TE Bvwg Erkenntnis 2018/12/10 W204 2196179-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.12.2018
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Entscheidungsdatum

10.12.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs2 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W204 2196179-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des XXXX, geb. am XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch die Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH - ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, Zl. XXXX, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Am darauffolgenden Tag wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich niederschriftlich erstbefragt. Dabei gab der BF u.a. an, am XXXX geboren worden zu sein und der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, es habe in Afghanistan keine Arbeit und keine Sicherheit gegeben. Er habe sich nicht weiterbilden können und bei seiner Tante gelebt, weil er sonst niemanden mehr gehabt habe. Außerdem gebe es zahlreiche Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten.

I.3. Am XXXX übermittelte der BF einen Antrag auf freiwillige Rückkehr nach Afghanistan, den er am XXXX zurückzog.

I.4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom XXXX zu XXXX wurde die dem BF gewährte Grundversorgung in der Weise eingeschränkt, dass ihm das Taschengeld für einen Zeitraum von drei Monaten nicht gewährt wurde. Dem Bescheid liegt zugrunde, dass der BF die Wand seines Zimmers beschädigte und dadurch einen Schaden in Höhe von € 150,00 verursachte sowie in betrunkenem Zustand während der Ausgabe des Abendessens auf das Essen einschlug und in weiterer Folge einen Mitarbeiter des Sicherheitsteams mit einem Stein bedrohte sowie einen weiteren Fremden mit dem Stein schlug.

I.5. In einem von der Behörde eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten vom XXXX wurde auf Grundlage einer am XXXX durchgeführten multifaktoriellen Untersuchung zur Altersdiagnose festgehalten, dass der BF zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages ein Mindestalter von 18,59 Jahren aufgewiesen habe und somit jedenfalls volljährig sei.

I.6. Am XXXX langte eine Anzeige der Landespolizeidirektion Oberösterreich gegen den BF wegen Störung der öffentlichen Ordnung (§ 81 SPG) ein.

I.7. Am XXXX langte ein Abschlussbericht des Stadtpolizeikommandos XXXX, wonach der BF des versuchten Diebstahls verdächtig sei, wozu er sich geständig verantwortete. Mit Schreiben vom XXXX teilte die Staatsanwaltschaft XXXX mit, dass von der Verfolgung des BF vorläufig zurückgetreten worden sei.

I.8. Am XXXX wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des BFA in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Der BF wurde dabei u.a. zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, er habe erstens eine große Abneigung gegen die afghanische Regierung und die Art der Gesetze, zweitens habe er seit seiner Geburt nur Krieg erlebt, drittens gebe es eine große Diskriminierung der Hazara und Schiiten und viertens sei Afghanistan einfach kein Ort zu leben, dort gebe es kein Recht und keine Ordnung.

Als Beilage zur Niederschrift wurde eine Teilnahmebestätigung eines Werte- und Orientierungskurses genommen.

I.9. Mit Bescheid vom XXXX, dem BF am XXXX zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage (Spruchpunkt VI.). Zudem wurde gegen den BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die Behörde aus, dass dem Vorbringen des BF keine individuelle Verfolgungsgefährdung entnommen werden könne, sodass ihm der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen sei. Zu Spruchpunkt II. führte die Behörde aus, dass dem BF eine Rückkehr nach Kabul möglich und zumutbar sei. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, weil die Voraussetzungen nicht vorlägen. Hinsichtlich Art. 8 EMRK führte das BFA eine Abwägung durch und kam dabei zum Schluss, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sowie bei Vorliegen der in § 46 Abs. 1 Z. 1 bis 4 FPG genannten Voraussetzungen sei seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig.

Aufgrund seines gezeigten Verhaltens stelle der BF eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Es sei eine negative Zukunftsprognose auszustellen und daher ein Einreiseverbot zu erlassen.

I.10. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.11. Am XXXX erhob der BF durch seine Rechtsvertretung Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Es wurde beantragt, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen; dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen; in eventu dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen; in eventu den Bescheid dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt und dem BF ein Aufenthaltstitel erteilt werde; in eventu das gegen BF verhängte Einreiseverbot ersatzlos zu beheben; in eventu das Einreiseverbot auf eine angemessene Dauer herabzusetzen; in eventu den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Begründend wurde dem BFA insbesondere vorgeworfen, es habe mangelhafte Länderfeststellungen getroffen. Der BF werde aufgrund seiner (unterstellten) politischen und religiösen Einstellung verfolgt und sei zudem als Angehöriger der Hazara ebenfalls Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Der BF sei hinsichtlich seiner verwaltungsstrafrechtlichen Verurteilung geständig und reuig und versuche nunmehr, sich in Österreich zu integrieren.

I.12. Am XXXX langte die gegenständliche Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

I.13. Am XXXX langte ein Aktenvermerk der Landespolizeidirektion Oberösterreich ein, wonach der BF angeblich Drogen zum Verkauf angeboten hätte.

I.14. Am XXXX nahm der BF zum ihm zuvor übermittelten aktualisierten Länderinformationsblatt Stellung und verwies einerseits auf seine Ausführungen in der Beschwerde und führte andererseits aus, dass auch die übermittelten Länderinformationen zeigten, dass es zu keiner Verbesserung der Sicherheitslage gekommen sei. Die Feststellungen zur Rückkehrsituation beruhten fast ausschließlich auf dem Fact Finding Mission Report Afghanistan, sie stellten sich daher als einseitig, nicht ausgewogen und keinesfalls objektiv dar. Dieser Bericht sei zudem veraltet und stelle lediglich ein Rechercheergebnis dar, das jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehre.

I.15. Am XXXX übermittelte das BFA einen Zeitungsbericht, wonach der BF in eine Schlägerei unter mehreren Asylwerbern verwickelt gewesen sei.

I.16. Mit Schreiben vom XXXX wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Verständigung der Behörde durch das Landesgericht XXXX vom XXXX übermittelt, wonach der BF wegen der Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 StGB, der Begünstigung nach §§ 15 Abs. 1, 299 Abs. 1 StGB, der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 1. Fall StGB und der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB sowie des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1

2. Fall StGB unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB nach dem zweiten Strafsatz des § 297 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden ist, wobei acht Monate für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

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Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-

Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-

Einsicht in die Vorlagen an das Bundesverwaltungsgericht

-

Einsicht in das Strafregister, das GVS-System und das Melderegister.

II.1. Sachverhaltsfeststellungen:

II.1.1. Zum BF und seinen Fluchtgründen:

Der BF ist afghanischer Staatsbürger, schiitischer Moslem und der Volksgruppe der Hazara angehörig. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und volljährig. Seine Identität steht nicht fest.

Der BF wurde in Kabul geboren und besuchte dort sieben Jahre die Schule. Der BF arbeitete in Kabul in einem Restaurant als Kellner.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr in die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Gefahr läuft, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF verfügt über soziale Unterstützung in Kabul.

Der BF geht in Österreich keiner geregelten Erwerbstätigkeit nach. Im Bedarfsfall erledigte er Arbeiten für die Gemeinde. Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Er besuchte während seines Aufenthalts im Bundesgebiet keine Deutschkurse und absolvierte keine Deutschprüfungen. Er besuchte den Werte- und Orientierungskurs des ÖIF. Der BF ist kein Mitglied eines Vereins und nimmt nicht am gesellschaftlichen Leben seiner Heimatgemeinde teil. Der BF verfügt über keine Familienmitglieder im Bundesgebiet.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Gegen den BF wurde am XXXX eine Wegweisung und ein Betretungsverbot ausgesprochen, da er im stark alkoholisierten Zustand mit einem Stein andere Asylwerber bedrohte und einem Asylwerber einen Kopfstoß versetzte. Dem BF wurde für dieses Verhalten zudem für drei Monate das Taschengeld entzogen.

Gegen den BF besteht eine rechtskräftige Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft XXXX aufgrund der Störung der öffentlichen Ordnung (§ 81 SPG).

Der BF wurde wegen der Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 StGB, der Begünstigung nach §§ 15 Abs. 1, 299 Abs. 1 StGB, der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 1. Fall StGB und der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB sowie des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 2. Fall StGB unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB nach dem zweiten Strafsatz des § 297 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten durch das Landesgericht XXXX rechtskräftig verurteilt, wobei acht Monate für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

II.1.2. Zur Situation in Afghanistan:

Politische Lage:

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (3.5.2017): Charismatic, Absolutist, Divisive: Hekmatyar and the impact of his return, https://www.afghanistan-analysts.org/charismatic-absolutist-divisive-hekmatyar-and-the-impact-of-his-return/, Zugriff 17.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (18.12.2016): Update on Afghanistan's Electoral Process: Electoral deadlock - for now, https://www.afghanistan-analysts.org/update-on-afghanistans-electoral-process-electoral-deadlock-broken-for-now/, Zugriff 4.6.2018

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http://www.afghan-bios.info/index.php?option=com_afghanbios&id=3452&task=view&total=3673&start=2364&Itemid=2, Zugriff 28.5.2018

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AB - Afghan Bios (15.1.2016): National Congress Party, http://www.afghan-bios.info/index.php?option=com_afghanbios&id=3453&task=view&total=4&start=0&Itemid=2, Zugriff 29.5.2018

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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