TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/15 W172 2161040-1

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Veröffentlicht am 15.01.2019
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Entscheidungsdatum

15.01.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W172 2161040-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX1999, StA. Afghanistan, vertreten durch RAe GRUBER Partnerschaft KG, Wipplinger Straße 20, 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.05.2017, Zl. 1098329807151961788, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.09. und 18.10.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "BF") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 i.d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").

Am XXXX2015 erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Niederösterreich.

2. Der Beschwerdeführer wurde am 10.05.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 13.06.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 06.06.2017 erhoben.

5. Am 25.09. und 18.10.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

In diese Verhandlung wurden Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unten Pkt. II.1.2.) eingeführt.

Ferner wurde die vom Beschwerdeführer beantragte Zeugin XXXX (im Folgenden auch: "Z") am 18.10.2018 einvernommen.

8. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich, zu:

-

Vorbringen zu den Verfolgungsgründen (Erklärung über den Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft, Bestätigung der Iranischen Christlichen Gemeinde);

-

gesundheitlichen Beschwerden (ambulanter Patientenbrief betreffend psychische Beschwerden);

-

Deutschsprachkursen (Teilnahme an B1-Kurs und Zeugnis für Level A1);

-

schulische Ausbildung und/oder sonstige berufsqualifizierende Maßnahmen (Einstellungszusage als Friseurlehrling; Probetätigkeit in einem Friseursalon);

-

ordentlichen Beschäftigungen;

-

gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten (Mitarbeit beim ÖRK);

-

Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten (Mitglied bei Theatergruppe "Die Fremden); sowie

-

sonstigen Integrationsmaßnahmen und -bemühungen (Vielzahl an Unterstützungsschreiben, Fotos mit seiner Gastfamilie, Teilnahme an einem Film-, an einem Video- sowie an einem Theater-Workshop).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX1999 in Ghazni in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie war schiitischen Glaubensbekenntnis Seine Muttersprache ist Dari. An Schulausbildung weist er vier Jahre Grundschulbesuchsbestätigung auf. Er hat keine Berufsausbildung. Er war beruflich zuletzt als Hilfsarbeiter auf Baustellen tätig. In seinem Herkunftsstaat lebte er zuletzt in Kabul bis zu seiner Ausreise im Frühsommer 2015. In Afghanistan leben keine weiteren Familienangehörigen von ihm mehr. In Afghanistan hat er keine Familienangehörigen. Ein jüngerer Bruder lebt von ihm in Iran. Der Beschwerdeführer hat keine familiären oder sonstigen vergleichbaren Beziehungen zu in Österreich aufenthaltsberechtigten Personen. Der Beschwerdeführer weist keine (relevanten) gesundheitliche Beschwerden auf. Er hält sich seit dem XXXX 2015 in Österreich auf und ist hier sowohl verwaltungsstrafrechtlich als auch strafgerichtlich unbescholten.

Das folgende Vorbringen des Beschwerdeführers sowie der Zeugin und der Auskunftspersonen zu seinem Aufenthalt in Österreich (im Wesentlichen) im Rahmen der oben genannten mündlichen Verhandlung vom 18.10.2018 wird nachfolgend in die Feststellungen aufgenommen (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG).

Demzufolge habe der Beschwerdeführer bereits den A1- und A2-Deutschkurs abgeschlossen habe, in Moment besuche er den B1-Kurs. Weiter habe er den Hauptschulabschluss im Jahr 2017 gemacht. Befragt nach weiteren schulischen und berufsausbildenden Kursen führte der Beschwerdeführer an, dass er Theater, auch Gitarre spiele, dazu nehme er Gitarrenunterricht. Im Februar 2019 beginne er mit einer Ausbildung als Friseur. Auf die Frage, was er vorhätte, sollte er in Österreich bleiben dürfen, gab der Beschwerdeführer an, er möchte Künstler sein. Er interessiere sich auch für den Beruf als Mechaniker. Nachgefragt, ob er gleichzeitig Künstler oder Mechaniker werden wolle, gab der Beschwerdeführer an, es sei so, dass er gerne Künstler werden möchte, nach Möglichkeit werde er auch technische und mechanische Sachen machen, weil er sich dafür interessiere. Befragt, warum er dann eine Friseurausbildung beginne, antwortete er, dass ich etwas dazu verdienen habe. Ihm liege eine Zusage für eine Lehrausbildung vor, wo er dann etwas verdienen könne. Weiters befragt führte der Beschwerdeführer an, dass er keine Freundin habe. Zu österreichischen Freunden befragt gab er an, dass zur heutigen Verhandlung nicht alle gekommen seien (Anmerkung: Mit der beantragten Zeugin waren sieben Personen mit dem Beschwerdeführer mitgekommen). Befragt, woher er diese österreichischen Freunde kenne, führte er an, dass er Frau XXXX, die hier auch anwesend sei, im Heim in XXXX kennengelernt habe. Durch sie habe ich auch meinen weiteren österreichischen Freunden kennengelernt. Befragt, wie er mit ihnen den Kontakt pflege, führte er an, dass er sie meistens bei ihnen zu Hause besuche. Manchmal würden sie auch gemeinsam ins Kino gehen. Mit ihnen habe er auch einen kleinen Film gedreht. Einen weiteren Film habe er mit dem hier anwesenden Herrn XXXX gedreht. Dieser Film sei noch nicht fertiggestellt. Weiters befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er noch nicht bei Vereinen Mitglied sei, an gemeinnützigen Tätigkeiten habe er solche in XXXX während seines achtmonatigen Aufenthalts dort getätigt. Er habe Straßen für die Gemeinde gekehrt und habe Ästen von geschnitten Bäumen aufgeräumt. Er sei immer dorthin gegangen, wenn nach seiner Person gefragt worden sei.

Bei der Protokollierung der Aussage des Beschwerdeführers, wonach er mit Herrn XXXX einen Film gedreht habe, meldete sich XXXX, der als Zuhörer bei der Verhandlung anwesend war, zu Wort, nämlich, dass er als Produzent und Filmemacher einen Workshop betreut habe, der von der IOM (international Organisation for Migration) finanziert worden sei. In den Sommerferien seien sie einmal in der Woche mit minderjährigen Flüchtlingen zusammen gewesen, um diesen das Filmemachen zu erlernen. Sie hätten einen Film gemacht, dessen Inhalt Selbstporträts der Flüchtlinge gewesen sei, möglichst von diesen selbst gemacht. Dieser Film diene der IOM als Information und gleichsam als Werbung, dass minderjährige Flüchtlinge bei österreichischen Familien Aufnahme finden würden. Er sei u.a. auch einer derjenigen gewesen, die den Beschwerdeführer darauf hingewiesen hätten, er möge eine Lehre als Friseur oder Mechaniker beginnen, auch wenn er gerne Künstler werden möchte. Dies habe er deswegen gesagt, weil es sehr schwer sei, als Künstler eine selbsterhaltungsfähige berufliche Tätigkeit zu finden. Der Beschwerdeführer habe eine sehr große kreative Energie. Er könne als Schauspieler, als Filmemacher oder Sänger, etc. tätig sein. Auch wenn man noch jetzt noch nicht sagen könne, in welcher Richtung seine künstlerische Laufbahn gehen würde.

Die Rechtsvertretung fügte hinzu, dass der Beschwerdeführer doch schon Vereinsmitglied sei, nämlich bei der Theatergruppe "die Fremden" sowie bei der Theatergruppe "Connection".

Befragt gab die Zeugin an, dass der Beschwerdeführer im August 2018 in ihr Haus eingezogen sei. Sie habe ihn zuvor schon seit mehr als einem halben Jahr gekannt. In ihrem Haus habe weiters ihr bei der Verhandlung ebenfalls anwesendes Pflegekind XXXX gewohnt, der schon zuvor in ihrem Haushalt gelebt habe. XXXX sei ihr von "XXXX" zugewiesen worden. Der Beschwerdeführer sei ein ganz besonderer, hoch sensibler Mensch, der sich sehr gut in das Umfeld eingefügt habe. Er habe Fähigkeiten und Talente, die zu fördern seien. Der Beschwerdeführer sei auch deswegen bei ihr eingezogen, damit XXXX nicht so alleine sei. Er habe nun einen Zweiten im Umfeld, mit dem er sich unterhalten könne. XXXX sei der beste Freund des Beschwerdeführers in Österreich, sie hätten sich hier kennengelernt. Weiters befragt gab die Zeugin an, dass sie deswegen auch den Beschwerdeführer in ihrem Haushalt aufgenommen habe, weil er auch andere afghanische Junge - wenn auch nicht so viele - kennengelernt habe. Dort seien auch einige "Rabauken" darunter gewesen. Der Beschwerdeführer dagegen sei sehr einfühlsam, sehr sensibel, sehr zuvorkommend. Er finde leicht sehr viel Kontakt zu anderen Menschen und habe sich daher sehr gut bei uns integriert.

Die im Verhandlungsaal als Zuhörerin ebenfalls anwesende Frau XXXX meldete sich zu Wort, nämlich, dass der Beschwerdeführer von Anfang an ein "begnadeter Friseur" gewesen sei, auch schon in verschiedenen Friseursalons Probe geschnitten und schon mehrere Bewerbungen an Friseursalons geschrieben habe. Eine davon sei auch erfolgreich, gewesen, sie verwies auf seine bevorstehende Lehrausbildung.

Die ebenfalls als Zuhörer anwesende XXXX meldet sich zu Wort, nämlich, dass er damals bei einem Verein zu Unterstützung von Flüchtlingen in XXXX tätig gewesen sei und in Folge die Patenschaft für den Beschwerdeführer übernommen habe. Ihr Mann sei Diplompädagoge in der Musikmittelschule in XXXX und sie hätten das künstlerische Talent des Beschwerdeführers entdeckt.

Das folgende Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner religiösen Einstellung (im Wesentlichen) im Rahmen der oben genannten mündlichen Verhandlung vom 18.10.2018 wird nachfolgend ebenfalls in die Feststellungen aufgenommen (nicht-inhaltlich/

-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG).

Demzufolge sei er kein religiöser Mensch. Weiters befragt gab er an, dass er sich seit zwei oder drei Monaten mich für das Christentum interessiere. Er möchte Christ werden. Befragt, weshalb er sich für das Christentum interessiere, gab er an, weil er im Christentum einen Platz zum Beten habe. Er möchte etwas dazu sagen: Der Islam sei ihm zugemutet worden, er sei geschlagen worden, der Koran sei auch in Arabisch. In der Moschee könne man nicht einfach eine religiöse Frage stellen, man unterließe das, weil man Angst habe, geschlagen zu werden. Weiters befragt führte der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan zwar sehr religiös gewesen sei, aber nur, weil er dann geschlagen werde, wenn er sich nicht so verhalte. Beispielsweise sei er einmal so geschlagen worden, dass er von der Moschee kaum nach Hause gehen konnte. Dies sei gewesen, als er ca. zehn Jahre alt gewesen sei. Befragt, warum er das nicht schon vor dem BFA angeführt habe, gab der Beschwerdeführer an, dass er damals nicht danach gefragt worden sei. Weiters befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er seine Familie in Afghanistan, d.h., die in Qarabagh und auch die in Kabul, sehr religiös gewesen sei und er zu seiner religiösen Lebensweise gedrängt worden sei. Befragt, ob er sich hier in Österreich an religiösen Vorschriften des Islam, so auch an Ernährungsvorschriften halte, gab der Beschwerdeführer an, dass er sich an diesen nicht halte. Er halte nicht den Ramadan ein, er trinke ab und zu Alkohol und esse Schweinefleisch. Nochmals befragt, warum er Interesse am Christentum hätte, führte er an, dass man beim Christentum, wenn man Fragen habe, diese sehr leicht und einfach stellen könne. Man werde zu nichts gezwungen und werde auch nicht geschlagen, wenn man eine derartige Frage stelle. Befragt, warum er ausgerechnet am Christentum ein Interesse hätte, denn um Fragen zu stellen, ohne negative Folgen zu erleben, müsse man nicht unbedingt ausschließlich beim Christentum finden, antwortete der Beschwerdeführer, dass er schon ein Jahr lang sehr nachdenklich sei und nicht schlafen könne, weil er über das Christentum nachdenke. Ich habe einen Film über das Christentum und über Jesus und seinen Schülern gesehen, sie hätten den Menschen und den Kranken geholfen. Befragt, warum er nicht aus dem Islam ausgetreten sei, erwiderte der Beschwerdeführer, dass er doch schon Christ sei. Er würde es aber tun. Der Beschwerdeführer fügte hinzu, er bekomme seit zwei Monaten, zweimal in der Woche, einen Unterricht von Herrn XXXX, einen Herrn aus dem Iran (Anmerkung der Dolmetscherin, dass ihr dieser Herr bekannt sei, er komme manchmal als Zeuge zu den Asylverfahren, da er Pfarrer sei). Die Kirche befinde sich in Wien-XXXX in der XXXX, sie sei eine Pfingstgemeinde. Er nehme auch am Gottesdienst samstags teil.

Befragt, warum es dem Beschwerdeführer so schwergefallen sei, darüber zu sprechen, antwortete der Beschwerdeführer, weil er Angst habe, belästigt zu werden, wenn er Christ werde. Er konnte aus Angst am Anfang nicht einmal Frau XXXX sagen, dass er zur Kirche gehe. Er habe gesagt, er gehe Fußballspielen. Er hatte Angst, dass sie erzählen würde, dass ein Afghane, der bei ihr wohne, zum Christentum konvertiere. Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst, dass er geschlagen werde - auch wegen seines Bruders. Nachgefragt gibt der Beschwerdeführer an, dass dieser im Iran arbeite und er würde geschlagen und getötet werden, wenn man erfahren würde, dass er zum Christentum konvertiert sei. Der Beschwerdeführer fügte hinzu, dass dieser Unterricht, den er derzeit besuche, tatsächlich ein Taufunterricht sei. Er dauere 6 bis 8 Monate, bevor man getauft werde. Man müsse diesen aber ordnungsgemäß besuchen. Eigentlich beginne sein Taufunterricht erst ab nächstem Samstag, aber er besuche schon seit zwei Monaten die Kirche und lerne etwas über das Christentum. Befragt, was ihm am Christentum so gefiele, führte der Beschwerdeführer an, dass im Christentum keine Gewalt passiere. Man werde zu nichts gezwungen. Beim Christentum werde Menschen geholfen. Bis jetzt habe er die Bibel noch nicht gelesen, sein Unterricht habe noch nicht begonnen.

1.2. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

"Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018:

Religionsfreiheit

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7-89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:

CSR 8.11.2016).

Im Strafgesetzbuch gibt es keine Definition für Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, für Frauen lebenslange Haft, sofern sie die Apostasie nicht bereuen. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte - dennoch hatten Individuen, die vom Islam konvertierten, Angst vor Konsequenzen. Christen berichteten, dass sie aus Furcht vor Vergeltung, Situationen vermieden, in denen es gegenüber der Regierung so aussehe, als ob sie missionieren würden (USDOS 10.8.2016).

Nichtmuslimische Minderheiten, wie Sikh, Hindu und Christen, sind sozialer Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, und in manchen Fällen, sogar Gewalt. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht systematisch (USDOS 10.8.2016). Dennoch bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften vereinzelt Ämter auf höchster Ebene (CSR 8.11.2016). Im Mai 2014 bekleidete ein Hindu den Posten des afghanischen Botschafters in Kanada (RFERL 15.5.2014). Davor war Sham Lal Bathija als hochrangiger Wirtschaftsberater von Karzai tätig (The New Indian Express16.5.2012).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Bildungsplan einrichten und umsetzen, der auf den Bestimmungen des Islams basiert; auch sollen religiöse Kurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime ist es nicht erforderlich den Islam an öffentlichen Schulen zu lernen (USDOS 10.8.2016).

Nicht-muslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die sunnitische-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Religion (AA 9.2016). Für die religiöse Minderheit der Schiiten gilt in Personenstandsfragen das schiitische Recht (USDOS 10.8.2016).

Militante Gruppen haben sich unter anderem als Teil eines größeren zivilen Konfliktes gegen Moschen und Gelehrte gerichtet. Konservative soziale Einstellungen, Intoleranz und das Unvermögen oder die Widerwilligkeit von Polizeibeamten individuelle Freiheiten zu verteidigen bedeuten, dass jene, die religiöse und soziale Normen brechen, anfällig für Misshandlung sind (FH 27.1.2016).

Blasphemie - welche anti-islamische Schriften oder Ansprachen beinhaltet, ist ein Kapitalverbrechen im Rahmen der gerichtlichen Interpretation des islamischen Rechtes. Ähnlich wie bei Apostasie, gibt das Gericht Blasphemisten drei Tage um ihr Vorhaben zu widerrufen oder sie sind dem Tod ausgesetzt (CRS 8.11.2016).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin der zwei anderen abrahamitischen Religionen, Christentum und Judentum, ist. Einer Muslima ist nicht erlaubt einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht-muslimischen Glauben deklariert (USDOS 10.8.2016).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

CIA - Central Intelligence Agency (21.11.2016): The World Factbook

-

Afghanistan,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/af.html, Zugriff 29.11.2016

-

CRS - Congressional Research Service (8.11.2016): Afghanistan:

Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, https://www.fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

FH - Freedom House (28.4.2015): Freedom of the Press 2015 - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/311145/449187_de.html, Zugriff 21.10.2015

-

Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan,

http://www.mpipriv.de/files/pdf4/verfassung_2004_deutsch_mpil_webseite.pdf, Zugriff 28.11.2016

-

RFERL - Radio Free Europe/Radio Liberty (15.5.2014): First Afghan Hindu Envoy Takes Pride In Serving His Country, http://gandhara.rferl.org/content/article/25386024.html, Zugriff 29.11.2016

-

The New Indian Express (16.5.2012): 'I greeted Manmohan, and he was delighted',

http://www.newindianexpress.com/thesundaystandard/article350359.ece?service=print, Zugriff 5.11.2015

-

USCIRF - U.S. Commission on International Religious Freedom (4.2016): 2016 Country Reports: Tier 2; Afghanistan, http://www.uscirf.gov/sites/default/files/USCIRF_Tier2_Afghan.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, , Zugriff 29.11.2016

Christen und Konversionen zum Christentum

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (AA 9.2016). Ihre Zahl kann nicht verlässlich angegeben werden, da Konvertiten sich nicht öffentlich bekennen (AA 2.3.2015; vgl. auch: USDOS.10.8.2016).

Nichtmuslim/innen, z.B. Sikhs, Hindus und Christen, sind Belästigungen ausgesetzt und in manchen Fällen sogar Gewalt. Nachdem Religion und Ethnie stark miteinander verbunden sind, ist es schwierig die vielen Vorfälle nur als Vorfälle wegen religiöser Identität zu kategorisieren (USDOS 10.8.2016).

Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber konvertierten Christen ist ablehnend. Zu einer Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die speziell Christen diskriminiert, kommt es in Afghanistan in der Regel schon deshalb nicht, weil sich Christen nicht offen zu ihrem Glauben bekennen (AA 9.2016). Konversion wird als Akt der Abtrünnigkeit und Verbrechen gegen den Islam gesehen, der mit dem Tod bestraft werden könnte (AA 9.2016; vgl. USDOS 10.8.2016) - sofern die Konversion nicht widerrufen wird (USDOS 10.8.2016). Keiner wurde bisher aufgrund von Konversion durch den afghanischen Staat hingerichtet (AA 9.2016).

Die Christen verlautbarten, dass die öffentliche Meinung gegenüber Missionierung feindlich ist. Es gibt keine öffentlichen Kirchen (CRS 8.11.2016). Für christliche Afghan/innen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens. Zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen NGOs abgehalten werden, erscheinen sie meist nicht oder werden aus Sicherheitsgründen nicht eingeladen. Christliche Gottesdienste für die internationale Gemeinschaft finden u.a. in verschiedenen Botschaften sowie auf dem Gelände der internationalen Truppen statt (AA 9.2016). Einem Bericht einer kanadischen christlichen Organisation zufolge, wächst die Zahl der Hauskirchen in Afghanistan. In diesem Bericht wird angedeutet, dass einige Mitglieder des Parlaments selbst das Christentum angenommen und an christlichen Gottesdiensten teilgenommen haben (The Voice of the Martyrs Canada 5.4.2012).

Einige Konversionsfälle von Christen haben zu harten Strafen geführt und dadurch internationale Aufmerksamkeit erlangt (CRS 8.11.2016). Die im Libanon geborenen Rula Ghani, Ehefrau von Staatspräsident Ashraf Ghanis, entstammt einer christlich-maronitischen Familie (NPR 19.2.2015; vgl. BBC 15.10.2014).

Berichten zufolge gibt es ein christliches Spital in Kabul (NYP 24.4.2014; vgl. CNN 24.4.2014).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

BBC (15.10.2014): Afghanistan first lady Rula Ghani moves into the limelight, http://www.bbc.com/news/world-asia-29601045, Zugriff 23.10.2015

-

CNN (24.4.2014): Afghanistan Violence, http://editionBild kann nicht dargestellt werden

.cnnBild kann nicht dargestellt werden

.com/Bild kann nicht dargestellt werden

2014/Bild kann nicht dargestellt werden

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world/Bild kann nicht dargestellt werden

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stan-violence/Bild kann nicht dargestellt werden

, Zugriff 23.10.2015

-

The Voice of the Martyrs Canada (05.04.2012): Christianity growing, https://www.vomcanada.com/af-2012-04-05.htm, Zugriff 23.10.2015

-

NPR - National Public Radio (19.2.2015): For The First Time, An Afghan First Lady Steps Into The Spotlight, http://www.npr.org/sections/parallels/2015/02/19/386950128/for-the-first-time-an-afghan-first-lady-steps-into-the-spotlight, Zugriff 23.10.2015

-

NYP - The New York Post (24.4.2014):

http://nypost.com/2014/04/24/3-foreigners-killed-in-attack-at-afghan-hospital/, 23.10.2015

-

USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, , Zugriff 29.11.2016

Vom Islam abgefallene Personen (Apostaten)

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als ‚Weggehen' vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe:

[...]

Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die ‚heilige Religion des Islam' als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten:

[...]

Bezug nehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landinfo, 4. September 2013, S. 10; USDOS, 10. August 2016, Section 2). Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt, dass das Strafgesetzbuch den Gerichten ermögliche, Fälle, die weder im Strafgesetz noch in der Verfassung explizit erfasst seien, darunter Blasphemie, Apostasie und Konversion, gemäß dem Scharia-Recht der Hanafi-Rechtsschule und den sogenannten ‚hudud'-Gesetzen, die Vergehen gegen Gott umfassen würden, zu entscheiden (USCIRF, 26. April 2017). Die Scharia zähle Apostasie zu den sogenannten ‚hudud'-Vergehen (USDOS, 10. August 2016, Section 2) und sehe für Apostasie wie auch für Blasphemie die Todesstrafe vor (Landinfo, 26. August 2014, S. 2).

Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung der Situation hinsichtlich der Meinungs- Gewissens- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem Jahresbericht vom April 2017, dass staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem dazu ermächtigt seien, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (USCIRF, 26. April 2017).

Die Internationale Humanistische und Ethische Union (International Humanist and Ethical Union, IHEU), ein Zusammenschluss von über 100 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern, bemerkt in ihrem im November 2016 veröffentlichten‚ Freedom of Thought Report 2016', dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen weiterhin auf Auslegungen des islamischen Rechts nach der Hanafi-Rechtslehre stützen würden. Das Office of Fatwa and Accounts innerhalb des Obersten Gerichtshofs Afghanistans würde die Hanafi-Rechtsprechung auslegen, wenn ein Richter Hilfe dabei benötige, zu verstehen, wie die Rechtsprechung umzusetzen sei:

[...]

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) Folgendes bezüglich der Rechtspraxis:

‚Zwar gibt es drei parallele Rechtssysteme (staatliches Recht, traditionelles Recht und islamisches Recht/Scharia), doch letztendlich ziehen sich viele Richter, wenn die Lage irgendwie politisch heikel wird, auf das zurück, was sie selber als Scharia ansehen, statt sich etwa auf die Verfassung zu berufen. Die Scharia ist nicht gänzlich kodifiziert, obwohl verschiedenste Rechtskommentare etc. existieren, und zudem gibt es zahlreiche Widersprüche in den Lehrmeinungen. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Michael Daxner, Sozialwissenschaftler, der das Teilprojekt C9 ‚Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan' des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin leitet, bemerkte beim selben Expertengespräch vom Mai bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts und islamischer Prinzipien:

‚Sehr oft stammen die liberalsten Auslegungen von Personen, die etwa an einer Einrichtung wie der Al-Azhar in Kairo studiert haben und daher mit den Rechtskommentaren vertraut sind. Man kann sich indes kaum vorstellen, wie wenig theologisch und religionswissenschaftlich versiert die Geistlichen auf den unteren Ebenen sind. Wenn ein Rechtsgelehrter anwesend ist, der etwa von der Al-Azhar kommt, kann er die Sache auch ein Stück weit zugunsten des Beschuldigten drehen, denn je mehr glaubwürdige Kommentare dem Scharia-Text zugefügt werden, desto besser sieht es für die Betroffenen aus. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender wie folgt auf die strafrechtlichen Konsequenzen von Apostasie bzw. Konversion vom Islam ein:

‚Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten ‚ungeheuerlichen Straftaten', die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen.

Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist. (UNHCR, 19. April 2016, S. 61)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im August 2016 veröffentlichten Länderbericht zur internationalen Religionsfreiheit (Berichtsjahr 2015), dass laut Hanafi-Rechtlehre Männer bei Apostasie mit Enthauptung und Frauen mit lebenslanger Haft zu bestrafen seien, sofern die Betroffenen keine Reue zeigen würden. Richter könnten zudem geringere Strafen verhängen, wenn Zweifel am Vorliegen von Apostasie bestünden. Laut der Auslegung des islamischen Rechts durch die Gerichte würde der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion Apostasie darstellen. In diesem Fall habe die betroffene Person drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerruft sie nicht, so habe sie die für Apostasie vorgesehene Strafe zu erhalten. Die genannten Entscheidungsempfehlungen würden in Bezug auf Personen gelten, die geistig gesund und vom Alter her ‚reif' seien. Dieses Alter werde im Zivilrecht mit 18 Jahren (bei Männern) bzw. 16 Jahren (bei Frauen) festgelegt. Gemäß islamischem Recht erreiche eine Person dieses Alter, sobald sie Anzeichen von Pubertät zeige:

[...]

Auch der Bericht von Landinfo vom September 2013 behandelt unter Berufung auf verschiedene Quellen die rechtlichen Folgen von Apostasie. Das Strafrecht sehe gemäß Scharia die Todesstrafe für erwachsene zurechnungsfähige Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen hätten. Diese Rechtsauffassung gelte sowohl für die schiitisch-dschafaritische als auch für die (in Afghanistan dominierende) sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Nach einer Einschätzung in einer Entscheidung des britischen Asylum and Immigration Tribunal aus dem Jahr 2008 sei das Justizwesen in Afghanistan mehrheitlich mit islamischen Richtern besetzt, die den Doktrinen der hanafitischen bzw. dschafaritischen Rechtssprechung folgen würden, welche die Hinrichtung von muslimischen Konvertiten empfehlen würden. Die Strafen für Frauen im Falle von Apostasie seien indes weniger schwer: sie würden ‚gefangen gehalten'. Die sunnitischhanafitische Rechtslehre sehe dabei eine mildere Bestrafung vor als die schiitischdschafaritische. Während letztere vorsehe, dass (weibliche) Apostatinnen täglich jeweils zu den Gebetszeiten ausgepeitscht würden, sehe die hanafitische Lehre vor, dass sie jeden dritten Tag geschlagen würden, um sie zu zur Rückkehr zum Islam zu bewegen. Neben Frauen seien auch Kinder, androgyne Personen und nichtgebürtige Muslime im Fall von Apostasie von der Todesstrafe ausgenommen. Bezüglich der Anwendung der Scharia und der strafrechtlichen Konsequenzen für Apostasie liege kein Erfahrungsmaterial speziell zu Afghanistan vor. Zugleich sei Landinfo der Auffassung, es gebe Grund zur Annahme, dass etwaige gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich unterschiedlich ausgefallen seien, jedoch den soeben beschriebenen Richtlinien entsprechen würden, wobei die Variationen eventuell weniger ausgeprägt sein könnten. Dies gelte auch für die zivilrechtlichen Folgen von Apostasie. Wie Landinfo bemerkt, könne in Afghanistan gemäß Verfassung und religiösen Rechtsmeinungen die Todesstrafe verhängt werden, wenn ein Fall von Konversion vor Gericht komme. Dies gelte sowohl für das staatliche als auch für das traditionelle Rechtssystem:

[...]

Dem USDOS zufolge seien aus dem Berichtsjahr 2015 keine Fälle von tätlichen Übergriffen, Inhaftierungen, Festnahmen oder Strafverfolgung wegen Apostasie bekannt (USDOS, 10. August 2016, Section 2).

UNHCR schreibt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender Folgendes über zivilrechtliche und gesellschaftliche Folgen einer (vermeintlichen) Apostasie bzw. Konversion:

‚Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grund und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren.

Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden. [...]

Darüber hinaus besteht für Personen, denen Verstöße gegen die Scharia wie Apostasie, Blasphemie, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Ehebruch (zina) vorgeworfen werden, nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung, sondern auch der gesellschaftlichen Ächtung und Gewalt durch Familienangehörige, andere Mitglieder ihrer Gemeinschaften, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (AGEs). (UNHCR, 19. April 2016, S. 61-62)

Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass die Situation von Apostaten, die hin zu einer anderen Religion konvertieren, eine andere sei als jene von Atheisten oder säkular eingestellten Personen. Mit dem Negieren bzw. Bezweifeln der Existenz Gottes würden keine Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten im Alltag einhergehen. Eine Konversion zu einer Religion hingegen sei mit Verhaltensvorschriften, kirchlichen Traditionen und Ritualen zu verbinden, die schwieriger zu verbergen seien:

[...]

Die IHEU bemerkt in ihrem Bericht vom November 2016, dass nur sehr wenige Fälle von ‚Ungläubigen' bzw. Apostaten verzeichnet würden, was wahrscheinlich jedoch bedeute, dass viele Konvertiten und Andersgläubige zu viel Angst davor hätten, ihren Glauben öffentlich kundzutun. Der Übertritt vom Islam werde selbst von vielen Personen, die sich allgemein zu demokratischen Werten bekennen würden, als Tabu angesehen. (IHEU, 1. November 2016)

Laut einem Artikel von BBC News vom Jänner 2014 stelle Konversion bzw. Apostasie in Afghanistan nach islamischem Recht eine Straftat dar, die mit der Todesstrafe bedroht sei. In manchen Fällen würden die Leute jedoch die Sache selbst in die Hand nehmen und einen Apostaten zu Tode prügeln, ohne dass die Angelegenheit vor Gericht gelange:

[...]

Weiters bemerkt BBC News, dass für gebürtige Muslime ein Leben in der afghanischen Gesellschaft eventuell möglich sei, ohne dass sie den Islam praktizieren würden oder sogar dann, wenn sie ‚Apostaten' bzw. ‚Konvertiten' würden. Solche Personen seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden. Gefährlich werde es dann, wenn öffentlich bekannt werde, dass ein Muslim aufgehört habe, an die Prinzipien des Islam zu glauben. Es gebe kein Mitleid mit Muslimen, die ‚Verrat an ihrem Glauben' geübt hätten, indem sie zu einer anderen Religion konvertiert seien oder aufgehört hätten, an den einen Gott und an den Propheten Mohammed zu glauben. In den meisten Fällen werde ein Apostat von seiner Familie verstoßen:

[...]"

2. Beweiswürdigung

2.1. Die angeführten Feststellungen ergeben sich aus den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Akteninhalten des Beschwerdeführers. Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und Herkunft des Beschwerdeführers beruhen auf den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers im Asylverfahren. Glaubwürdig ist auch das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen in seinem Herkunftsstaat und in Österreich, da keine hinreichenden Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Ausführungen hervorkamen. Weiters weist er entsprechende Orts- und Sprachkenntnisse auf Seine Abkehr vom islamischem Glaubensbekenntnis und seine an westlichen Werten orientierte und geprägte Lebenseinstellung wirkte auf das Gericht sehr authentisch (zur Bedeutung des persönlichen Eindrucks, den das zur Entscheidung berufene Organ vom Asylwerber gewinnt, vgl. für viele z.B. VwGH 20.05.1999, 98/20/0505, 24.06.1999, 98/20/0435). Der Wunsch nach einem selbstbestimmt-individualistischen Leben als Künstler, das im Gegensatz zu einer dogmatischen religiösen Überzeugung mit kollektiv-totalitären Tendenzen steht, drückte sich beim Beschwerdeführer glaubwürdig in seinem aktiven Interesse an Kunst, Mode und Design aus. Dies vermittelte er durch seinen auffallenden Kleidungsstil, seine kreative Mitwirkung an mehreren Kulturprojekten oder seine Hinwendung zu den auch künstlerischen Fertigkeiten als Friseur. Stimmig dazu war auch seine Begründung für seine Ablehnung des Islam mit dem Hinweis auf seine früheren Erlebnisse mit dieser Religion und dem Zwang, sich dieser ohne Überzeugung unterwerfen zu müssen, sowie auf die Inhalte, die ihm nun am Christentum gefallen. In Anbetracht dessen trat der Umstand, dass der Beschwerdeführer sich erst seit paar Monaten mit dem Christentum beschäftigt und noch erst am Anfang des Taufvorbereitungsunterrichtes befand, in den Hintergrund. Außerdem zeigte sich beim Beschwerdeführer auch an den zwischenzeitlich erworbenen guten deutschen Sprachkenntnissen und dem damit zusammenhängenden Einsatz bzw. Aktivitäten zur Integration in die österreichische Gesellschaft eine nicht bloß oberflächliche und/oder berechnend vorgenommene Haltungsänderung. Diese kann daher als aufrichtig-ehrlich und aufgrund ihrer Kontinuität über einen längeren Zeitraum hinweg als nicht nur vorübergehend beurteilt werden. Auch die in der mündlichen Verhandlung einvernommene Zeugin sowie die Aussagen der auch bei dieser Verhandlung anwesenden Auskunftspersonen bestätigten die Angaben des Beschwerdeführers. Ihren Aussagen konnte gefolgt werden, da aufgrund ihres seriösen und ernsthaften Auftretens sowie ihres persönlichen Gesamtbildes keine ihrer Glaubwürdigkeit entgegensprechende Anhaltspunkte hervorkamen. Aus amtlicher Informationslage ergibt sich weiters, dass der Beschwerdeführer unbescholten ist.

Im Ergebnis war daher dem Vorbri

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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