Entscheidungsdatum
27.12.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
G309 2175197-1/18E
Schriftliche Ausfertigung des am 16.11.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Ing. Mag. Franz SANDRIESSER über die Beschwerde des XXXX, geb. am XXXX, StA: Irak, vertreten durch den Verein Menschenrechte, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 13.10.2017, Zl. XXXX, betreffend internationalen Schutz nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.11.2018 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) verließ seinen Herkunftsstaat Irak Anfang September 2015 und stellte nach seiner schlepperunterstützten Einreise ins Bundesgebiet am 10.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion XXXX, am 10.09.2015 gab der BF an, den im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am (01.01.)2014 in XXXX, Irak, geboren, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der schiitischen Glaubensrichtung, ledig sowie kinderlos und habe zuletzt in Bagdad, XXXX, gelebt.
Zu den Gründen seiner Ausreise sowie den Befürchtungen im Falle einer Rückkehr in den Irak befragt, führte der BF gleichlautend wie folgt aus: "Ich hatte Angst seit ich in Bagdad lebe. Es gibt dort regelmäßig Bombenanschläge und Attentate. Man lebt dort nur in Angst und es herrscht Bürgerkrieg in Bagdad. Bereits meine Eltern sind durch Bombenanschläge, beim Einkaufen 2009, ums Leben gekommen."
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 14.03.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Regionaldirektion Wien, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs bestätigte der BF, die arabische Sprache zu verstehen und gab weiters an, sich nicht genau an die Erstbefragung erinnern zu können, da er starke Tabletten gegen seine psychischen Probleme genommen habe. Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der BF an, dass er in Bagdad geboren sei, er in Bagdad fünf Jahre die Schule besucht habe, er nach dem Tod der Eltern bei seinem Bruder in Bagdad gewohnt habe, ihn sein Bruder geschlagen und ihm die Nase gebrochen habe, er mit 15 Jahren bei seinem Bruder ausgezogen sei und seit 2013 keinen Kontakt zu ihm habe, er bis zu seinem 21. Lebensjahr auf der Straße gelebt sowie als Hilfsarbeiter bei einem Automechaniker und als "Transporteur für Gepäcksstücke" gearbeitet habe. Seine Eltern seien amXXXX.2007 bei einer Explosion getötet worden, eine Tante väterlicherseits, sein Bruder und seine Schwester würden noch im Irak leben. Mit der Schwester habe er über das Internet Kontakt.
Den Irak habe er aus zwei Gründen verlassen. Der erste Grund sei, dass ihn sein Bruder immer geschlagen habe und der zweite Grund, dass er vor den Milizen geflohen sei. Die Milizen seien zu ihnen gekommen, haben mit ihnen geredet und versucht [sie dazu zu bringen], dass sie sich [ihnen] anschließen. Die Milizen gaben ihnen immer wieder einen Monat Zeit sich zu entscheiden. XXXX habe versucht den BF zu rekrutieren und gehöre er zur Saraya as-Salam Miliz. Diese Miliz werde vom Iran unterstützt und sei gemeinsam mit Al-Haschd asch-Schabi [Anm. Nationalmobilmachung auch Volksmobilmachungskräfte/-einheiten/-komitee (PMF/PMU/PMC)] in Nadschaf. Er sei zwei Jahre von XXXX verfolgt worden. Weder die Schläge durch seinen Bruder noch die Anwerbungsversuche der Milizen habe der BF bei der Polizei angezeigt. Bei seiner Schwester im Irak könne er nicht bleiben, da sie wenig Geld und fünf Kinder habe. Der Schwager des BF bekomme als Hilfsarbeiter unregelmäßig Geld. Der BF könne dort [bei seiner Schwester] keine Ehe schließen und habe keine Arbeit. Auch habe er Angst als menschliches Schutzschild verwendet zu werden. Der BF möchte heiraten, eine Zukunft haben und eine Familie aufbauen.
3. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid des BFA, dem BF zugestellt am 17.10.2017, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (a.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des BF in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (b.) (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das BFA nach Wiedergabe der Einvernahme des BF und den Feststellungen zu dessen Person aus, dass seitens des BFA nicht festgestellt werden könne, dass der BF im Irak konkret und gezielt gegen seine Person gerichteten Übergriffen maßgeblicher Intensität ausgesetzt gewesen sei oder es im Falle einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wäre. Fest stehe, dass er den Irak aufgrund der allgemein herrschenden Situation verlassen habe und der BF keine asylrelevanten Fluchtgründe vorbringen konnte.
In der Beweiswürdigung wird diesbezüglich dargelegt, dass das Vorbringen des BF den Irak wegen der unsicheren Lage verlassen zu haben als glaubhaft angesehen werde. Bei seinem weiteren Vorbringen (Misshandlung durch Bruder, Gefahr der Rekrutierung durch Miliz) habe sich der BF auf das Aufstellen von bloß abstrakten und unkonkreten Behauptungen beschränkt. Das Vorbringen beinhalte keine glaubhaften, gegen den BF persönlich gerichteten Verfolgungshandlungen und habe er sein Vorbringen auch widersprüchlich dargestellt.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das BFA, der BF habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem BF sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da im Irak von keiner gegen den BF gerichteten Bedrohungssituation gesprochen werden könne, weshalb nicht von einer Gefahr iSd § 50 FPG ausgegangen werden könne und bestehe kein Hinweis auf das Vorliegen "außergewöhnlicher Umstände" (lebensbedrohende Erkrankung oder dergleichen), die eine Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK und § 50 FPG unzulässig machen könnten. Dem BF sei es zuzumuten sich mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und gegebenenfalls mit der Unterstützung der Familienangehörigen im Irak den Lebensunterhalt zu sichern. Die im Verfahren angegebenen psychischen Probleme des BF können - wenn auch nicht auf österreichischem Niveau - im Irak behandelt werden. Dem BF sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.
4. Mit Verfahrensordnung vom 13.10.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Verfügung gestellt.
5. Mit dem am 27.10.2017 beim BFA eingelangten und mit demselben Datum datierten Schriftsatz erhob der BF Beschwerde gegen den oben angeführten Bescheid. In der Beschwerde wurde nach Darlegung der Beschwerdegründe beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine Beschwerdeverhandlung durchführen, den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz vom 10.09.2015 Folge gegeben und dem BF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, in eventu der Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, in eventu einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. §§ 55, 57 AsylG 2005 erteilen, in eventu den Bescheid ersatzlos zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung an das BFA zurückverweisen und die gegen den BF ausgesprochene Rückkehrentscheidung sowie die Aussprüche über die Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak aufheben.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) am 30.10.2017 vom BFA vorgelegt und langten am 02.11.2017 beim BVwG ein.
7. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 07.11.2018 wurden den Verfahrensparteien aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur Lage im Irak zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.
8. Am 09.11.2017 langte beim BVwG eine Stellungnahme des BF ein und wurde darin ausgeführt, dass die medizinische Versorgungssituation im Irak angespannt sei, in Bagdad viele Krankenhäuser mit eingeschränkter Kapazität arbeiten und ein massiver Versorgungsmangel bestehe. Auch könne der Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich in allen Landesteilen gewährleisten. Der Erhalt von Medikamenten sei ebenfalls eingeschränkt bzw. seien diese nur privat erhältlich. Die Kosten für die Behandlung seien von verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht und Wohnort abhängig. Psychiatrische Erkrankungen seien im Irak stigmatisiert. Eine medizinische Behandlung des BF sei im Falle einer Rückkehr nicht gewährleistet.
9. Am 16.11.2018 führte das BVwG in der Außenstelle Graz eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durch. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem BF einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der ihm bereits zuvor übermittelten Länderdokumentationsunterlagen sowie der Anfragebeantwortung zu "Anpassungsstörung nach psychischer Belastung; Medikamente" erörtert. Ferner wurde das im Strafverfahren des Landesgerichtes für XXXX, GZ: XXXX, zum Gesundheitszustand des BF erstellte Gutachten des Gerichtssachverständigen XXXX, die gekürzte Urteilsausfertigung und der Protokollsvermerk zum Akt genommen und dem Rechtsvertreter eine Kopie des Gutachtens ausgefolgt. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Nach Schluss des Beweisverfahrens wurde das gegenständliche Erkenntnis mündlich verkündet.
10. Mit dem am 19.11.2018 eingebrachten und datierten Schreiben (OZ 17) beantragte der BF mittels seiner Rechtsvertretung die schriftliche Ausfertigung des am 16.11.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF führt den im Spruch angeführten Namen, ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Er wurde am XXXX im Irak geboren und lebte zuletzt in Bagdad. Der BF bekennt sich zu keiner Glaubensrichtung, er ist ledig und hat keine Kinder. Der BF spricht arabisch und hat Grundkenntnisse der deutschen Sprache.
Die Eltern des BF sind bereits verstorben. Der Bruder des BF, bei dem er nach dem Tod der Eltern lebte, lebt in Bagdad. Der BF hat seit dem Jahr 2013 keinen Kontakt zu seinem Bruder. Die Schwester des BF lebt mit ihrer Familie (Ehemann und fünf Kinder) in XXXX, Irak. Der BF und seine Schwester telefonieren regelmäßig (alle 2-3 Monate). Eine Tante des BF väterlicherseits lebt in Bagdad.
Der BF besuchte in Bagdad ca. drei/vier Jahre die Grundschule. Der BF verließ die Schule - auf Druck seines Bruders - um zu arbeiten und verkaufteXXXX auf der Straße. Nachdem der BF im Alter von 15 bei seinem Bruder auszog lebte er auf der Straße und konsumierte Drogen. Der BF war als Hilfsarbeiter bei einem Automechaniker beschäftigt und transportierte auch Gepäckstücke. Später mietete der BF einen Handwagen aus Holz und transportierte Waren von einem Geschäft zum anderen.
Im August 2015 beschloss der BF seinen Herkunftsstaat zu verlassen (AS 82). Am 01.09.2015 verließ der BF den Irak legal von Bagdad ausgehend mit dem Flugzeug in die Türkei und reiste in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 10.09.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Der BF konsumiert im Bundesgebiet - wie bereits in seinem Herkunftsstaat - Drogen. Der BF leidet in psychiatrischer Hinsicht an einer Polytoxikomanie (ICDE 10, F 19) mit psychotischen Entgleisungen (ICD 10, F 19) und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (ICD 10, F 60). In neurologischer Hinsicht findet sich keine manifeste Störung. Der BF nimmt seit XXXX2018 an einer wöchentlichen (kunst-)therapeutischen Behandlung bei einer diplomierten Kunsttherapeutin/diplomierten Traumaberaterin teil (Beilage ./B). Zuletzt wurde dem BF am XXXX2018 die täglich zweimalige Einnahme von RISPERIDON 1A 2 mg Filmtabletten (Wirkstoff Risperidon) verschrieben (Beilage ./C). Auch im Irak, insbesondere in der Hauptstadt Bagdad, gibt es medizinische Einrichtungen, in denen die gesundheitlichen Probleme des BF behandelt werden können. An einer schweren oder unmittelbar lebensbedrohlichen Erkrankung leidet der BF nicht.
Der BF ist ein körperlich gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit hinreichender Ausbildung in der Schule. Der BF verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft. Der BF verfügt über ein irakisches Ausweisdokument im Original (Staatsbürgerschaftsnachweis).
1.3. Das Vorbringen des BF vor dem BFA (AS 79 ff), in der Beschwerde und der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zur behaupteten Verfolgungsgefahr im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat, wonach - im Wesentlichen zusammengefasst - der BF von seinem Bruder (zu dem er seit 2013 keinen Kontakt mehr habe) immer geschlagen worden sei und drei Milizen ("Saraya Al-Salam/Jaish Al Mahdi, Asaab Miliz") bzw. Mitglieder der schiitischen Miliz Saraya as-Salam, insbesondere XXXX, zumindest zwei Jahre lang versucht haben den BF für die Miliz bzw. "den Jihad" (zwangsweise) zu rekrutieren und im Fall der Rückkehr in den Irak der BF entweder von seinem Bruder oder Milizen getötet werden würde, wird dieser Entscheidung nicht als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt.
1.4. Der BF war im Irak nicht politisch tätig. Der BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsstaat vor der Ausreise Drohungen oder Übergriffen von Milizen, Kämpfern der schiitischen Miliz Saraya as-Salam oder eines ihrer Mitglieder ausgesetzt war oder er einer - auch nur versuchten - Zwangsrekrutierung durch Milizen unterlag bzw. dass er der Gefahr einer Zwangsrekrutierung oder einer Tötung durch die Milizen im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Auch kann nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsstaat Übergriffen durch seinen Bruder ausgesetzt war bzw. dass er der Gefahr der Ermordung durch seinen Bruder im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
1.5. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
1.6. Ein konkreter Anlass für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Der BF hatte mit den Behörden des Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses, seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner politischen Gesinnung Probleme noch sonst irgendwelche Probleme. Auch sonstige Gründe, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat allenfalls entgegenstehen würden, konnten nicht festgestellt werden.
1.7. Der BF hält sich seit spätestens 10.09.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig ins Bundesgebiet ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 08.03.2018, XXXX, wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 2 StGB, des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB und dem Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG zu einer - unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen - Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.
Der BF bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und ist in XXXX in einer Unterkunft für männliche, erwachsene Asylwerber untergebracht. Er ist nicht legal erwerbstätig. Der BF arbeitet von Zeit zu Zeit in der Flüchtlingsunterkunft und erledigt Reinigungsarbeiten, wobei er EUR 4,00 in der Stunde erhält.
Der BF hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte.
Der BF ist alleinstehend und für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Er besucht (Deutsch-)Kurse (A1-Kurs, Alphabetisierungskurs); hat jedoch keine Prüfungen über Sprachkenntnisse abgelegt.
1.8. Zur Behandelbarkeit von Anpassungsstörungen nach psychischer Belastung und der Verfügbarkeit von Medikamenten werden folgende
Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:
Diagnose:
Anpassungsstörung nach psychischer Belastung
Aktuelle Medikation:
-
Mirtabene 30 (Wirkstoff: Mirtazapine)
-
Praxiten 15 bei Bedarf (Wirkstoff: Oxazepam)
1. Sind die oben genannten Medikamente (Wirkstoffe) im Irak (speziell in Bagdad) verfügbar?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch, Englisch einige Informationen gefunden. Aufgrund der informationsspezifischen Art der Fragestellungen wurden diese auch an eine befähigte externe Stelle, den Verbindungsbeamten (VB) des BM.I für den Mittleren Osten, zur Recherche übermittelt. Eine ausgewogene Auswahl wird, entsprechend den Standards der Staatendokumentation, im Folgenden zur Verfügung gestellt. Informationen zu VB, IOM, MedCOI finden sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at sowie in der dort ersichtlichen Methodologie der Staatendokumentation. Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm. Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt "Einzelquellen" näher beschrieben.
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass die angefragten Medikamente im Irak erhältlich sind.
Einzelquellen:
Der VB übermittelte eine Auskunft des irakischen
Gesundheitsministeriums:
Nach einer Antwort von Brig XY vom irakischen Innenministerium, der wiederum Rücksprache mit dem Gesundheitsministerium in Bagdad gehalten hat, gibt es die angeführten Medikamente.
VB des BM.I für den Mittleren Osten (3.7.2018): Auskunft des VB, per E-Mail
Die Angaben von MedCOI stammen aus deren Datenbank und somit aus Erhebungsergebnissen von früheren Fällen. Sie wurden nicht von der Staatendokumentation extra für den gegenständlichen Fall angefragt.
Ergebnis der Recherchen: Laut Erhebungen vom 13.5.2018 ist das Medikament Mirtabene (Wirkstoff: Mirtazapine) in Privatapotheken in Bagdad erhältlich:
Das Original folgender Anfragebeantwortung von MedCOI wird als Anlage übermittelt:
* MedCOI (13.5.2018): BMA 11131, Zugriff 20.6.2018
Auch die folgenden Angaben von MedCOI stammen aus deren Datenbank und somit aus Erhebungsergebnissen aus früheren Fällen. Sie wurden nicht von der Staatendokumentation extra für den gegenständlichen Fall angefragt. Ergebnis der Recherchen: Laut Erhebungen vom 30.4.2018 ist das Medikament Praxiten (Wirkstoff: Oxazepam) in Privatapotheken in Bagdad erhältlich:
Das Original folgender Anfragebeantwortung von MedCOI wird als Anlage übermittelt:
* MedCOI (30.4.2018): BMA 11083, Zugriff 20.6.2018
2. Können diese Medikamente leicht beschafft werden?
Quellenlage/Quellenbeschreibung: Siehe oben.
Zusammenfassung: Siehe Einzelquellen.
Einzelquellen: Der VB übermittelte eine Auskunft des irakischen
Gesundheitsministeriums:
Nach Antwort von Brig XY vom irakischen Innenministerium, der wiederum Rücksprache mit dem Gesundheitsministerium in Bagdad gehalten hat, können diese Medikamente leicht beschafft werden, wenn die Patienten ein Rezept für diese Medikamente haben und wenn sie in Behandlung bei einem Arzt sind.
Es soll nach Angaben der Auskunftsperson auch "illegale" Möglichkeiten geben um an die Medikamente zu kommen.
VB des BM.I für den Mittleren Osten (3.7.2018): Auskunft des VB, per E-Mail
IOM berichtete in ihrem jährlichen Länderinformationsblatt vom August 2017 allgemein über die Verfügbarkeit von Medikamenten im Irak:
Verfügbarkeit von Medikamenten
In staatlichen Krankenhäusern oder Kliniken werden zumeist nur wenige Medikamente erhältlich sein (jedoch günstig).
In privaten Krankenhäusern und Kliniken werden qualitative Medikamente zumeist erhältlich sein (jedoch sehr teuer).
Die Kosten für die Behandlung sind von verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht und Wohnort abhängig.
BAMF - IOM (28.8.2017): Country Fact Sheet, Länderinformationsblatt Irak,
https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2017%2C_deutsch.pdf?nodeid=18760631&vernum=-2, Zugriff 15.5.2018
3. Kann der Asylwerber in Bagdad weiterhin psychotherapeutisch behandelt warden?
Quellenlage/Quellenbeschreibung: Siehe oben.
Zusammenfassung: Siehe Einzelquellen.
Einzelquellen: Der VB übermittelte eine Auskunft des irakischen
Gesundheitsministeriums:
Nach Antwort von Brig XY vom irakischen Innenministerium, der Rücksprache mit dem Gesundheitsministerium in Bagdad gehalten hat, können Iraker in Bagdad psychotherapeutisch behandelt werden.
VB des BM.I für den Mittleren Osten (3.7.2018): Auskunft des VB, per E-Mail
IOM berichtete in ihrem jährlichen Länderinformationsblatt vom August 2017 allgemein über die medizinische Versorgung und den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen im Irak:
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa 1 h vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen. [...]
Alle irakischen Staatsbürger haben Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Es ist jedoch kein staatliches Krankenversicherungssystem etabliert. [...]
Medizinische Einrichtungen und Ärzte
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Azadi Teaching Hospital (Duhok, Nakhoshkhana Road)
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The Central Medical Service, City of Me dicine (Suliamani city center u nd Malik Mahmud Street)
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The Central Medical Service, ALTA'ALEMY HOSPITAL (Basra, Brad'ia)
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Rizgary Teaching Hospital (Erbil, Koya Rd)
-The Central Medical Service, City of Medicine (Baghd ad, Resafa, Babalmu'adam)
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Shar hospital (öffentlich) Malik mahmood road, Sulaimani
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Faruq medical city(privat)Malik Mahmood road, Sulaimani
Anmeldeverfahren
Der Patient sollte zunächst seine lokale Klinik aufsuchen, wo die Diagnose erstellt wird. Danach wird er/sie weiter zu einem Spezialisten überwiesen.
BAMF - IOM (28.8.2017): Country Fact Sheet, Länderinformationsblatt Irak,
https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2017%2C_deutsch.pdf?nodeid=18760631&vernum=-2, Zugriff 15.5.2018
MedCOI berichtet in ihrem Country Fact Sheet Iraq vom März 2017 unter anderem, dass es im Irak nur 400 Psychiater gibt, während etwa 5.000 nötig wären. Jedoch können laut "Basic Health Service Package for Iraq" die meisten psychischen Störungen in Primary Health Centres "main center" und in Krankenhäusern behandelt werden. Jedes Gouvernement hat eine psychiatrische Krankenstation. Die im Paket enthaltenen Leistungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Es gibt drei Krankenhäuser in Bagdad, die sich mit psychischen Störungen befassen:
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Ibn Rushd Krankenhaus
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Al Rashad Hospital (stationäre Versorgung)
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Medizinisches Stadtkrankenhaus
Psychiatrische Erkrankungen werden im Irak stigmatisiert. In öffentlichen Einrichtungen ist eine Konsultation mit einem Psychiater entweder kostenlos oder - je nach Nominalgebühr - belaufen sich die Kosten zwischen 10.000 und 25.000 IQD. Außerhalb der Hauptstadt gibt es keine psychiatrische Versorgung. Ein privates Beratungsgespräch mit einem Psychiater kostet 25.000 IQD (1 IQD = 0,00072 Euro).
Die NGO "Heartland Alliance" entwickelt eine kosteneffiziente und wirksame Behandlungsmaßnahme gegen traumatischen Stress, die sich speziell auf Folteropfer in ländlichen Gebieten konzentriert. Das britische International Medical Corps bietet unter anderem auch psychische Gesundheitsversorgung und psychosoziale Unterstützung für Vertriebene in ganz Irak an:
Iraq has only 400 psychiatrists while it needs around 5,000. According to the 'Basic Health Service Package for Iraq' of 2009 most mental disorders can be treated in Primary Health Centres 'main centre' and in hospitals. Every governorate has a psychiatry ward. Services included in the Package are covered by public health insurance.
There are three hospitals that deal with mental health disorders in Baghdad:
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Ibn Rushd Hospital
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Al Rashad Hospital (in-patient care)
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Medical City hospital
Mental health remains stigmatized. People tend to rely on private psychiatrists (which are not covered by public health insurance) because of the stigma it entails although poor people use public facilities. Mental disorders are thought to be related to superstitious habits so that care is sought outside of the medical profession, through warlocks usually.
An article in Al-Monitor explains that 'Iraqi society perceives those who seek psychiatric help as crazy, which renders the field of psychiatry as a luxury. Patients do not frequent psychiatric clinics, yielding them non-lucrative. [...]
In public facilities, a consultation with a psychiatrist is either for free or costs between IQD 10,000 and 25,000 depending on the nominal fee. Outside of the capital, mental healthcare is not available. A private consultation with a psychiatrist costs IQD 25,000. [...]
The NGO called 'Heartland Alliance' is developing 'a cost-effective, efficacious treatment intervention for traumatic stress, specifically focusing on victims of torture in rural areas.
International Medical Corps UK also provides, among other things, mental health and psychosocial support to displaced populations across Iraq.
MedCOI (23.3.2017): Country Fact Sheet Iraq Update 2017, Summary
Quelle:
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zum Irak:
Anpassungsstörung nach psychischer Belastung; Medikamente, vom 04.07.2018
1.9. Zu schiitischen Milizen - Popular Mobilization Forces (Volksmobilisierungseinheiten bzw. Al-Hasd al-Shaabi) und zur Rekrutierung von Kämpfern durch schiitische Milizen im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:
Genese und Entwicklung seit 2014
Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" bzw. Al-Hashd al-Shaabi, englisch: Popular Mobilization Units (PMU) oder Popular Mobilization Forces bzw. Front (PMF)) bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig fast ausschließlich schiitische Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Schätzungen zufolge haben die Volksmobilisierungseinheiten zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen. Die Entstehung des Milizenbündnisses kann als Reaktion auf die irakische Offensive des sog. "Islamischen Staates" (IS) verstanden werden und ist somit eng mit dessen militärischen Erfolgen und territorialen Gewinnen verquickt: Im Sommer 2014 drang die Terrororganisation in den Irak ein und nahm am 10. Juni erst Mossul und danach weite Teile der Provinzen Ninewah, Salahuddin, Anbar, Diyala und Kirkuk ein; wenig später waren auch die Städte Erbil und Bagdad in Gefahr (Süß 21.8.2017).
Die reguläre irakische Armee war dem IS nicht gewachsen, weshalb der damalige Ministerpräsident Nuri al-Maliki am 11. Juni zur Mobilisierung einer "Reservearmee" aufrief. Außerdem ließ der führende irakische schiitische Gelehrte Ayatollah Ali Sistani am 13. Juni ein islamisches Rechtsgutachten (fatwa) verlautbaren, in dem er alle jungen Männer dazu aufrief, sich den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten des Irak anzuschließen. Infolge der Fatwa schrieben sich tausende junge schiitische Männer auf Freiwilligenlisten ein, schlossen sich jedoch nicht Armee oder Polizei, sondern bereits existierenden oder neu formierten schiitischen Milizen an. Zwei Tage später bildete die irakische Regierung ein Komitee der Volksmobilisierung, das dem Ministerpräsident Haidar al-Abadi untersteht und vom Nationalen Sicherheitsberater Falih al-Fayyad geleitet wird. Die wahren Kräfteverhältnisse sind allerdings schon daran abzusehen, dass die Gründung durch das irakische Innenministerium verkündet wurde:
Dieses unterstand bis Juli 2016 der Führung des "Badr-Politikers" Muhammad al-Ghabban, die dominante Kraft im Innenministerium und damit der eigentliche irakische Führer des Milizenbündnisses ist jedoch Hadi al-Amiri. Mehrere Milizen stehen außerdem politischen Parteien nahe.
Innerhalb der zahlreichen, meist lokal organisierten Gruppen innerhalb der Volksmobilisierungseinheiten können im Wesentlichen drei Gruppen ausgemacht werden: Erstens schon länger aktive Milizen, die infolge der Fatwa tausende neue Rekruten hinzugewannen (Badr-Organisation, Asa'ib Ahl al-Haqq, Kata'ib Hizbullah und Saraya as-Salam). Zweitens gibt es solche schiitischen Formationen, die ab Juni 2014 entstanden (bspw. Kata'ib al-Imam Ali) und drittens einige kleinere sunnitische Milizen (Süß 21.8.2017).
1.10. Zu den Aktivitäten der schiitischen Miliz Saraya as-Salam werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quelle getroffen:
Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa Sistanis auf Anweisung von Muqtada as-Sadr gegründet und sollten möglichst viele der Freiwilligen vereinigen. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017).
1.11. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der gegenüber dem BF offengelegten Quellen getroffen:
1. Neuste Ereignisse
Bagdad:
Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten "Bagdad-Belt", der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.
Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den 'Popular Mobilization Forces' (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).
Terrorattacken:
Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene ('body-born' oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte ('vehicle-borne' oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen ('under-vehicle-borne' oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).
Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.
Kidnappings und Entführungen:
Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).
Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).
Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).
Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).
All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).
Schießereien mit Handfeuerwaffen:
Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.
Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im 'Bagdad Belt' üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).
Konfessionalismus und Diskriminierung:
Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.
Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).
Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich ineiner Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).
Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:
Irakische Sicherheitskräfte (ISF):
Die ISF werden in Bagdad vom 'Baghdad Operations Command' (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).
Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).
Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu:
über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wur