Entscheidungsdatum
16.01.2019Norm
AsylG 2005 §15Spruch
W191 2138689-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.10.2016, Zahl 1080143702-150966897, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.12.2018 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben undXXXXgemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und wurde am 29.07.2015 in der Eisenbahn Wien-München Höhe Tullnerfeld fremdenrechtlich kontrolliert und mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig in St. Pölten festgenommen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 25.07.2015 in Szeged (Ungarn) erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 30.07.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (laut Niederschrift durch Organe der Polizeiinspektion Gmünd-AGM in Schwechat) gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitischer Moslem und ledig und stamme aus XXXX, Provinz Baghlan, Afghanistan, wo er sieben Jahre lang die Schule besucht habe. Sein Vater sei vor zwei Jahren gestorben, zu Hause habe er noch seine (namentlich angegebene) Mutter, drei Brüder (im Alter von 16, 20 und 23 Jahren) und zwei Schwestern.
Seine Reise habe er vor ca. zwei Monaten angetreten und sei über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gelangt.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er Angst um seine Zukunft und sein Leben habe. Es bestehe keine Sicherheit in Afghanistan. Immer wieder gebe es Unruhen und Selbstmordattentate. Er habe Angst, bei diesen Gefechten umzukommen.
1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF Konsultationen gemäß dem Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Ungarn, die negativ verliefen.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 05.10.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Steiermark, Außenstelle Graz, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und machte auf nähere Befragung Angaben zu seinen Lebensumständen und zur Bedrohungslage im Herkunftsstaat.
Neu gab der BF an, dass er über Facebook erfahren habe, dass sein Bruder XXXX (der zweitjüngste von vier Söhnen) vor drei Tagen in Ausübung seines Dienstes beim Militär erschossen worden sei. Sein älterer Bruder XXXX, der auch die Ausreise des BF organisiert und finanziert habe, sei Kommandant beim Militär und befehlige dort eine Gruppe von fünf Personen mit einem Militärfahrzeug und sorge für den Unterhalt seiner Familie. Sein Vater habe eine Autowerkstatt gehabt und sei vor nunmehr ca. drei Jahren an einer Herzkrankheit gestorben.
Der BF machte Angaben zu seiner beachtlichen Integration in Österreich und legte Belege dafür vor (Fußballverein, gemeinnützige Tätigkeiten, Deutschkurse, Empfehlungsschreiben).
1.5. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 10.10.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 29.07.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Zum Fluchtvorbringen des BF führte das BFA im Wesentlichen aus, dass [offen] sei, warum gerade der BF getötet werden sollte, zumal er nie einer persönlichen Bedrohung oder Verfolgung ausgeliefert gewesen wäre.
Seine Heimatprovinz Baghlan sei zwar eine volatile Provinz, doch könne der BF in eine sichere Nachbarprovinz oder nach Kabul verwiesen werden.
1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 27.10.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und "Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.
In der Beschwerdebegründung wurden hauptsächlich - vielfach auch an der Problemlage vorbeigehend - Rechtsausführungen getätigt und Auszüge aus diversen Berichten zu Afghanistan (zum Teil in englischer Sprache) zitiert. Die gute Integration des BF in Österreich wurde hervorgehoben.
1.7. Mit Schreiben seines Vertreters vom 04.11.2016 übermittelte der BF weitere Belege bezüglich seiner Integration in Österreich.
1.8. Mit Schreiben seines Vertreters vom 28.08.2017 legte der BF ein Konvolut von Belegen bezüglich seines Fluchtvorbringen vor, deren Übersetzung in die deutsche Sprache das erkennende Gericht veranlasste (betreffend den verstorbenen Bruder XXXX:
Militärausweis, medizinische Kartei der Nationalarmee, Stationierungsbestätigung, Fotos, Militärbestätigung über den Besuch eines Ingenieurkurses, Kursbestätigung des Verteidigungsministeriums; betreffend den Bruder XXXX:
Personenliste, Teilnahmebestätigung an einer NATO-Trainingsmission 2010, Militärbestätigung über sportliche Leistungen, mehrere Kursbestätigungen des Verteidigungsministeriums, Computerkursbestätigung, Karteikarte des Verteidigungsministeriums für Ausbildung im Ausland, Bestätigungen des Verteidigungsministeriums über ein Militärtraining, Militärkartei, Anerkennungsurkunde des US-Militärs).
1.9. Das BVwG führte am 10.12.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein seiner Vertreterin persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Dari.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe.
BF: Ja, aber es kann sein, dass ich etwas auf Dari sage, was der D nicht versteht. Ich hatte dieses Problem mit einem iranisch stämmigen D bereits bei der Einvernahme vor dem Bundesamt.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein.
[...]
Der BF hat bisher keine Bescheinigungsmittel zu seiner Identität vorgelegt und hat auch heute keine bei sich.
BF: Ich habe keinen Reisepass gehabt. Ich hatte eine Tazkira, die mir der Schlepper bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland im Rucksack (mit 300 Dollar) ins Wasser geworfen hat.
Der BF hat Belege für sein Vorbringen vorgelegt (Belege betreffend die Militärzugehörigkeit seiner beiden Brüder XXXX und XXXX), deren Übersetzung ins Deutsche amtlich veranlasst worden ist.
Bezüglich seiner Integration in Österreich hat der BF mehrere Belege vorgelegt (Mitglied Fußballverein, Naturfreunde, Empfehlungsschreiben von Bekannten, Deutschlehrern etc.).
Heute legt er weiters vor: Teilnahmebestätigung "Werte und Orientierungskurs", Teilnahmebestätigung - gemeinnützige Arbeiten (Straßenreinigung in Graz), Deutschkursbetätigungen A1.1 - A1.3, Teilnahmebestätigung "Abendgymnasiumgraz" - Vorbereitungslehrgang, Empfehlungsschreiben.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Tadschike.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin sunnitischer Moslem.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin ledig.
RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?
BF: Nein.
RI: Haben Sie Kinder?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe sieben Jahre die Schule besucht.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Mein Bruder XXXX hat als Beamter für den Unterhalt der Familie gesorgt. Ich habe mir als Automechaniker ein Taschengeld dazu verdient.
RI: Geben Sie bitte soweit wie möglich chronologisch an, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
BF: Ich habe in XXXX gelebt. Befragt, ob ich mich auch in Kabul aufgehalten habe, gebe ich an, dass ich einmal mit ca. 17 Jahren zwei Monate bei einem Freund meines Bruders in Kabul versucht habe, eine Arbeit zu bekommen. Da mir dies nicht gelungen ist, bin ich wieder zurückgegangen. Einmal habe ich mich drei Tage in Kabul aufgehalten. Befragt, ob ich mich einmal in Mazar-e Sharif aufgehalten habe, verneine ich das.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF: Sie leben in XXXX. Mein Bruder XXXX lebt und arbeitet beim Militär. Früher war seine Dienststelle in Kabul, inzwischen ist diese in Mazar-e Sharif.
RI: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?
BF: Nein.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja, wenn Sie nicht zu schnell sprechen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und halbwegs auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?
BF: Ich arbeite bei der Gemeinde, lerne zuhause und besuche einen Kurs. Ich spiele Fußball im Park, ich ringe bei einem afghanischen Verein in Graz. Ich gehe Laufen. Einmal war ich auch Bergsteigen, um mir die Berge anzusehen. Ich arbeite einmal pro Monat eine ganze Woche für die Gemeinde (z.B. Reinigung, Blätter sammeln etc.).
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Ich habe einmal eine Strafe wegen "Schwarzfahren" in der Straßenbahn bekommen, weil ich eine Karte für Pensionisten gelöst und geglaubt habe, dass dies in Ordnung ist.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ja, ich telefoniere ca. einmal wöchentlich mit meiner Mutter und meinen beiden Brüdern XXXX und XXXX.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint? Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.
BF: Ja, ich habe die Wahrheit gesagt und alles angegeben.
RI: Warum sind Sie ausgereist und Ihre Brüder nicht?
BF: Ich hatte Angst vor Krieg, Schießerei, Blut. Ich hatte deswegen auch immer Albträume.
RI: Und Ihre Brüder nicht?
BF: Nein, meine Brüder hatten diese Angstzustände nicht.
RI: Dafür ist Ihr jüngerer Bruder jetzt tot?
BF: Ja, mein BruderXXXX ist jetzt tot.
RI: Haben Sie Belege dafür, dass Ihr Bruder tot ist?
BF: Ja.
BF legt vor sechs Schriftstücke, bei denen es sich nach seinen Angaben um Schriftstücke des Militärs betreffend den Tod seines Bruder XXXX handelt und die in Kopie zum Akt genommen werden.
D übersetzt auf Ersuchen des RI ein Blatt sowie dessen Pendant im Akt (schlecht kopiert). Dabei handelt es sich um eine Bestätigung eines Krankenhauses vom 11.07.1395 (= 02.10.2016), und werden darin die Namen von Getöteten, darunter der Bruder XXXX, angeführt.
RI: Wo ist Ihr Bruder getötet worden?
BF: Er ist vom Dienst von Logar zurückgekehrt. Auf dem Weg haben ihm die Taliban eine Falle gestellt und getötet.
RI: Wenn Sie nach XXXXzurückkehren sollten, wären Sie in Gefahr, weil Ihr Bruder getötet wurde?
BF: Mein Leben würde auch in Gefahr sein. Mein Bruder hat für die Regierung gearbeitet. Die Regierung konnte sein Leben nicht schützen. Ich habe Angst vor Krieg, Blut und dem Getötetwerden. Es kann mich auch treffen.
RI: Wissen die Taliban, dass Sie der Bruder eines Militärangehörigen sind?
BF: Ja, sie wissen es.
RI: Woher?
BF: Da mein Bruder XXXX bei der Regierung gearbeitet hat, wussten sie, dass zwei Brüder zuhause waren.
RI ersucht den BF, auf einer Karte von XXXX seinen Heimatort zu zeigen. Er nennt die Distrikthauptstadt XXXXund einige benachbarte Ortschaften in der Umgebung.
RI: Könnten Sie in einer der Nachbarprovinzen Bamyan, Parwan, Panjsher oder Samangan leben?
BF: Ich habe in diesen Provinzen niemanden. Wie kann ich alleine dort weiterleben? Außerdem herrschen in diesen Provinzen auch Kriegszustände. Wenn man dort alleine lebt, kann einem von diversen Gruppierungen sehr Schlimmes passieren.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
BFV: Der BF hat in Gesamtafghanistan mit einer asylrelevanten Verfolgung aufgrund seiner (unterstellten) politischen Gesinnung zu rechnen, da zwei seiner Brüder beim Militär tätig sind. Auch der vorgelegte Auszug der gutachterlichen Stellungnahme bestätigt, dass die Taliban überall in Afghanistan Kontakte haben. Auch das neueste LIB der Staatendoku führt aus, dass in Afghansitan Mittel und Wege betehen, jede Person ausfindig zu machen (vgl. Seite 304). Desweiteren hätte der BF in Afghanistan mit einer Art. 3 EMRK - Verletzung zu rechnen, da seine Heimatprovinz Baghlan eines der schwerst umkämpftesten Gebiete ist (vlg. Seite 67 LIB). Auch steht ihm keine IFA offen. Zum Beweis dafür lege ich eine für die Verhandlung vorbereitete schriftliche Stellungnahme, datiert mit 07.12.2018, vor und einen Bericht der SHF vom 12.09.2018. Die Anträge der Beschwerde werden aufrecht erhalten.
Die zuletzt genannten Schriftstücke werden als Beilage zur Niederschrift zum Akt genommen.
[...]
RI befragt BFV, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er von sich aus noch etwas vorbringen möchte.
BF: Nein, ich habe alles gesagt, was ich vorbringen wollte.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 30.07.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 05.10.2016 sowie die Beschwerde vom 27.10.2016
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 358 bis 429)
* Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege betreffend die Militärzugehörigkeit seiner zwei Brüder und die Tötung von XXXX durch die Taliban:
o zum verstorbenen Bruder XXXX:
-
Militärausweis
-
medizinische Kartei der Nationalarmee
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Stationierungsbestätigung
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Fotos
-
Militärbestätigung über den Besuch eines Ingenieurkurses
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Kursbestätigung des Verteidigungsministeriums
o zum Bruder XXXX:
-
Personenliste
-
Teilnahmebestätigung an einer NATO-Trainingsmission 2010
-
Militärbestätigung über sportliche Leistungen
-
mehrere Kursbestätigungen des Verteidigungsministeriums
-
Computerkursbestätigung
-
Karteikarte des Verteidigungsministeriums für Ausbildung im Ausland
-
Bestätigungen des Verteidigungsministeriums über ein Militärtraining
-
Militärkartei
-
Anerkennungsurkunde des US-Militärs
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 10.12.2018 sowie Einsichtnahme in die in der Verhandlung vorgelegten Dokumente betreffend die Integration des BF
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in den Provinzen Baghlan, Panjsher, Parwan, Samangan und Bamijan (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 23.11.2018)
o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann sowie
o Auszug aus einer gutachtlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009 zum Vorbringen des BF, seine Brüder hätten für Einrichtungen der afghanischen Regierung (Militär) gearbeitet.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX, geboren am XXXX, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er besuchte sieben Jahre lang die Schule.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF lebte bis Mai 2015 gemeinsam mit seiner Familie (Mutter, drei Brüder, zwei Schwestern) in XXXX, Provinz Baghlan, Afghanistan. Sein Vater betrieb eine Autowerkstatt und ist vor ca. fünf Jahren an einer Herzkrankheit gestorben. Seine beiden Brüder XXXX und XXXX sind bzw. waren für das afghanische Militär tätig, der ältere Bruder XXXX, der auch die Ausreise des BF organisiert und finanziert hatte, sorgt nun für die Familie. Der BF hat sich als Automechaniker etwas Geld dazu verdient.
3.1.3. Ausreise:
Der BF verließ seine Heimat im Mai 2015 und reiste über die Türkei, Griechenland und mehrere angegebene europäische Länder bis nach Österreich, wo er am 29.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.1.4. Integration:
Der BF bemüht sich um seine Integration in Österreich und hat bereits beachtliche Erfolge zu verzeichnen.
3.1.5. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF hat sein Vorbringen, dass er Afghanistan aus begründeter Angst um sein Leben wegen Verfolgung durch die Taliban - konkret wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seiner Brüder, die als Militärangehörige gegen die Taliban vorgehen und deshalb von diesen als Gegner wahrgenommen werden; so haben sie inzwischen den jüngeren Bruder des BF getötet und wissen um die Zugehörigkeit dessen Bruder zum Militär Bescheid - glaubhaft gemacht.
3.2.2. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF glaubhaft gemacht werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat der Gefahr einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre, zumal die Taliban ihn auch an anderen Orten in Afghanistan auffinden könnten und dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternativ daher nicht zur Verfügung stünde.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 23.11.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
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Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
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Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von reli