Entscheidungsdatum
14.12.2018Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W172 2133056-1/30E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 1997 , StA. Afghanistan, vertreten durch
Verein ZEIGE, Ottakringer Straße 54/4/Top 2, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.07.2016, Zl. 1052268102-150194070, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.10.2017 und 22.02.2018 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "Beschwerdeführer") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 20.02.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 I.d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").
Am gleichen Tag erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Burgenland.
2. Der Beschwerdeführer wurde am 12.04.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.
3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 11.10.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 I.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 I.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 I.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 21.07.2016 erhoben.
5. Am 02.10.2017 und 22.02.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden auch: "BVwG") eine mündliche Verhandlung durch, wobei der Beschwerdeführer als Partei am 22.02.2018 teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.
In der Verhandlung vom 22.02.2018 wurde ein Gutachten des in diesem Verfahren bestellten Sachverständigen vom 25.07.2017 zur Frage der politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in dessen Herkunftsstaat eingeführt (s. weiter unten Pkt. II.1.2.).
Weiters wurden in diese Verhandlung Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan eingeführt (s. weiter unten Pkt. II.1.3.).
6. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte mit Schreiben vom 01.08.2018 dem Beschwerdeführer eine Verständigung vom Ergebnis seiner aktualisierten Beweisaufnahme zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unter Pkt. II.1.3.).
7. Hierauf erwiderte der Beschwerdeführer mit einer Stellungnahme mit Schreiben vom 08.08.2018.
8. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich, zu:
-
Gesundheitszustand (ärztlicher Befund eines Allgemeinmediziners vom 18.04.2016);
-
Deutschsprachkursen (Teilnahme Deutsch A1.1);
-
gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten (Caritas Salzburg, ÖRK-Landesverband Salzburg);
-
Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten [wie Vereinsmitgliedschaft] sowie
-
sonstige Integrationsmaßnahmen und -bemühungen (s. Unterstützungsschreiben, Teilnahme an Basisbildungskurse);
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX 1997 in Bamiyan in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Glaubensbekenntnis an. Sein Familienstand ist ledig. Seine Muttersprache ist Dari. An Schulausbildung weist er einen mehrjährigen Schulbesuch auf. Er hat keine Berufsausbildung. Er war beruflich zuletzt als Hilfsarbeiter tätig. Noch als unmündiger Minderjähriger zog er gemeinsam mit seiner Familie in den Iran, wo er sich bis zu seiner Ausreise ca. im September 2014 aufhielt. An Familienangehörigen lebten im Iran noch seine Mutter, seine älterer volljährige Schwerster und seine beiden jüngeren minderjährigen Brüder. Vom Iran aus unterstützte er finanziell seine Mutter. Zu seinen Familienangehörigen hat er wieder einen Kontakt. Sie halten sich nun im Iran auf. Er bzw. seine Familienangehörigen weisen kein Vermögen auf.
Der Beschwerdeführer weist keine (relevanten) gesundheitliche Beschwerden auf. Er hält sich seit ca. Februar 2015 in Österreich auf und ist hier sowohl verwaltungsstrafrechtlich als auch strafgerichtlich unbescholten.
Das folgende Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Aufenthalt in Österreich im Rahmen der oben genannten mündlichen Verhandlung wird nachfolgend in die Feststellungen aufgenommen (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG), wonach er in einem Heim wohne, zu viert in einem Stockwerk, wobei sie zu zweit ein Zimmer aufteilen würden. Das Heim gehöre zum Roten Kreuz. Er lebe in Österreich alleine, habe keine Freundin und keine Familienangehörigen in Österreich. Der Beschwerdeführer habe bereits einen A1-Deutschkurs besucht. Weiters sei er fünf bis sechs Monate lang im Lager Traiskirchen gewesen, dort habe es keine offiziellen Deutschkurse gegeben. Eine Dame aus dem Iran, die Mitarbeiterin des Lagers Traiskirchen sei, habe ihm manchmal abends Deutschunterricht gegeben. Als er dann nach Salzburg-Süd verlegt worden sei, habe er dort einen BFI-Deutschkurs besucht. Da er krank gewesen sei, habe er leider die Prüfung verpasst. Er habe auch im BFI sowohl einen Deutsch- als auch einen Mathematikkurs besucht, einen Tag habe er Mathematik-, einen Tag habe er Deutschunterricht gehabt. Derzeit besuche er auch einen Deutschkurs zwei Mal in der Woche in seinem Heim. Ehrenamtlich arbeite er seit ca. einem Jahr bei der Caritas arbeite, zudem auch beim Verein "Menschenrechte in Österreich". Bei der Caritas würden sie Essen und Shampoo an die Obdachlosen verteilen. DA er keine Arbeitserlaubnis habe, könne ich nicht einer ordentlichen Beschäftigung nachgehen. An sozialen Kontakten zu Österreichern habe er drei bis vier Österreicher zuhause besucht und dort Deutschunterricht bekommen. Weiters spiele er Fußball und gehe in das Fitnessstudio. Er spiele Fußball einmal in der Woche, in einer Halle in Salzburg-Süd, gemeinsam mit den anderen Burschen aus dem Flüchtlingsheim.
Das darüber hinausgehende Vorbringen des Beschwerdeführers zu den Gründen, weshalb er Verfolgungshandlungen gegen ihn in Afghanistan im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat befürchte, wurde nicht in die Feststellungen aufgenommen.
1.2.1. Befund und Gutachten des Sachverständigen zur Frage der politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in dessen Herkunftsstaat vom 13.11.2017 (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler wurden vorgenommen; Anm. des BVwG;
BF: Beschwerdeführer):
"Forschungsmethodik:
Literaturstudium zur Frage des Grundstückstreites innerhalb der Familie und zur Lage der Hazara derzeit.
Das Vorbringen des BF im Wesentlichen:
Der BF gibt an, XXXX zu heißen, 1998 in Bamiyan geboren zu sein, sein Vater habe XXXX geheißen und sei auf dem Handelsweg in Kabul getötet worden. Die Mutter befinde sich mit seinen Geschwistern im Iran. Er spreche Dari und habe 5 Jahre die Grundschule in Bamiyan besucht. Er habe zwei Brüder, 10 und 12 Jahre alt, und eine Schwester.
Zu seinem Fluchtgründen:
Es herrsche in Afghanistan Krieg und er habe in Afghanistan keine Familienangehörigen mehr. Die Hazara seien Zielscheibe der Taliban. Außerdem habe sein Vater Feindschaft mit seinem Cousin über ein Erbschaftsgrundstück gehabt. Sie seien auch im Besitz des Grundbuchauszuges gewesen. Sein Vater habe das Grundstück teilen wollen und habe gesagt, dass er ansonsten diesen nicht erlaubt, auf dem Grundstück zu arbeiten. Diese hätten aber gesagt, dass sie das Grundstück für sich haben wollten. Dann habe sein Vater angefangen, Schafe zu verkaufen. Diese habe er nach Kabul geführt. Eines Tages sei sein Vater auf dem Weg nach Kabul von unbekannten Personen getötet worden. Daraufhin habe seine Mutter auf Vermutung hin bei der Behörde gegen seine Cousins Anzeige erstattet. Die Anzeige habe die Behörde nicht entgegengenommen, weil sie gesagt habe, dass dafür keine Beweise vorlegen würden. Nach den Angaben des BF selbst konnte man zuerst die Täter nicht identifizieren. Die Mitbewohner hätten auch gesagt, dass sein Vater von den Taliban getötet worden wäre. Dann habe sein Onkel mütterlicherseits seine Mutter angerufen, nach Iran zu kommen. Er sei 5 oder 6 Jahre alt gewesen sei, als ihn seine Mutter in den Iran mitgenommen habe. Die Grundstücke seien in der Hand der Cousins seines Vaters gewesen. An einer anderen Stelle gibt der BF an, dass er 10 Jahre alt gewesen sei, als er von seiner Familie in den Iran mitgenommen worden sei. Danach sei er nicht mehr in Afghanistan gewesen und vom Iran aus nach Europa gereist, weil er Angst vor den Cousins seines Vaters gehabt habe, von diesen getötet zu werden
Zum Vorbringen des BF
Zur Identität des BF:
Die Angaben des BF reichen nicht aus, seine Herkunftsidentität in Afghanistan festzustellen. Er ist damals sehr klein gewesen, als er Afghanistan mit seiner Mutter verlassen hat. Deshalb führt er seine Unkenntnis von der Region auf sein damaliges Alter zurück. Aber der BF ist deutlich ein Hazara und kommt aus Afghanistan. Diese Feststellung von mir beruht auf die Angaben des BF, dass sein Vater Schafe verkauft und diese zu Fuß nach Kabul geführt habe, um sie dort zu verkaufen. Wenn der Vater nach Kabul Schafe geführt hat, dann ist er und seine Familie, einschließlich sein Onkel mütterlicherseits und seine Mutter, mit Kabul vertraut gewesen.
Zum Grundstückstreit des Vaters des BF mit dessen Cousins:
Wenn die Behörde ablehnt, der Sache nachzugehen, mit der Begründung, dass sie keine Beweise hätte, dass die Cousins seines Vaters seinen Vater getötet haben könnten, gehe ich davon aus, dass, wenn tatsächlich der Vater des BF getötet worden ist und seine Mutter eine Anzeige erstattet hat, wäre die Polizei der Sache auf alle Fälle nachgegangen und nicht einfach sich zurückgelehnt und gesagt hätte, dass sie der Sache nicht nachgehen wolle. In Afghanistan ist es üblich, dass die Polizei zumindest zu den angezeigten Personen kommt bzw. diese Person zum Polizeikommandantur bestellt und sie befragt, und auch die Bevölkerung zum Fall befragt, auch wenn es zu keinem Ergebnis führt.
Diese Art von Einsatz kommt dann vor, wenn die Anzeigen der Personen für die Polizei plausibel klingen. Das bedeutet, wenn tatsächlich in diesem Zeitraum ein Mord an einer Person aus der Gegend passiert ist, von dem diese Person ursprünglich stammt. Im Falle des Vaters des BF war offensichtlich der Behörde nicht bekannt gewesen, dass jemand aus dem Dorf des BF ums Leben gekommen ist.
Eventuelle Verfolgungsgefahr für BF Seites der Cousins des Vaters:
Die Cousins des Vaters des BF haben keinen Grund, den BF zu töteten, weil sie das Grundstück in ihrem Besitz haben und sie sind die Besitzer des Grundstücks, wenn sie den Grundbuchauszug besitzen. Wenn ein Mord passiert, wird die Polizei informiert und sie nimmt den Mörder auf alle Fälle fest, auch wenn er später freikommen könnte. Es ist nicht üblich, dass eine Person wegen eines Grundstücks mit der Größe von 700m2 in einem Grundstückstreit sofort zur Waffe greift und sich in Gefahr bringt, zumal der Cousin des Vaters des BF das Grundstück legal in seinem Besitz hat. Denn jeder Afghane weiß, dass ein Mord schwere Folgen nach sich zieht. Daher sind die Angaben des BF betreffend den Grundstücksstreit nicht authentisch gewesen.
Betreffend die Lage der Hazara in Afghanistan:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 hat sich die Lage und Stellung der Hazara in Afghanistan grundlegend geändert. Sie haben in der afghanischen Regierung und im afghanischen Staat überproportionale Machposition. Sie haben einen Stellvertretenden Staatspräsidenten, fünf Ministerposten und jeweils einen stellvertretenden Minister im Staatssicherheits- Verteidigungs- und Innenministerium. Außerdem haben sie mehrere Schlüsselpräsidien in diesen Ministerien. Der stellvertretende Innenminister ist ein Hazara, General Morad, bis vor kurzem war er stellvertretende Armeechef und war mit Befehlsvollmachten im Kampf gegen die Taliban ausgestattet.
Die Hazara-Parteien, allen voran die Hezb-e Wahdat, kontrollieren derzeit die Hauptsiedlungsgebiete der Hazara selbst als Teil der staatlichen Macht. Diese Gebiete sind: die Provinzen Bamiyan, Daykundi, die Distrikte Jaghuri, Malistan, Natur, Jaghatu und Teile des Distriktes Qarabagh in der Provinz Ghazni, die Hazara-Wohnbezirke in der Provinz Balkh, besonders in der Provinz-Hauptstadt Mazar-e Sharif, und einige Distrikte in der Provinz Samangan wie Dara-e Suf und Hazara-Siedlungsgebiete in der Provinz Sara-e Pul, sowie die von Hazara bewohnten Distrikte und Dörfer in der Provinz Maidan Wardak, vor allem Hessa-i-Awal-i Behsud, Behsud-i Markazi und Daymirdad. Die Hazara sind in Kabul im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und im Bildungsbereich maßgebend vertreten. Die Hazara besitzen mehrere Fernsehen und mehrere Privatuniversitäten in Kabul und anderen Großstädten. Die Hazara stellen in den staatlichen Universitäten mehr Studenten als jede andere Ethnie. Die Hazara und andere Schiiten haben in Großstädten wie in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eigene islamische Bildungsstädte für schiitische Islam-Lehre. Ihre Bildungsstätten werden vom Iran finanziert und mit Lehrkräften unterstützt.
Die Hazara als Schiiten dürfen zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans, seit dem Sturz des Taliban-Regimes ungestört die schiitische Ritualen, wie Ashura, den Gedenktag an den Märtyrertod Imam Husain, mit Prozessionen auch in den nicht-schiitischen Bezirken in vollem Umfang in der Öffentlichkeit feiern.
Allerdings kommt es immer wieder vor, dass die Taliban auf den Hauptstraßen zwischen den Provinzen im Süden, Westen und auf dem Wege nach Maidan Wardak und Bamiyan Reisebusse anhalten und bestimmte Reisende mitnehmen. Die meisten dieser Geiseln auf diesen Strecken sind Hazara. In den Jahren 2013 bis 2015 ist es mehrere Male vorgekommen, dass auf dieser Strecke Hazara aus den Reisebussen hinaus gezerrt und mitgenommen worden sind. Einige von diesen Personen wurden freigelassen und dutzende Personen wurden getötet. Diese Aktionen der Taliban richten sich nicht nur gegen die Hazara, sondern sie töten und entführen auch Paschtunen, Usbeken und Tadschiken. Bei jeder solchen Aktion erwecken die Taliban den Anschein, als würden sich diese oder jene ihrer Aktionen nur gegen die jeweilige Volksgruppe oder den jeweiligen Stamm richten, deren Mitglieder sie gerade entführt und getötet haben. "
1.2.2. Gutachterliche Stellungnahme des Sachverständigen im Rahmen der oben genannten mündlichen Verhandlung, auch in Beantwortung von Fragen (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG; BF:
Beschwerdeführer, D: Dolmetscher, RI: Richter, RV: Rechtsvertretung,
SV: Sachverständiger):
"RI: Was ist Ihre Stellungnahme zum Gutachten des SV?
BF: Zur Anzeigeerstattung von meiner Mutter möchte ich anführen, dass die Polizei die Anzeige nicht entgegengenommen hatte. Die Polizei sagte, dass meine Mutter keine Beweise habe, dass mein Vater durch seine Cousins umgebracht worden ist. Ich berichtige:
Tatsächlich wurde die Anzeige von der Polizei entgegengenommen, doch schenkte sie dem Inhalt dieser Anzeige keinen Glauben. Ich hatte bei der Erstbefragung damals Verständnisschwierigkeiten mit der Dolmetscherin gehabt. Diese sprach in einem Dari-Akzent, ich sprach aber mit einem verfärbten persischen Akzent. Auch die Angabe, dass ich eine Schule in Bamiyan fünf Jahre lang besucht hätte, stimmt nicht. Ich habe im Iran eine inoffizielle afghanische Schule fünf Jahre lang besucht. Zur weiteren Angabe, wonach ich zehn Jahr alt gewesen sei, als ich Afghanistan verlassen habe, auch diese stimmt nicht. Tatsächlich habe ich bereits im Alter von fünf Jahren Afghanistan verlassen, ich war dann 10 Jahre lang im Iran, dann verließ ich den Iran Richtung Europa. Ich habe in diesen zehn Jahren Afghanistan nicht mehr gesehen.
Der SV weist darauf hin, dass am Anfang der Verhandlung der BF Farsi mit iranischem Dialekt gesprochen habe. Im Laufe der Verhandlung wurde seine Aussprache immer mehr zu einem Hasaraki-Dari, das heißt zu einem Dialekt, den die Hazaras in Afghanistan sprechen. Der SV empfiehlt dem BF, nun wieder mehr in Farsi mit iranischem Dialekt zu sprechen. Befragt vom RI, warum der SV darauf Wert lege, dass der BF nunmehr wieder in Farsi mit iranischem Dialekt sprechen sollte, gibt der SV an, dass er dies für seine Schlussfolgerungen betreffend die Länge des Aufenthaltes des BF im Iran benötige.
BF: Mein Vater ist in der Region Behsud getötet worden. In dieser Region gibt es nur Wildnis bzw. Gebirge. Wie Sie selber wissen, gibt es dort keine Polizei. Nachgefragt durch den SV gebe ich an, dass die Region Behsud zu der Provinz Maidan Wardak gehöre. [...]
SV: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass zwar im Protokoll der Ersteinvernahme durch das BFA steht, dass der BF fünf Jahre lang die Grundschule in Bamiyan besucht habe. Allerdings in der Niederschrift der darauffolgenden Einvernahme durch das BFA ist protokolliert, dass der BF seine Schulzeit im Iran verbracht habe. Zur Angabe des BF, wonach es in Behsud keine Polizei gebe, möchte ich anführen, dass dies nicht der Fall sei. Die Provinz Maidan Wardak, zu der der Distrikt Behsud gehöre, wird zwar mehrheitlich von Paschtunen bewohnt. Allerdings in den Distrikten Hessa-i-Awal-i Behsud, Behsud-i Markazi und Daymirdad herrscht die Hezb-e Wahdat, die Hazara-Partei, als Teil der afghanischen Regierung. Nur die Hauptstraßen, so auch die Hauptstraße von Bamiyan über Behsud nach Kabul, werden des Öfteren von den Taliban kontrolliert.
Zur Aussprache des BF möchte ich anführen, dass dieser grundsätzlich einen Farsi-Dialekt spricht, teilweise vom iranischen Dialekt gefärbt. Sein Dialekt tendiert aber eher zu Dari. Der BF spricht einen authentischen Hazari-Dialekt mit iranischer Färbung. Daraus kann gefolgt werden, dass der BF zwar 10 Jahre lang im Iran gelebt hat, sich aber dort in der afghanischen Community aufgehalten bzw. mit dieser mehr zu tun gehabt hat. Dies unterscheidet ihn von anderen Beschwerdeführern, die von klein an im Iran aufgewachsen sind, in iranischen Schulen waren und vorwiegend mit Iranern in Kontakt standen und damit auch iranisch sozialisiert waren. Dies ist beim BF nicht der Fall.
RI: Warum befürchten Sie eine Verfolgung durch Ihre Cousins, denn es waren immerhin diese, die Ihren Vater umgebracht hätten. Eigentlich müssten Sie aus Gründen der Blutrache die Cousins nun verfolgen?
BF: Ich habe Afghanistan verlassen als ich noch sehr klein war. Ich wurde zwei bis drei Mal von iranischen Behörden aufgegriffen. Sie drohten mir damals eine Rückführung vom Iran nach Afghanistan an. Meine Mutter hatte Angst aufgrund der damals bestehenden Gefahr, sodass sie mich nach Europa schickte. Drei Monate vor meiner Ausreise aus dem Iran wurde ich von den Beamten festgenommen. Die Beamten sagten mir, sie würden mich entweder in den Krieg nach Syrien schicken oder mich nach Afghanistan zurückschieben. Meine Mutter hat dort sehr viel geweint und Geld für mich bezahlt. In der Höhe von 1.500.000 Toman (Anm. des D: Dies ist die persische Währung) hat sie somit meine Freiheit erkauft.
RV: Zusätzlich zur Stellungnahme des BF zum Gutachten des SV möchte ich anführen, dass der SV angeführt hat, dass Hazara und Schiiten zum ersten Mal nach der Machtablöse der Taliban nun ihren religiösen Riten ungestört nachkommen könnten. Dies widerspricht aber dem "LIB" vom Dezember 2017, wonach sich neuerdings in Afghanistan serienartige religiöse Übergriffe ergeben würden, dies durch das Aufkommen von sunnitischen Extremisten. Weiters führte der SV an, dass sich die Situation der Hazara verbessert habe, sei es, dass diese nun in höherem Ausmaß an der Regierung beteiligt seien oder nun einen besseren Zugang zur Bildung hätten. Ich möchte demgegenüber darauf verweisen, dass die Hazara zwischenzeitlich immer mehr zur Zielscheibe von sunnitischen Extremisten werden, vermutlich auch oder gerade aus dem Umstand heraus, dass die Hazara nun Teil der Regierung sind. Zur Angabe des SV, dass die Hazara in den Jahren von 2013 - 2015 öfters Ziel von Attacken durch die Taliban waren, möchte ich nur ergänzen, dass diese Gefahr auch über das Jahr 2015 hinaus bis heute besteht. Im Übrigen verweise ich auf meine Ausführungen in der heute vorgelegten Stellungnahme vom 20.02.2018, Seite 9 f. mit Hinweisen auf der betreffenden ACCORD-Anfragebeantwortung. Ferner möchte ich die konkrete Anführung derartiger Übergriffe auch auf Seite 3 meiner Stellungnahme erwähnen.
[...]
SV: Seit 1998 nahm ich in meinen Gutachten zur Diskriminierung und Unterdrückung der Hazara in Afghanistan Stellung und habe dies gegenüber den UBAS, dem Asylgerichtshof und nun dem BVwG deutlich gemacht. Nach der Veränderung der politischen Situation durch den Sturz des Taliban-Regimes habe ich, da ich zur Wahrheit verpflichtet bin, die Lage der Hazara und ihre Veränderung in meinem Gutachten berücksichtigt. Die Hazara sind in der afghanischen Regierung stark vertreten und ihre Beteiligung hat auch eine exekutive Kraft: Sie können selber, wenn sie in Gefahr gelangt sind, durch ihre Führung kollektiv sich in ihrem Herrschaftsbereich verteidigen. In gemischten Wohngebieten, wie in Kabul oder in Mazar-e-Sharif, kann es vorkommen, dass Hazara-Institutionen, eine Moschee oder eine religiöse Feier angegriffen werden. Diese Angriffe beschränken sich aber nicht alleine auf Hazara, sondern zielen auch auf andere afghanische gesellschaftliche Gruppen. Ende Jänner dieses Jahres wurde das Hotel Continental angegriffen, wobei europäische Ausländer und afghanische Sicherheitsleute ums Leben kamen. Unter denen befand sich aber kein Hazara. Im Februar dieses Jahres wurde in der Innenstadt von Kabul vor dem früheren Gebäude des Innenministeriums ein Selbstmordanschlag verübt. Nach meiner Schätzung wurden mehr als ca. 500 Personen getötet oder verletzt, nach offiziellen Angaben wurden ca. 250 Personen getötet oder verletzt. In diesem Viertel leben und wohnen mehrheitlich Nicht-Schiiten, sodass auch deswegen nicht davon gesprochen werden kann, dass ein Anschlag gezielt auf Hazara bzw. Schiiten verübt wurde. Als 2015 die Provinzhauptstadt Kunduz eingenommen wurde, wurden vor allem die Tadschiken gezielt angegriffen. Die Taliban haben bewusst die Tadschiken verfolgt, getötet und ihre Frauen geschändet. Als in Kabul im Herbst vorherigen Jahres mehrere schiitische Heiligtümer angegriffen wurden, sind dabei auch hunderte Leute getötet worden. Ich könnte als SV noch weitere derartige Beispiele bringen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass das eigentliche Ziel der Taliban und der IS die ethnische Verfolgung ist, sondern die Ausführung von Zielen, die von Pakistan und Saudi-Arabien vorgegeben werden. Beide Staaten wollen, dass in Afghanistan Krieg herrscht. Es ist die Strategie eines Partisanenkrieges wonach in der Bevölkerung Unruhe und bürgerkriegsähnliche Zustände herbeigeführt werden sollen. Einmal geht es um die Verfolgung von Usbeken, ein anderes Mal um die Verfolgung von Schiiten oder um Konflikte unter Stämmen. Daher gehe ich nicht von einer ethnischen Verfolgung von Hazara durch die Taliban oder der IS aus. Wenn die Hazara die heutige militärisch-politische Macht nicht hätten, wären sie das erste Opfer der Taliban und der IS. Wie ich auch in meinem Gutachten vorgebracht habe, werden Hazara nicht nur wegen ihrer Ethnie, sondern auch wegen ihrer religiösen Richtung diskriminiert. Ich habe damals deutlich gemacht, dass die Hazara ihre religiösen Riten bzw. Feiern nicht öffentlich durchführen durften, sondern nur heimlich ausüben konnten. Seit dem Sturz der Taliban, ca. im Jahr 2002, können nun die Hazara bzw. die Schiiten ihre religiösen Feierlichkeiten auch öffentlich ausüben, auch dort, wo sie wenig präsent sind. Selbstverständlich ist der Erfolg der Hazara ein Dorn im Auge von Saudi-Arabien, da diese darin nicht nur ein Erstarken der Schiiten, sondern auch des iranischen Einflusses sehen. Diese öffentlichen schiitischen Feiern werden auch von afghanischen Sicherheitskräften sehr beschützt. Der Schutz der schiitischen islamischen Richtung ist auch nun in der afghanischen Verfassung verankert."
1.2.3. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):
"Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
Quellen:
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