Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Unterbringungssache der Kranken M***** K*****, geboren am ***** 1934, *****, vertreten durch die Erwachsenenvertreterin Mag. S***** R*****, vertreten durch Mag. Peter Freiberger, Rechtsanwalt in Mürzzuschlag, Verein VertretungsNetz-Erwachsenenvertretung, Patienten-
anwaltschaft, Bewohnervertretung, 8053 Graz-Neuhart, Wagner-Jauregg-Platz 1, Abteilungssleiter Primar Dr. C***** J*****, über den Revisionsrekurs der Kranken gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 21. Juni 2018, GZ 1 R 101/18g-25, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-West vom 2. November 2017, GZ 5 Ub 73/17k-17, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Die Kranke war von 19. 2. 2017 bis 22. 2. 2017 im geschlossenen Bereich des LKH *****, untergebracht. Die Unterbringung ohne Verlangen erfolgte bei Demenz, einem dementiellen Zustandsbild mit demenzassoziierten Verhaltensstörungen, ausgeprägter psychomotorischer Unruhe, rezidivierenden aggressiven Durchbrüchen gegenüber Pflegepersonal, rezidivierenden Stürzen und Sturzneigung. Ursache einer psychomotorischen Unruhe und eines deliranten Zustandsbilds können nicht nur Verletzungen der knöchernen Struktur bzw der Hirnsubstanz sein, sondern ebenso Verschiebungen der Mineralstoffe, Entzündungen, erhöhte Medikamentenspiegel, Organversagen und akute Herzerkrankungen.
Sofort bei der Aufnahme wurde der Kranken wegen vorhandener Hämatome Blut und Harn abgenommen und eine Laboruntersuchung sowie eine CCT-Untersuchung veranlasst. Um 18:50 Uhr wurde als Kurzinfusion Temesta verabreicht. Um 20:00 Uhr kam es zu einem Telefonat zwischen der diensthabenden Ärztin und der (nunmehr) Erwachsenenvertreterin der Kranken. Diese wurde informiert, dass die Kranke nach § 8 UbG zugewiesen und in Polizeibegleitung gebracht worden sei, weil das Pflegeheim die massiven aggressiven Durchbrüche der Kranken nicht mehr habe bewältigen können. Die Ärztin teilte der Erwachsenenvertreterin mit, dass die Kranke im geschützten Bereich untergebracht sei, das Glockenkabel abgerissen habe und sich selbst- und fremdgefährdend verhalte. Die Erwachsenenvertreterin erklärte, keine Untersuchung oder Behandlung zu wollen, sie ersuchte allerdings um ein zweites fachärztliches Zeugnis sowie um eine ärztliche Stellungnahme. Die Ärztin empfahl, ins Krankenhaus zu kommen, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen, was abgelehnt wurde.
Am Vormittag des 20. 2. 2017, um 9:06 Uhr, übermittelte die Erwachsenenvertreterin der Ärztin die Urkunde zur (früher) Sachwalterbestellung. Sie wies auf die Informations- und Zustimmungspflichten der §§ 35 und 36 UbG hin und beendete ihr Schreiben mit den Worten „in diesem Sinn ersuche ich vor jeglicher Behandlung/Medikation Kontakt mit mir aufzunehmen und möchte darauf hinweisen, dass der gesundheitliche Zustand der Kranken nicht neu, sondern eben der Grund für die Sachwalterbestellung gewesen ist und die vorhandenen Symptome bereits bekannt sind.“ Am Vormittag des gleichen Tages wurde eine Röntgenuntersuchung durchgeführt und eine Pneumonie diagnostiziert, woraufhin eine antiobiotische Therapie eingeleitet wurde. Am Nachmittag erhielt die Kranke eine Infusionstherapie.
Mit E-Mail vom 21. 2. 2017 beantwortete die Ärztin die E-Mail der Erwachsenenvertreterin dahin, dass die gewünschte Zuweisung sowie die beiden Facharztzeugnisse eingeschrieben über den Postweg zugesandt würden. Sie wies die Erwachsenenvertreterin darauf hin, dass sie jederzeit vor Ort in die Krankenunterlagen Einsicht nehmen könne. Um 12:53 Uhr antwortete die Erwachsenenvertreterin: „Da mir leider der Grund und die Bedeutung der Behandlung von [...] trotz unseres Gesprächs nicht bekannt sind und mir auch nicht erläutert wurden, kann ich bislang mein Einverständnis zur Behandlung von [...] nicht erklären. Für andere besondere Heilbehandlungen müsste ich ohnedies schriftlich zustimmen, ich ersuche auf diesen Umstand Bedacht zu nehmen.“ Die diensthabende Ärztin schrieb darauf: „Nochmals darf ich Sie herzlich zu einem Gespräch einladen, um vor Ort alles zu klären! Die Patientin hat rezidivierend massive aggressive Durchbrüche, welche im Pflegeheim nicht mehr zu bewältigen waren. Dies habe ich Ihnen bereits am Sonntag in der Nacht erklärt und Ihnen auch angeboten, wenn es für Sie möglich ist, die Patientin zu sich nach Hause zu nehmen, da möglicherweise es in einer vertrauten Umgebung für Demenzpatienten wesentlich einfacher ist. Im Krankenhaus müssen wir therapeutisch auf aggressive Durchbrüche reagieren, da die Patientin Mitpatienten, Personal aber auch sich gefährden kann. Wir werden natürlich versuchen, den stationären Aufenthalt möglichst kurz zu machen. Sollte das Pflegeheim mit Verhaltensstörungen bei Demenz nicht zurande kommen, wäre auch ein Heimwechsel in ein spezielles Demenz-Heim überlegenswert.“
Darauf reagierte die Erwachsenenvertreterin am 22. 2. 2017 um 11:28 Uhr mit einer E-Mail folgenden Inhalts: „... Ich kann den Mehrwert eines persönlichen Gesprächs vor Ort leider nicht erkennen, da Sie mir bis dato kein Krankheitsbild von [...] nennen und erklären konnten, welches vorliegt und eine Heilbehandlung Ihrerseits (dazu zählen auch therapeutische Behandlungen genauso wie die sedierenden) rechtfertigen würde. Wir haben miteinander gesprochen, meine Telefonnummer liegt im LKH auf und man kann mich jederzeit erreichen. [...] Solange mir also das Krankheitsbild von [...] und die medizinische Indikation von Maßnahmen nicht bekannt und klar ist, gebe ich als Sachwalterin weiterhin keine Zustimmung zu irgendeiner gearteten Heilbehandlung. Sollten Sie Heilbehandlungen vornehmen wollen, liegt es an Ihnen, mein Einverständnis einzuholen, wofür ich jedoch ausreichende Informationen Ihrerseits benötige.“
Die Kranke beantragt, die im LKH durchgeführten therapeutischen Behandlungen (insbesondere die medikamentösen Therapien) und diagnostischen Untersuchungen (insbesondere Blut- und Harnuntersuchungen, EKG, CCT und Röntgen) für rechtswidrig zu erklären. Eine Behandlung der Kranken hätte nur mit Zustimmung der Erwachsenenvertreterin erfolgen dürfen. Mangels einer solchen seien die Heilbehandlungen unzulässig gewesen.
Die Einrichtung nahm dahin Stellung, dass aufgrund multipler Hämatome unterschiedlichen Alters im Gesicht unverzüglich eine CCT-Untersuchung veranlasst worden sei, die glücklicherweise weder eine interzerebrale Blutung noch eine Fraktur ergeben habe. Routinemäßig sei eine Laboruntersuchung bei der Aufnahme durchgeführt worden, um pathologische Laborparameter, die durchaus Ursache für psychische Alterationen sein können, abzuklären. Die Laboruntersuchung habe einen Hinweis auf eine Infektion ergeben. Um ca 18:00 Uhr habe sich ein raptöses Zustandsbild bei der Patientin entwickelt, sie habe begonnen zu schreien und sei verbal nicht mehr zugänglich gewesen, habe jegliche Medikation verweigert und auch eine Kurzinfusion mit Temesta habe wenig Erfolg gebracht. Um 18:50 Uhr sei die Patientin aggressiv gewesen, habe das Glockenkabel dekonnektiert, lassoartig im Zimmer geschwungen und versucht, damit auf den Dienstarzt und Pflegepersonal hinzuschlagen. Um 20:00 Uhr habe die Erwachsenenvertreterin telefonisch erklärt, dass sie jegliche Medikation ablehne. Sie sei dringend eingeladen worden, sich vor Ort ein Bild von der Situation zu machen, was abgelehnt worden sei. Am nächsten Tag seien weitere Kontrollen durchgeführt worden, die den Verdacht auf eine Lungenentzündung und einen Harnwegsinfekt ergeben hätten, weshalb eine Antibiose eingeleitet worden sei. Die Erwachsenenvertreterin habe sich in E-Mails ablehnend bezüglich der Therapie geäußert. Sie habe auch die neuerliche Einladung zum Gespräch nicht angenommen.
Das Erstgericht wies den Antrag ab. Eine Person dürfe nicht gegen den Willen ihres Erwachsenenvertreters behandelt werden, wenn nicht Gefahr im Verzug gegeben sei. Im konkreten Fall bestehe kein Zweifel daran, dass aufgrund der seinerzeitigen Aufnahmesituation und des Zustands der Kranken Gefahr in Verzug bestanden habe und vorrangig zunächst das Vorliegen einer (lebensbedrohlichen) Kopf- bzw Hirnverletzung und/oder organische Ursachen auszuschließen bzw festzustellen gewesen seien. Die behandelnde Ärztin sei daher nicht verpflichtet gewesen, die Zustimmung der Erwachsenenvertreterin einzuholen. Die gewählten Diagnosemaßnahmen und die Behandlung hätten auch den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft entsprochen und seien zu ihrem Zweck auch nicht außer Verhältnis gestanden. Mangels Rechtswidrigkeit der durchgeführten Untersuchungen und Behandlungen sei der Antrag abzuweisen.
Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Erteile der Erwachsenenvertreter die Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung nicht und werde dadurch das Wohl der behinderten Person gefährdet, so könne das Gericht gemäß § 283 Abs 2 letzter Satz ABGB seine Zustimmung ersetzen. Gemäß § 283 Abs 3 ABGB sei die Zustimmung des Erwachsenenvertreters und die Entscheidung des Gerichts nicht erforderlich, wenn die Behandlung so dringend notwendig sei, dass der mit der Einholung der Zustimmung oder der gerichtlichen Entscheidung oder Umbestellung des Erwachsenenvertreters verbundene Aufschub das Leben der behinderten Person gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre. Der Erwachsenenvertreter handle pflichtwidrig, wenn er eine notwendige Behandlung ablehne. Bei Gefahr in Verzug sei daher seine Zustimmung nicht erforderlich. Eine solche könne auch dann bestehen, wenn der Erwachsenenvertreter die Zustimmung verweigere und das Verfahren, um sie zu ersetzen, zu lange dauern würde.
Im vorliegenden Fall sei die Entlassung bereits wenige Tage nach Aufnahme der Kranken im LKH erfolgt. Eine Befassung des zuständigen Pflegschaftsgerichts wäre somit frühestens am Montag, dem 20. 2. 2017, möglich gewesen. Weder ein Verfahren zur Umbestellung des Erwachsenenvertreters, noch ein solches, um die Zustimmung, welche die Erwachsenenvertreterin verweigerte, zu ersetzen, hätten innerhalb des vor der Entlassung zur Verfügung stehenden Zeitfensters von zweieinhalb Tagen beendet werden können. Ein Zuwarten mit den Untersuchungen wäre mit der Gefahr allfälliger schwerer gesundheitlicher Folgen bei nicht rechtzeitigem Erkennen der Ursachen sowie nicht rechtzeitiger Behandlung des die Unterbringung auslösenden schlechten gesundheitlichen Zustands der Patientin verbunden gewesen. Berücksichtige man die Gesamtsituation, sei zweifellos ein medizinischer Notfall vorgelegen, der die Ärzte zum Handeln verpflichtet habe, sodass Gefahr im Verzug iSd § 37 UbG vorgelegen sei. Dass gemäß § 36 Abs 2 UbG Heilbehandlungen nicht gegen den Willen des Erwachsenenvertreters vorgenommen werden dürfen, bedeute keine vorbehaltslose Beachtlichkeit des Vertreterwillens. Einer missbräuchlichen Ausübung des Personensorgerechts könne auch gegenüber untergebrachten Kranken keine endgültige Wirksamkeit zukommen. Schon aus Gründen des Datenschutzes habe mit der Erwachsenenvertreterin telefonisch kein ärztliches Aufklärungsgespräch geführt werden können.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Kranken mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Abteilungsleiter beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
1.1 Voranzustellen ist, dass im vorliegenden Fall die Rechtslage vor Inkrafttreten des 2. Erwachsenenschutz-Gesetzes, BGBl I Nr 59/2017, zur Anwendung gelangt. Zur besseren Verständlichkeit wird in Folge die Terminologie der hier anzuwendenden bisherigen Rechtslage beibehalten.
1.2 Soweit der Kranke nicht einsichts- und urteilsfähig ist, darf er, wenn ihm ein Sachwalter bestellt ist, dessen Wirkungskreis Willenserklärungen zur Behandlung des Kranken umfasst, nicht gegen den Willen seines Sachwalters behandelt werden; eine besondere Heilbehandlung darf nur mit schriftlicher Zustimmung des Sachwalters durchgeführt werden (§ 36 Abs 2 UbG aF).
1.3 Die Zustimmung und die gerichtliche Genehmigung sind nicht erforderlich, wenn die Behandlung so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Zustimmung oder der Genehmigung verbundene Aufschub das Leben des Kranken gefährden würde oder mit einer Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit des Kranken verbunden wäre. Über die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Behandlung entscheidet der Abteilungsleiter. Dieser hat den Sachwalter oder, wenn der Kranke keinen solchen hat, den Patientenanwalt nachträglich von der Behandlung zu verständigen (§ 37 UbG aF).
1.4 Nach § 283 Abs 1 ABGB aF ist – wie auch nach § 36 Abs 2 UbG – eine Behandlung einer nicht einsichts- und urteilsfähigen Person nur mit Zustimmung des für die Einwilligung in solche Behandlungen bestellten Sachwalters zulässig. Für den Fall, dass der Sachwalter seine Zustimmung nicht erteilt und dadurch das Wohl der behinderten Person gefährdet wird, sieht die Bestimmung in ihrem Abs 2 Satz 3 vor, dass das Gericht die Zustimmung des Sachwalters ersetzen oder die Sachwalterschaft einer anderen Person übertragen kann. Gemäß § 283 Abs 3 leg cit ist die Zustimmung des Sachwalters nicht erforderlich, wenn die Behandlung so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Zustimmung oder der gerichtlichen Entscheidung verbundene Aufschub das Leben der behinderten Person gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre.
2.1 Zwar ist die gerichtliche Entscheidungskompetenz nur in § 36 Abs 3 UbG (nicht einsichts- und urteilsfähiger Kranker ohne Vertreter) erwähnt, doch soll es nach dem Willen des Gesetzgebers im Anwendungsbereich des § 36 Abs 1 und Abs 2 UbG abgesehen von „Notfällen“ iSd § 37 UbG gar keine konsenslosen Behandlungen geben. Wird jedoch – unzulässigerweise – ohne besondere Dringlichkeit und Notwendigkeit iSd § 37 UbG eine konsenslose Behandlung an einem einsichts- und urteilsfähigen Patienten oder einem anderen Patienten mit einem kompetenten Vertreter vorgenommen, so soll – ohne dass dies ausdrücklich im Gesetz erwähnt werden müsste – dem Unterbringungsgericht weiterhin die Kompetenz zukommen, diese Zwangsbehandlung auf Antrag für rechtswidrig zu erklären (7 Ob 168/15t mwN).
2.2 In der Entscheidung 7 Ob 168/15t wurde auch (soweit hier relevant) ausgesprochen, dass, sofern weder psychiatrische Behandlungen noch Behandlungen der psychiatrischen Anlasskrankheit vom Unterbringungsgericht im Verfahren nach §§ 35 ff UbG zu überprüfen sind, die nachträgliche Überprüfung der Zulässigkeit der Heilbehandlung auf die Frage der Zustimmung zur gewählten Behandlung beschränkt ist. Die Prüfung und Feststellung der fehlenden Zustimmung zu einzelnen innerhalb dieser Behandlungsmethode gesetzten Behandlungsschritten ist hingegen nicht zulässig.
2.3 Die Vorinstanzen bejahten zutreffend die Prüfungsbefugnis. Abgesehen davon, dass hier die medizinischen Maßnahmen auch der Abklärung der Ursachen der psychomotorischen Unruhe und des deliranten Zustandsbilds und somit der – die Eigen- und Fremdgefährdung bedingenden – Verwirrtheitszustände dienten, geht es auch nicht um die Frage der Zustimmung zu einzelnen Behandlungsschritten innerhalb einer Heilbehandlung, der bereits zugestimmt worden war, sondern um die Frage der Zulässigkeit einer konsenslosen Heilbehandlung iSd § 37 UbG.
3.1 Medizinische Heilbehandlungen iSd UbG sind alle ärztlichen Maßnahmen, die aufgrund einer medizinischen Indikation vorgenommen werden, um Krankheiten zu erkennen, zu heilen oder zu lindern. Der Begriff „Heilbehandlung“ umfasst nicht nur unmittelbar therapeutische, sondern auch diagnostische und physikalische Maßnahmen, wie etwa eine Blutabnahme (vgl 7 Ob 168/15d mwN). Nur Heilbehandlungen, die die körperliche Integrität des Kranken in besonderer Weise beeinträchtigen, wie etwa „Elektroschocks“ sind als besondere Heilbehandlungen anzusehen (RIS-Justiz RS0076093). Dass die einzelnen hier gegenständlichen medizinischen Maßnahmen – mangels einer damit verbundenen Eingriffsintensität – nicht unter den Begriff der besonderen Heilbehandlung fallen, ist zu Recht nicht strittig.
3.2 Die Wortfolge „nicht gegen den Willen“ bedeutet, dass eine ausdrückliche oder schlüssige Zustimmung des Sachwalters (Erwachsenenvertreters) des Kranken zur Heilbehandlung vorliegen muss (vgl 7 Ob 168/15d zur identen Wortfolge in § 36 Abs 1 UbG aF).
4.1 Nach § 37 UbG bedürfen sowohl einfache als auch besondere Heilbehandlungen im Notfall keiner Zustimmung der hiefür zuständigen Person – im vorliegenden Fall des kompetenten Vertreters nach § 36 Abs 2 UbG.
4.2 Gefahr in Verzug (Notfall) setzt voraus, dass die Behandlung so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Einwilligung oder Zustimmung verbundene Aufschub das Leben des Kranken gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre. Erforderlich ist zumindest eine Beeinträchtigung des Gesundheitszustands von der Qualität einer schweren Körperverletzung iSd § 84 StGB. Die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Schädigung drohen muss, ist in Relation zu jenem Zeitraum zu sehen, der für die Einholung der Zustimmung bzw Genehmigung nötig wäre (Kopetzki, Unterbringungsrecht 845 mwN; vgl auch Ganner in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG § 37 UbG Rz 6).
4.3 § 37 UbG erlaubt unter den angegebenen Voraussetzungen eine Behandlung ohne Zustimmung bzw ohne – wirksame – gerichtliche Genehmigung, nicht aber eine Behandlung gegen den bereits wirksam erklärten Willen einer einsichtsfähigen Person oder des kompetenten Vertreters oder entgegen einer vom Gericht wirksam verweigerten Genehmigung. § 37 UbG dispensiert von der „Einholung der Zustimmung oder Genehmigung“, er berechtigt aber an sich nicht zur Missachtung einer bereits vorliegenden Weigerung. § 37 UbG regelt also grundsätzlich den Fall, dass eine rechtswirksame Willenserklärung einer zustimmungsbefugten Person bzw die Genehmigung des Gerichts nicht rechtzeitig erlangt werden kann (Kopetzki, Unterbringungsrecht 845 f, Ganner aaO Rz 4).
5.1 Der Vorrang der Behandlungsablehnung gilt aber nach allgemeinen Grundsätzen nicht, wenn der Vertreter einer nicht einsichtsfähigen Person die Zustimmung zu einer notwendigen und indizierten Behandlung verweigert. Die Weigerung des Vertreters kann sich dann, wenn sie die Schwelle zum Missbrauch des Sorgerechts überschreitet, nicht endgültig durchsetzen. Vielmehr muss der Arzt in einer derartigen Situation gemäß § 283 Abs 2 ABGB das Pflegschaftsgericht anrufen, das zur Substitution der verweigerten Zustimmung einen anderen Obsorgeberechtigten oder Sachwalter bestellen oder die Einwilligung ersetzen kann. Käme die Entscheidung des Gerichts zu spät und entsteht dadurch Lebensgefahr oder die Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung, dann ist die Behandlung ungeachtet der Weigerung des Vertreters iSd § 283 Abs 3 ABGB zulässig (vgl Weitzenböck in Schwimann/Kodek ABGB Praxiskommentar4 § 283 Rz 7; Stabentheiner in Rummel/Lukas ABGB4 § 283 Rz 10; Hopf in KBB5 § 283 Rz 4 f).
5.2 Diese Überlegungen treffen auch im Anwendungsbereich des UbG zu, soll doch ein Kranker nicht schlechter gestellt werden. Die Bestimmung des § 36 Abs 2 UbG, wonach die Behandlung nicht einsichtsfähiger Personen nicht gegen den Willen des Vertreters vorgenommen werden darf, bedeutet daher keine vorbehaltlose Beachtlichkeit des Vertreterwillens. Einer missbräuchlichen Ausübung des Personensorgerechts kann auch gegenüber untergebrachten Personen keine endgültige Wirksamkeit zukommen. Vielmehr ist auch hier die Behandlung aufgrund der Notfallsregelung des § 37 UbG im Sinn des § 283 Abs 3 ABGB zulässig (vgl Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts3 Rz 661; Halmich, UbG § 37 Anm 3; Hopf/Aigner, UbG § 37 Anm 4; aA Ganner aaO Rz 4).
6.1 Der erste Kontakt mit der Sachwalterin erfolgte nach Durchführung der ersten Untersuchungen. Die diensthabende Ärztin wies zwar in diesem und in den nachfolgenden Telefongesprächen sowie im Schriftverkehr auf die aggressiven Durchbrüche der Kranken hin, es erfolgte aber – nicht einmal ansatzweise – irgendeine Information darüber, aufgrund welcher Umstände welche medizinische Maßnahme als notwendig erachtet würde, dies auch, obwohl die Erwachsenenvertreterin in den Telefongesprächen und im Schriftverkehr unter Anführung der gesetzlichen Bestimmungen darauf hingewiesen hat, aufgrund der unzureichenden Informationen keine Zustimmung erteilen zu können.
6.2 Bei Einholung der Zustimmung ist die Übermittlung ganz allgemein gehaltener Kurzinformationen darüber, welche diagnostischen Maßnahmen (wie CCT, Röntgen, Blut- und Harnuntersuchung, EKG) zur Abklärung welchen Krankheitsbildes durchgeführt und welche Medikamente verabreicht werden müssen, jedenfalls per Telefon oder E-Mail zulässig. Ob und in welchem Umfang ein weitergehendes Aufklärungsgespräch notwendig ist, ist ebenso von den Umständen des Einzelfalls abhängig wie die Frage, ob ein solches persönlich geführt werden muss.
6.3 Der vorliegende Fall ist nun dadurch gekennzeichnet, dass noch nicht einmal versucht wurde, die Zustimmung der Erwachsenenvertreterin zu bestimmten medizinischen Maßnahmen einzuholen, womit diese aber auch nicht entgegen deren Ablehnung durchgeführt wurden.
7.1 Daraus folgt, dass es für die Beurteilung des Vorliegens der Gefahr in Verzug auf die Dauer des Einholens der Zustimmung der Erwachsenenvertreterin ankommt und nicht auf die Dauer eines Pflegschaftsverfahrens zur Ersetzung deren Zustimmung oder Umbestellung.
Für die abschließende Beurteilung, ob die medizinischen Maßnahmen trotz Nichtvorliegens der Zustimmung der Sachwalterin zulässig waren, reichen die erstgerichtlichen Feststellungen aber noch nicht aus, weshalb die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen ist.
7.2 So ist zu klären, wann die Einrichtung/die Ärztin Kenntnis von der Person der Erwachsenenvertreterin und ihren Kontaktdaten hatte bzw haben konnte. Dann hat das Erstgericht konkret festzustellen, welche medizinischen Maßnahmen aus welchem Grund gesetzt wurden (offen ist schon beispielsweise, welche Medikation überhaupt anlässlich der Infusionstherapie am 20. 2. 2007 verabreicht wurde). Weiters sind Feststellungen zu treffen, innerhalb welchen Zeitraums die Behandlungen gesetzt werden mussten und ob innerhalb dieses Zeitraums die Zustimmung der Erwachsenenvertreterin – hier per Telefon oder E-Mail – eingeholt hätte werden können.
7.4 Erst nach Vorliegen der entsprechend erweiterten Sachverhaltsgrundlage kann geprüft werden, ob und welche medizinische Maßnahme rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgte. Die davon ganz unabhängig zu klärende Frage, ob das Verhalten der Erwachsenenvertreterin und insbesondere ihre im Verfahren zu Tage gekommene Einstellung noch dem Wohl der schutzberechtigten Person entsprechen, ist bereits Gegenstand des vom Erstgericht angeregten Überprüfungsverfahrens.
8. Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Textnummer
E124338European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00168.18H.0130.000Im RIS seit
20.03.2019Zuletzt aktualisiert am
05.02.2020