Entscheidungsdatum
02.01.2019Norm
AsylG 2005 §15Spruch
W191 2143224-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Edward W. Daigneault, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.12.2016, Zahl 1053270802-150255087, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.10.2017 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und wurde am 10.03.2015 im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle eines PKW auf der A1 Westautobahn gemeinsam mit drei Landsleuten aufgegriffen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 26.02.2015 in Samos (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 12.03.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) St. Georgen/Attergau, Erstaufnahmestelle (EAST) West, gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus XXXX (auch XXXX ), Distrikt Nili, Provinz Daikundi (Afghanistan), sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und traditionell verheiratet. Er sei Analphabet.
Seine Eltern, zwei Brüder, zwei Schwestern und die Ehefrau wohnten zu Hause.
Seine Reise habe er vor ca. zweieinhalb Monaten begonnen und sei über angegebene Länder bis nach Österreich gebracht worden. Die Reise habe 250.000 Afghani (4.500 US-Dollar) gekostet.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er in Kabul in einem Geschäft als Schweißer-Lehrling gearbeitet habe. Er hätte einen Streit mit dem Sohn seines Arbeitgebers gehabt und dort nicht mehr weiterarbeiten können. Er sei dann nach Kandahar gegangen, um seine Lehre weiterzumachen. Doch habe er als Schiite und Hazara Angst vor dem sunnitischen Sohn seines Arbeitgebers gehabt, und auch der Vater des BF habe aus Angst um ihn nicht gewollt, dass er in Kandahar oder Kabul arbeite. Deshalb sei er geflüchtet.
1.3. Mit Schreiben einer Rechtsberatungsorganisation vom 29.07.2016 wurde die Vornahme einer Einvernahme und Entscheidung bezüglich des BF urgiert. Das Verfahren sei seit nunmehr rund 16 Monaten in erster Instanz anhängig, und eine Nachfrage bei der Behörde habe ergeben, dass der Akt bisher noch keinem Referenten zugeteilt worden sei. Die gesetzliche Entscheidungsfrist sei nicht eingehalten worden.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 09.11.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge /BFA), Regionaldirektion Tirol, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben, korrigierte aber seine Angaben zu seinem Familienstand. Er sei weder verheiratet noch verlobt. Seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) habe er auf der Flucht verloren.
Auf Fragen zu seinen Lebensumständen wiederholte er im Wesentlichen die bei der Erstbefragung gemachten Angaben und führte sie näher aus.
Befragt nach seinen Fluchtgründen erzählte der BF zusätzlich zu seinem Vorbringen, dass er bei seinem zweimonatigen Aufenthalt in Kabul als Schiite wegen seiner Religion von seinem sunnitischen Arbeitgeber und dessen Söhnen bedrängt worden sei, sodass er schließlich aus Angst weggegangen sei, eine zusätzliche Verfolgungsgeschichte, wonach er mit einer Cousine intim geworden und dabei erwischt worden sei und deshalb mit seiner Familie Streit gehabt habe.
Seine Cousine habe inzwischen einen anderen Mann heiraten müssen und lebe in Mazar-e Sharif. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er um sein Leben. Vor allem fürchte er den Onkel mütterlicherseits wegen des Vorfalls mit seiner Cousine.
Dem BF wurde laut Niederschrift die Möglichkeit eingeräumt, in die "[...] allgemeinen Länderfeststellungen des BFA zu seinem Heimatland" Einsicht und Stellung zu nehmen, worauf der BF verzichtete.
Dem Verwaltungsakt liegen - unchronologisch vor der Einvernahmeniederschrift eingeordnet - Bestätigungen über die Teilnahme des BF an Kursen sowie die Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten ein.
1.5. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 02.12.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 10.03.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Sein Fluchtvorbringen wertete das BFA als glaubhaft, es enthalte aber keinen asylrelevanten Fluchtgrund.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei.
Implizit wurde eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul angenommen.
1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 21.12.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die Länderfeststellungen keine Informationen über die Schutzfähig- und -willigkeit des afghanischen Staates enthielten. Die Beurteilung der vom BF vorgebrachten Verfolgungsgründe als nicht asylrelevant seien unzutreffend. Zur Untermauerung dieses Vorbringens wurde umfangreich aus diversen Berichten und Judikaten (u.a. zur Schutzkompetenz der afghanischen Polizei, zur Lage der Hazara und zum Thema "Blutrache", zum Teil in englischer Sprache) zitiert. Die vom BFA angeführten Entscheidungen des Asylgerichtshofes datierten aus den Jahre 2009 bis 2012, die Sicherheitslage habe sich seither erheblich verändert. Die Beurteilung von Kabul als "sicher" sei nicht nachvollziehbar.
1.7. Mit Schreiben seines nunmehrigen anwaltlichen gewillkürten Vertreters vom 21.08.2017 stellte der BF einen Fristsetzungsantrag gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 2 B-VG an den Verwaltungsgerichtshof (in der Folge VwGH) wegen Verletzung der Entscheidungspflicht.
1.8. Das BVwG führte am 02.10.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seines Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Dari.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein.
[...]
Der BF hat bisher keine Bescheinigungsmittel zu seiner Identität (z.B. Reisepass oder Tazkira oder Ähnliches) sowie zu seinem Fluchtvorbringen vorgelegt und hat auch heute keine bei sich.
Bezüglich seiner Integration hat er bisher Belege vorgelegt und legt sie heute gemeinsam mit folgenden Belegen zusätzlich neu vor:
Bestätigung der Praxisvolksschule Wilten der Pädagogischen Hochschule Tirol sowie Bestätigung der Diözese Innsbruck vom 22.09.2017, dass sich der BF zum einjährigen katholischen Glaubenskurs angemeldet hat.
Diese Belege werden eingesehen und in Kopie zum Akt genommen.
RI: Was hat es mit der Bestätigung der Diözese Innsbruck auf sich?
BF: Ich habe mich angemeldet, weil ich zum christlichen Glauben konvertieren möchte. Ich wollte mich schon vor drei Monaten anmelden, aber die Kurse haben erst im September begonnen, deswegen war dies nicht möglich.
RI: Wieso wollen Sie konvertieren?
BF: Das ist meine persönliche Entscheidung, ich möchte den Glauben wechseln.
RI: Weiß das Ihre Familie auch?
BF: Nein.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Hazara.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Vorher war ich schiitischer Moslem, jetzt nicht mehr.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Nein, ich bin ledig.
RI: Haben Sie Kinder?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich bin zwei oder drei Jahre lang in Afghanistan zur Schule gegangen.
RI: Haben Sie nicht eine Schweißerlehre begonnen?
BF: Im Protokoll ist zwar festgehalten, dass ich als Schweißer gearbeitet habe, das stimmt aber nicht, ich habe ein Monat lang in Kabul als Autoelektroniker gearbeitet. Ich habe mit der Arbeit begonnen, weil ich sie lernen wollte, es sind aber Probleme aufgetreten, deshalb konnte ich die Arbeit nicht fortsetzen.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Ich habe zuhause meinen Eltern ausgeholfen. Mein Vater hat für mich gesorgt.
RI: Wovon hat Ihr Vater gelebt?
BF: Er hat im Bazar gearbeitet, z.B. hat er Vieh oder Autos gekauft und wieder verkauft.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein, aber ich habe viele Freunde.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen teilweise verstanden und teilweise auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja, ein bisschen.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ja, ich lerne gerade für die Deutsch A2-Prüfung.
RI: Wie verbringen Sie Ihren Tag?
BF: Ich arbeite, ich besuche einen Deutschkurs, und wenn ich noch Zeit habe, gehe ich Fußball spielen. Am Abend schaue ich mir Filme auf Deutsch an, ich kann Deutsch besser verstehen, als ich es sprechen kann.
RI: Sie haben gesagt, Sie arbeiten, was machen Sie konkret?
BF: Zu Mittag gebe ich den Kindern Essen. Meine Arbeitszeit ist von 11:00 bis 15:30 bzw. 16:00 Uhr. Ich bereite die Tische und Stühle vor und das Geschirr.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Nein, seit ca. drei oder vier Monaten haben ich keinen Kontakt mehr. Zuvor hatte ich ca. einmal monatlich telefonischen Kontakt mit meinem Vater und habe auch mit meinem jüngeren Bruder und meiner jüngeren Schwester gesprochen. Ich werde wahrscheinlich nicht mehr anrufen, ich möchte nämlich nicht mehr.
RI: Warum möchten Sie nicht mehr?
BF: Ich habe Probleme, ich will nicht mehr.
RI: Haben Sie keinen Kontakt mit dem Cousin des Vaters, der Ihnen die Reise organisiert hat?
BF: Nein, als ich nach Österreich gekommen bin, habe ich ihn einmal angerufen. Seit mehr als zwei Jahren habe ich keinen Kontakt zu ihm.
RI: Wo lebt er?
BF: In Daikundi.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?
BF: Ich bleibe bei meinen Angaben und möchte nur anmerken, dass im Einvernahmeprotokoll vom BFA angeführt ist, dass ich Familienangehörige in Kabul hätte, das stimmt nicht. Ich habe damals angegeben, dass der Cousin meines Vaters für ca. drei Monate nach Kabul gegangen ist, und als sein Kurs zu Ende war, ist er nach Daikundi zurückgegangen. Demnach habe ich in Kabul keine Familienangehörige.
RI hält fest, dass nach einer Durchsicht des Einvernahmeprotokolls und der Beschwerde Ausführungen über Verwandte in Kabul nicht aufgefunden werden können.
BFV [Vertreter des BF]: Ich nehme an, dass dem BF anlässlich der Beschwerdeverfassung vom damaligen BFV so etwas gesagt worden ist. Im angefochtenen Bescheid findet sich lediglich eine Passage über Angehörige in Afghanistan.
RI. Wenn die Geschichte mir der Familie stimmt, warum hat Ihnen dann der Cousin Ihres Vaters die Reise organisiert und bezahlt?
BF: Es handelt sich um den Sohn des Onkels meines Vaters. Ich hatte Probleme mit der Verwandschaft meiner Mutter, diesen Jungen habe ich seit meiner Kindheit gekannt, daher gab es keinen Grund dafür, dass er mich nicht unterstützt. Als die Probleme entstanden sind, war er in Kabul und hat dort einen Englisch-Sprachkurs belegt, damit er auch im Radio arbeiten kann.
RI: Beide Probleme, die Sie geschildert haben, stellen Probleme im privaten Bereich dar. Warum hätten Sie nicht an einen anderen Ort in Afghanistan gehen können, wenn Sie Ihr Großcousin doch unterstützt hätte?
BF: Der Cousin meines Vaters war nur ein paar Monate in Kabul, während dieser Zeit bin ich zu ihm gegangen. Er hätte mich woanders nicht unterstützt. Er hat mir auch gesagt, dass er mich in der Zeit, die er selbst in Kabul verbringt, unterstützt.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Ich habe meine Schwierigkeiten bereits dargelegt, ich habe keinen Weg für eine Rückkehr.
RI wiederholt die Frage.
BF: Ich würde dort getötet werden von dieser Familie, von der Familie meiner Cousine, z.B. von deren Brüdern, meinen Onkeln mütterlicherseits sowie von der Familie, in die sie verlobt war.
RI: Das sind doch Regelungen gemäß dem Paschtunwali. Gilt das für Sie als Hazara auch?
BF: Das betrifft uns genauso. Ich habe in der letzten Einvernahme darum gebeten, dass Sie Leute haben, die für Sie diese Informationen einholen, erst wenn Sie sicher sind, entscheiden Sie über meinen Fall.
RI: Sie müssen das glaubhaft machen und Sie haben bis jetzt nichts vorgelegt.
BF: Jemand, der in Afghanistan Schwierigkeiten hat, ist nicht in der Lage, Dokumente zu besorgen und sie vorzulegen. Wenn jemand dort mit dem Tod bedroht wird, bekommt er keine Bestätigung darüber, um sie im Falle der Flucht den Behörden vorzulegen.
RI: Aber Sie sind mehr als zweieinhalb Jahre hier, und da hätte es die Möglichkeit gegeben, etwas nachzubringen.
BF: Nein, das ist nicht möglich, wenn ich dort bedroht werde, bekomme ich von dieser Person keine Bestätigung darüber.
RI: Ja, von dieser Person nicht, aber es gibt auch andere Personen, die darüber Bescheid wüssten?
BF: Das macht niemand, niemand hilft mir. Das ist mit ein Grund, warum ich beschlossen habe, meinen Glauben zu wechseln.
RI: Wie ist das gemeint?
BF: Damit meine ich, dass wenn ein Mädchen und ein Junge sich lieben, es viele Menschen gibt, die diese beiden bedrohen, und man erklärt dies mit dem Glauben. Man wird gezwungen zu beten. Auch wird man gezwungen, alle andere Regeln der Religion einzuhalten.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem BVwG vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
Der RI folgt BFV diese Berichte in Kopie aus und gibt BFV die Möglichkeit, in diese herkunftsstaatsbezogenen Berichte Einsicht zu nehmen und dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
BFV an BF: Haben Sie diesen Glaubenskurs bereits begonnen?
BF: Ich war einmal dort. Dadurch, dass ich letzten Donnerstag nach Wien gekommen bin, konnte ich nicht zur zweiten Stunde gehen.
BFV: Gibt es in diesem Kurs weitere Teilnehmer, die Moslems sind?
BF: Ja, es gibt Iraner und Afghaner, wir sind ca. 14 oder 15 Personen. Alle sind Moslems.
RI: Wird der Kurs in Deutsch oder in Dari geführt?
BF: Es wird in Farsi übersetzt.
RI: Wieso haben Sie mir das vorher nicht gesagt, als ich Sie gefragt habe, wie können Sie den Kurs in Deutsch machen?
BF: Ich habe nicht daran gedacht. Die Bücher sind auch in Farsi.
BFV: Wieviele davon sind Afghaner?
BF: Es sind sieben oder acht Afghaner, der Rest sind Iraner und vermutlich zwei Syrer.
BFV: Weiß Ihre Bekanntschaft in Österreich, dass Sie diesen Kurs besuchen?
BF: Ich war bis jetzt nur einmal in dem Kurs, deshalb wissen noch nicht viele davon.
BFV: Aber ein paar?
BF: Ja, ich habe keine Angst davor, den anderen das zu sagen. Am Donnerstag bin ich dort in den Deutschkurs gegangen und am Sonntag zum Gottesdienst.
BFV: Ich habe keine weiteren Fragen mehr.
RI: Wie oft waren Sie schon in der Kirche?
BF: Ich bin einige Male in der Kirche gewesen, um mir die Kirche anzuschauen. Seit ich beschlossen habe, den Glauben zu wechseln, war ich zweimal dort.
RI: Wann haben Sie das beschlossen?
BF: Vor ca. drei Monaten.
RI. Was war der Auslöser dafür?
BF: Ich habe vorher die Gründe genannt, z.B. auch die Zwänge und die Probleme bei Beziehungen. Es werden Leute im Namen des Islam getötet.
RI: Sie wissen aber schon auch, dass die Christen in den letzten Jahrhunderten dies auch oft und viel getan haben?
BF: Ja, ich habe mir diesbezüglich Filme angesehen, aber wenn ich das tägliche Leben hier betrachte, sehe ich, wie hilfsbereit die Menschen hier sind und wie sie einander unterstützen.
RI: Ich habe aber viel gelesen und dabei gelesen, dass auch viele Moslems in der Welt sehr hilfsbereit sind?
BF: Das gibt es nicht. Moslems sind nur darauf aus, anderen Schaden zuzufügen, ihnen den Boden unter den Füßen wegzureißen. Sie haben keine saubere Herzen. Vielleicht gibt es einzelne unter ihnen, die anders sind.
Ermittlungsermächtigung:
RI: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?
BF: Nein, ich würde mich darüber freuen.
RI legt kurz seine Sicht der Sach- und Rechtslage dar. BFV bespricht mit BF mit Hilfe der D die Situation.
BFV: Der BF zieht seinen Antrag auf Fristsetzung zurück. Er wird im Laufe der nächsten Zeit laufend Belege über den Fortschritt seiner beabsichtigten Konversion - etwa eine zeugenschaftliche Stellungnahme des Vortragenden im Kurs oder eines Pfarrers oder eines sonstigen Mitarbeiters der Diözese - übermitteln.
RI befragt BFV, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.9. Das BVwG legt dem VwGH mit Schreiben vom 03.10.2017 die Verhandlungsschrift, in der der BF seinen Fristsetzungsantrag zurückgezogen hatte, zur weiteren Veranlassung vor.
1.10. Mit Beschluss vom 16.10.2017, Fr 2017/20/0048-3, erklärte der VwGH den Fristsetzungsantrag als gegenstandslos geworden und stellte das Verfahren ein.
1.11. Mit Schreiben seines Vertreters vom 16.10.2018 übermittelte der BF seinen Taufschein vom 08.06.2018, ausgestellt am 20.06.2018, sowie ein Schreiben des Koordinators des katholischen Glaubenskurses der (Erz-) Diözese Innsbruck vom 11.06.2018, wonach dieser bestätigte, dass der BF seit 21.09.2017 regelmäßig an diesem Kurs teilgenommen habe. Im einjährigen Katechumenat seien aufzählte Glaubensthemen behandelt worden und die aufgezählten erforderlichen Riten vollzogen worden.
Diese Eingabe wurde auch dem BFA übermittelt. Es hat dazu nicht Stellung genommen.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 12.03.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 09.11.2016 sowie die Beschwerde vom 21.12.2016
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 135 bis 221)
* Einsicht in den Gerichtsakt des BVwG, beinhaltend den Fristsetzungsantrag des anwaltlich vertretenen BF, der nach seiner Zurückziehung in der Beschwerdeverhandlung mit Beschluss des VwGH für gegenstandslos erklärt wurde
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 02.10.2017 sowie Einsichtnahme in die in der Verhandlung und im weiteren Beschwerdeverfahren vorgelegten Schriftstücke betreffend die Konversion des BF vom Islam zum Christentum
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Daikundi (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 25.09.2017)
o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 und Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016
o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann
o Gutachten zum Thema Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan von Mag. Zerka Malyar vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zahl W174 1436214-1, sowie
o Artikel der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche vom 07.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde)
Der BF hat keinerlei Beweismittel oder sonstige Belege für sein im erstbehördlichen Verfahren erstattetes (und im gerichtlichen Verfahren - neben seinem Nachfluchtgrund Konversion - aufrechterhaltenes) Vorbringen vorgelegt.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und ledig. Die Muttersprache des BF ist Dari.
Er bekannte sich früher zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam und ist seit 08.06.2018 getaufter katholischer Christ.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF lebte bis ca. 2015 mit seiner Familie (Eltern, Geschwister) in einem Dorf im Distrikt Nili, Provinz Daikundi, und war in der elterlichen Landwirtschaft tätig.
Aufgrund angegebener privater Probleme nach einem Vorfall mit einer Cousine - weswegen er in Verfolgungsgefahr durch einen Onkel mütterlicherseits sei - ging er für zwei Monate nach Kabul, um dort eine Schweißer-Lehre zu beginnen. Nach angegebenen Problemen dort - mit seinem sunnitischen Arbeitgeber und dessen Söhnen aus religiösen Gründen - verließ der BF im Einvernahmen mit seiner Familie Afghanistan und flüchtete nach Europa.
3.1.3. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF hat sein Vorbringen, dass er durch seinen sunnitischen Arbeitgeber in Kabul und dessen Söhne aus religiösen Gründen bzw. durch Familienangehörige (Onkel mütterlicherseits) wegen eines Vorfalles mit einer Cousine, bei dem er gegen die Sitten verstoßen habe, verfolgt werde, nicht glaubhaft gemacht.
3.2.2. Nachfluchtgrund der Konversion:
Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner Konversion vom Islam zum Christentum von anderen Personen getötet zu werden, weil er nach der dort allgemein vorherrschenden Ansicht als Moslem (Schiite) nicht die Religion wechseln hätte dürfen. Der BF ist jedoch gewillt, auch im Fall der Rückkehr seinen christlichen Glauben offen und nach außen hin erkennbar auszuüben, seine Konversion zum Christentum nicht zu widerrufen und nicht wieder zum Islam überzutreten.
Der BF ist im Zuge seines Aufenthaltes in Österreich mit dem Christentum in Berührung gekommen und hat sich taufen lassen. Er ist Mitglied der römisch-katholischen Pfarre XXXX . Er hat im einjährigen Katechumenat regelmäßig am katholischen Glaubenskurs in Innsbruck teilgenommen.
Der BF konnte seinen in Österreich gesetzten Nachfluchtgrund glaubhaft darlegen.
3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre oder nach denen ein Ausschluss des BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hätte.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 29.10.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
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Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
[...]
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen An