nichts mehr zu tun haben.
Befragt nach seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass Krieg geherrscht habe und die Sicherheitslage schlecht gewesen sei und auch weiterhin schlecht sei. Es gebe überall Explosionen und er fürchte sich vor den Taliban und Kriminellen. Er wisse nicht, wie er dort überleben könne und wo er hingehen solle. Afghanistan sei ein Kriegsgebiet und er habe Angst um sein Leben.
1.5. Mit Bescheid vom 05.09.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 19.12.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF zwei Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die von ihm behauptete Gefährdungslage widerspreche der allgemeinen bekannten und aktuellen Situation in seiner Heimat.
Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz wurde damit begründet, dass der BF keine Gründe vorgebracht habe, die eine Einreise und ein Leben in Afghanistan für ihn unzumutbar machen würden. In Bezug auf seine Heimatprovinz Kapisa liege eine relevante Gefährdungslage vor, jedoch lasse sich eine solche in Bezug auf Kabul nicht erkennen. Er könne im Falle der Rückkehr in Kabul seinen Lebensunterhalt bestreiten, zumal er gesund, jung und arbeitsfähig sei sowie über Berufserfahrung als Schweißer verfüge. Auch die Tatsache, dass er in Afghanistan über Verwandtschaft verfüge, sei Grund genug davon auszugehen, dass ihm von dieser Seite Unterstützung zukommen würde.
1.6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit offenbar von der ihn rechtsberatenden Hilfsorganisation unterstützt erstelltem Schreiben vom 15.09.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG), mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes infolge wesentlicher Verfahrensmängel und unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten wurde.
In der Beschwerde wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Einvernahme mangelhaft gewesen sei. So habe diese lediglich 15 Minuten gedauert, das Protokoll sei oberflächlich rückübersetzt worden und wesentliche Angaben zu seiner Gefährdung in Afghanistan seien nicht ins Protokoll aufgenommen worden. Weiters sei nicht berücksichtigt worden, dass er sein ganzes Leben im Iran verbracht habe und die afghanische Lebensweise und den Alltag nicht kenne. Als Angehöriger der sozialen Gruppe der Rückkehrer aus dem Iran ohne soziales Netzwerk sei er in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul bestehe aufgrund der dortigen äußerst prekären Situation nicht. Auch würden sich keine Verwandten von ihm in Afghanistan befinden, sodass er dort keinerlei soziales Netzwerk habe. Es sei ihm daher nicht möglich, dort eine Existenz aufzubauen.
1.7. Mit Beschluss des BVwG vom 06.03.2017, W191 2135469-1/4E, wurde der Bescheid des BFA vom 05.09.2016 gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen.
In der Beschlussbegründung wurde u.a. ausgeführt (Auszug):
"[...] 2.2.3.1. Das gegenständliche Verwaltungsverfahren wurde teilweise nur rudimentär und mangelhaft geführt und weist somit relevante Mängel auf (dazu näher siehe auch Punkt 2.2.3.2.).
Das BFA stellte dem BF nur wenige Fragen und ging regelmäßig nicht näher auf das Vorbringen des BF ein. So verabsäumte es das BFA, weiterführende Fragen zu den behaupteten Fluchtgründen zu stellen und zu eruieren, weshalb genau der BF nun sein Herkunftsland verlassen habe, inwiefern er konkret von der behaupteten schlechten Sicherheitslage betroffen gewesen sei, aus welchen Gründen er überhaupt Gegner habe und wieso er sich vor ihnen fürchte. Weiters wurden auch widersprüchliche Angaben des BF nicht näher hinterfragt, weshalb unklar blieb, ob bzw. welche Verwandten der BF nun in Afghanistan habe und wo genau sich diese aufhalten würden. Aus der Einvernahme ergibt sich daher lediglich ein unvollständiges Bild der verfahrensrelevanten Umstände des BF, und es wäre die Aufgabe des BFA gewesen, die konkrete persönliche und soziale Situation des BF zu erfassen und die Fluchtgründe genauer zu ermitteln bzw. zu hinterfragen.
Zwar obliegt es dem Antragsteller, von sich aus entscheidungsrelevante Tatsachen vorzubringen, doch hat das BFA darauf hinzuwirken, dass solche Angaben vervollständigt werden (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht (2016), § 18 AsylG, K4).
Zusammengefasst ist daher festzustellen, dass es aufgrund der mangelnden Ermittlungstätigkeit des BFA - ungeachtet des Umstandes, dass die Erzählungen des BF möglicherweise keinen asylrelevanten Kern aufweisen - zu keiner ausreichenden Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des BF gekommen ist.
2.2.3.2. Bezüglich der Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides) ist nach der anzuwendenden Rechtslage und der dazu ergangenen Judikatur (sowohl des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als auch der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, des Asylgerichtshofes, des BVwG und der - zwar nicht immer einheitlichen, aber in der Linie jedenfalls übereinstimmenden - Judikatur der entsprechenden deutschen Gerichte) zusätzlich zu objektiven Kriterien (Lage im Land) das Vorliegen von subjektiven bzw. individuellen Kriterien (Situation des Antragstellers) für die Erlangung des Status als subsidiär Schutzberechtigter zu prüfen.
[...]
Bezüglich des BF war daher neben seinen persönlichen Umständen in Prüfung seiner Lebensumstände zu klären, woher er stammt, wo sich seine Familie nun aufhält, ob der BF daher über ein soziales Netzwerk in seinem Herkunftsland verfügt und wie die Lage in diesen Regionen aktuell ist, bzw. über seine diesbezüglichen Angaben hinreichend beweiswürdigend abzusprechen.
Der BF ist - wie vom BFA festgestellt - Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Das BFA stellte zwar den Aufenthaltsort seiner Eltern und Geschwister fest, verabsäumte es aber, den Aufenthaltsort seiner weiteren Verwandten zu ermitteln bzw. die diesbezüglich widersprüchlichen Angaben des BF zu hinterfragen. Es fehlen daher Feststellungen zu einem Großteil seines sozialen Netzwerks.
Im vorliegenden Fall hat das BFA angenommen, der BF könne in Kabul Fuß fassen, da er gesund, jung und arbeitsfähig sei und über mehrjährige Berufserfahrung als Schweißer verfüge. Auch sei davon auszugehen, dass ihm von seiner Verwandtschaft in Afghanistan Unterstützung zukomme.
Das BFA hat sich allerdings nicht ausreichend mit dem - wie der VwGH ausgeführt hat - der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül beschäftigt, welches nähere Feststellungen zur Situation in Kabul und über die dort zu erwartende konkrete Lage des BF erfordert hätte.
Aus den Länderfeststellungen ist insbesondere nicht ersichtlich, inwieweit es für alleinstehende Rückkehrer in Kabul Möglichkeiten gäbe, sich in diesen Städten - sofern man nicht der Volksgruppe der Paschtunen angehört - ohne jeglichen familiären oder sonstigen sozialen Anschluss eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen. Inwiefern das BFA vermeint, dem BF würde von seiner Verwandtschaft Unterstützung zukommen, bleibt angesichts der fehlenden Feststellungen, um wen es sich dabei handle, wo genau sich diese Verwandten aufhalten würden und ob sie überhaupt in der Lage wären, den BF zu unterstützen, unklar. Dass sich die Lage in Kabul (bezüglich Sicherheit und Gesellschaft) seither geändert - respektive verbessert - hätte, hat die belangte Behörde nicht dargetan. Darüber hinaus lebte der BF im Iran, und sind ihm deshalb Kabul sowie die dortigen Gegebenheiten gänzlich unbekannt.
Es erscheint somit nicht nachvollziehbar, wie das BFA, unter Einbeziehung der Aussagen des BF, er habe seit seinem siebten Lebensjahr im Iran gelebt (ohne dass sich Hinweise auf einen späteren Aufenthalt in Afghanistan ergeben hätten), und der Ausführungen in den aktuellen Länderfeststellungen zum Ergebnis gelangt wäre, dass der BF unter diesen Umständen alleine nach Afghanistan zurückkehren und sich dort eine Existenz aufbauen könnte.
Die Behörde hat sich im vorliegenden Fall nicht in ausreichender Weise mit den verfahrensrelevanten Lebensumständen des BF sowie mit der Lage im Herkunftsstaat (wie oben ausgeführt) auseinandergesetzt. Dadurch hat es das BFA verabsäumt, den Sachverhalt hinreichend zu klären.
Angemerkt wird noch, dass der Einvernahmeniederschrift nicht leicht nachvollziehbar zu entnehmen ist, auf welcher Quelle die eingebrachten Länderfeststellungen beruhen (etwa durch Anführung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation mit seinem Erstellungsdatum).
Ebenso ist dem Verwaltungsakt nicht zu entnehmen, um was für ein Dokument es sich auf Seite 121 (Kopie) bzw. auf Seite 123 (Original) handelt und wann dieses sichergestellt bzw. vom BF vorgelegt worden ist.
2.2.4. Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BFA in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage, insbesondere bezüglich der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz als auch bezüglich der Frage des Refoulementschutzes, nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen ist und die Sachlage nicht ausreichend erhoben bzw. sich (in der Bescheidbegründung) nur mangelhaft mit den Angaben des BF und den Beweisergebnissen auseinandergesetzt hat. [...]"
1.8. Das BFA, Regionaldirektion Niederösterreich in Traiskirchen, führte daraufhin im ergänzten Ermittlungsverfahren am 05.07.2017 eine weitere Einvernahme des BF, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson des BF, durch.
Der BF machte auf Nachfrage Angaben zu seinen Lebensumständen. Er habe im Alter von fünf Jahren wegen der schlechten Sicherheitslage Afghanistan mit seiner Familie verlassen und sei im Iran aufgewachsen. Dor habe er Probleme gehabt, hätte keine Schule besuchen dürfen und hätte verpflichtet werden sollen, in Syrien im Krieg zu kämpfen.
Laut Niederschrift wurden mit dem BF "Länderfeststellungen" erörtert.
Er legte zwei "Petitionsschreiben" und Ausbildungszeugnisse aus dem Iran vor.
1.9. Mit Bescheid vom 22.09.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 19.12.2015 erneut gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm aber in Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm in Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 22.09.2018.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG geltend und somit nicht glaubhaft gemacht.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die von ihm behauptete Gefährdungslage widerspreche der allgemeinen bekannten und aktuellen Situation in seiner Heimat.
Aus dem Fluchtvorbringen des BF gehe nicht hervor, dass er persönlich einer besonderen Gefahr im Vergleich zur restlichen Bevölkerung ausgesetzt gewesen wäre. Eine über die allgemeine Sicherheitsproblematik hinausgehende Gefährdungslage sei somit von ihm nicht glaubhaft gemacht worden.
Die Gewährung von subsidiärem Schutz begründete das BFA damit, dass der BF in Afghanistan über keine tragfähigen familiären Anknüpfungspunkte verfüge, im Iran keine Berufsausbildung gemacht habe und lediglich Hilfsarbeiten durchgeführt habe. Er sei somit außerhalb von Afghanistan sozialisiert worden und mit den regionalen Gegebenheiten in Afghanistan nicht vertraut. Aufgrund der mangelnden Kontakte und des fehlenden Unterstützungsnetzes ins einer Heimat wäre er damit konfrontiert, sich keine neue Existenz aufbauen zu können. Dies decke sich mit den vorliegenden Länderfeststellungen, aus denen hervorgehe, dass die soziale Absicherung in Afghanistan traditionell bei den Familien und Stammesverbänden liege und Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer langjährigen Abwesenheit im Ausland zurückkehren, auf große Schwierigkeiten stießen, da ihnen das notwendige soziale und familiäre Netzwerk sowie die erforderlichen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlten.
Es sei daher davon auszugehen, dass er im Fall der Rücklage nach Afghanistan mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Existenzsicherung konfrontiert wäre und nicht mit der nötigen Gewissheit ausgeschlossen werden könne, dass er im Fall der Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde.
1.10. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben der ihn vertretenden rechtsberatenden Hilfsorganisation vom 27.10.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, mit dem der Bescheid bezüglich Spruchpunkt I. (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge wesentlicher Verfahrensmängel angefochten wurde.
In der Beschwerde wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass der BF - folgend der gutachterlichen Stellungnahme einer länderkundigen Sachverständigen vom 15.09.2017 (liegt im Verwaltungsakt unchronologisch vor der Beschwerde ein) sowie auch folgend einem Aufsatz einer Sachverständigen im Asylmagazin 3/2017 - bei einer Rückkehr mit gravierenden Schwierigkeiten zu rechnen habe. Er würde diskriminiert und fände kaum eine Wohnung oder eine Arbeit.
Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
1.11. Der BF stellte am 08.08.2018 beim BFA einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG.
1.12. Bei seiner Einvernahme am 16.10.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, Betreff: "Einvernahme zur Prüfung der befristeten Aufenthaltsberechtigung / Prüfung der Einleitung eines Aberkennungsverfahrens", im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi und einer Vertrauensperson, wurde der BF zu seinen Lebensumständen in Österreich sowie erneut zu seinen Angaben betreffend sein Leben im Iran, zu seinem Lebenslauf und zu seinem Alter befragt.
Der BF gab an, er sei gesund und bei XXXX in Wien erwerbstätig. Er legte ein Deutsch-Diplom A2 sowie einen Dienstvertrag vor.
Laut Niederschrift wurde die "Länderfeststellung der Staatendokumentation" vom 29.06.2018 (ohne Bezeichnung) mit dem BF erörtert.
1.13. Mit Bescheid vom 03.10.2018 wurde der dem BF mit Bescheid vom 22.09.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). In Spruchpunkt II. wurde sein Antrag vom 08.08.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen. In den Spruchpunkten III. - VI. wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF "2 Wochen" [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Die Aufhebung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA im Wesentlichen mit der Lage im Herkunftsstaat, darunter Ausführungen zu UNHCR (aber nicht zu den aktuellen Richtlinien vom 30.08.2018, sondern zu jenen vom 19.04.2016) und zu diversen Sachverständigen.
Auf welchen Umstand gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 das BFA seine Entscheidung stützte, aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage, den - rechtskräftig - zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten aufzuheben, geht aus der Begründung nicht hervor.
1.14. Gegen diesen Bescheid des BFA vom 03.10.2018 erhob der BF mit Schreiben der ihn vertretenden rechtsberatenden Hilfsorganisation vom 05.11.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge wesentlicher Verfahrensmängel angefochten wurde.
In der Beschwerde wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die vom BFA herangezogenen Länderberichte unvollständig und teils veraltet und nicht geeignet seien, die Lage des BF im Falle einer Rückkehr beurteilen zu können. Aktuelle Berichte zu Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif seien nicht berücksichtigt worden, ebenso nicht die aktuellen UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan, wonach eine IFA Kabul derzeit generell ausgeschlossen sei.
Sodann wurde auf das Erkenntnis des BVwG vom 19.03.2018, W238 2127889-2/4E verwiesen, in dem in der Begründung in einem vergleichbaren Fall Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) angeführt worden sei. Daraus ergebe sich, dass eine Behebung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erfordere, dass sich Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden (Auszug aus der Statusrichtlinie). Eine solche grundlegende und dauerhafte Änderung jener Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, habe die Behörde nicht dargetan.
Beigelegt war der Beschwerde ein Empfehlungsschreiben einer Nachbarin für den BF.
1.15. Das BFA legte die Beschwerde gegen den Bescheid vom 03.10.2018 samt Verwaltungsakt vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 20.12.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 04.08.2016, 05.07.2017 und 03.10.2018, das multifaktorielle medizinische Sachverständigengutachten betreffend die Altersschätzung des BF vom 13.05.2016 sowie die gegenständlichen Beschwerden vom 27.10.2017 und vom 05.11.2018, sowie in die Gerichtsakten des BVwG
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszüge aus den jeweils aktuellen Länderinformationsblättern der Staatendokumentation des BFA, Aktenseiten 334 bis 405 im Verwaltungsakt betreffend den Bescheid vom 22.09.2017, Bescheidseiten 11 bis 95 im nicht nummerierten Verwaltungsakt betreffend den Bescheid vom 03.10.2018)
Der BF hat keine Beweismittel oder sonstige Belege für sein Fluchtvorbringen vorgelegt.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX, geboren am XXXX, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes im Iran auch Farsi.
3.1.2. Lebensumstände des BF in Afghanistan und Iran:
Der BF stammt aus der Provinz Kapisa und verließ im Alter von ca. fünf Jahren mit seiner Familie aufgrund der schlechten Sicherheitslage Afghanistan und zog in den Iran, wo er sechs Jahre lang die Grundschule besuchte und als Schweißer arbeitete.
Der BF hat sich seit seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von fünf Jahren nicht wieder in Afghanistan aufgehalten. Er verfügt in Afghanistan weder über familiäre noch über sonstige soziale Anknüpfungspunkte.
3.1.3. Lebensumstände des BF in Österreich:
Der BF bemüht sich in Österreich um seine Integration. Er hat die Deutschprüfung A2 absolviert und ist beiXXXX erwerbstätig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er verfügt über Empfehlungsschreiben von Nachbarn und Bekannten.
3.1.4. Dem BF wurde mit Bescheid des BFA vom 22.09.2017 rechtskräftig der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
Eine im Vergleich zu diesem Bescheid eingetretene grundlegende und dauerhafte Änderung jener Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, liegt nicht vor.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF hat Afghanistan im Alter von ca. fünf Jahren verlassen, da seine Eltern diese Entscheidung - wegen der schlechten Sicherheitslage - für ihn getroffen haben, und ist im Iran aufgewachsen. Der BF hat keine konkreten eigenen Erinnerungen an sein Leben in Afghanistan und die Ausreisegründe seiner Eltern.
Er wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.2. Der BF hat den Iran wegen der der schwierigen Lebensbedingungen für dort aufhältige Afghanen sowie aus Sorge, in den Krieg nach Syrien geschickt zu werden, verlassen.
3.2.3. Der BF hat keine eigenen konkreten Fluchtgründe betreffend seinen Herkunftsstaat vorgebracht und somit nicht glaubhaft gemacht, dass er in seinem Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt gewesen wäre.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.3.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 29.10.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
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Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
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Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
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Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung:
Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.05.2018; vgl. DW 06.05.2018, AJ 06.05.2018, Tolonews 06.05.2018, Tolonews 29.04.2018, Tolonews 220.4.2018).
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Zivilist/innen
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Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 01.01.2009 - 31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 01.01.2018 - 31.03.2018 registriert die UNAMA
2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.04.2018).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.04.2018).
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Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.01.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 Verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).
Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre vierteljährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u.a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Ja