Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung einer fristgerecht erhobenen Berufung gegen einen Bescheid der Sicherheitsdirektion betreffend eine Versammlung; Zuständigkeit des Bundesministers für Inneres noch aufgrund der Rechtslage vor dem StrukturanpassungsG 1996 gegeben; Zurückweisung der Beschwerde gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion mangels InstanzenzugserschöpfungSpruch
1. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid des Bundesministers für Inneres im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
2. Die gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien gerichtete Beschwerde wird zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.a) Der Beschwerdeführer zeigte am 24. Juni 1994 der Bundespolizeidirektion (BPD) Wien für 30. Juni und 1. Juli 1994 beabsichtigte Versammlungen an. Diese Behörde untersagte mit Bescheid vom 28. Juni 1994 gemäß §6 des Versammlungsgesetzes 1953 (VersG), BGBl. 98/1953 (zuletzt geändert durch BGBl. 392/1968), die Abhaltung dieser Versammlungen.
b) Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (SID Wien) wies mit Bescheid vom 2. Dezember 1994 die dagegen erhobene Berufung ab und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid.
Der Beschwerdeführer brachte gegen diesen Bescheid eine an den Bundesminister für Inneres (BMI) gerichtete, mit 14. Dezember 1994 datierte, am 15. Dezember 1994 zur Post gegebene Berufung ein.
c) Der BMI wies mit dem (am 31. Oktober 1996 zugestellten) Bescheid vom 29. Oktober 1996 die an ihn gerichtete Berufung vom 14. Dezember 1994 mangels Zuständigkeit zurück.
Diese Entscheidung beruht auf Art71 des Strukturanpassungsgesetzes 1996, BGBl. 201 (im folgenden kurz: StrAnpG 1996). Mit 1. Juli 1996 trat nämlich aufgrund dieser Bestimmung insofern eine Änderung der Rechtslage ein, als §18 VersG dahin novelliert wurde, daß der (bis dahin zulässige) Instanzenzug bis zum BMI abgekürzt wurde und seither bei der SID endet (Näheres s.u. II.1.).
2. Der Beschwerdeführer beantragt mit der vorliegenden Eingabe vom 13. November 1996 (die am selben Tag zur Post gegeben wurde) primär, ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen den Bescheid der SID Wien vom 2. Dezember 1994 zu bewilligen. Gleichzeitig erhebt er eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde gegen diesen Bescheid.
Hilfsweise ficht er (gleichfalls gemäß Art144 B-VG) auch den Bescheid des BMI vom 29. Oktober 1996 an. Er behauptet, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und in seinen Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (Art71 StrAnpG 1996) verletzt worden zu sein und begehrt, den Bescheid des BMI kostenpflichtig aufzuheben.
3. Der BMI und die SID Wien legten die Akten des Verwaltungsverfahrens vor. Der BMI verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift. Die SID Wien gab eine Gegenschrift ab, in der sie beantragt, die Beschwerde abzuweisen oder ihre Behandlung abzulehnen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1. Zu der gegen den Bescheid des BMI gerichteten Beschwerde:
a) Der BMI hat die an ihn gegen den Bescheid der SID Wien gerichtete Berufung mit dem nunmehr beim Verfassungsgerichtshof bekämpften Bescheid vom 29. Oktober 1996 als unzulässig zurückgewiesen und sich hiebei insbesondere auf die durch Art71 StrAnpG 1996 eingetretene Rechtsänderung berufen.
Diese Bestimmung lautet:
"Artikel 71
Änderung des Versammlungsgesetzes 1953
Das Versammlungsgesetz 1953, BGBl. Nr. 98/1953, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 392/1968, wird wie folgt geändert:
1. In §16 litb treten an die Stelle der Worte 'der Landeshauptmann' die Worte 'die Sicherheitsdirektion'.
2. §18 lautet:
'§18. Über Berufungen gegen Verfügungen der Bezirksverwaltungsbehörden und Bundespolizeidirektionen entscheidet die Sicherheitsdirektion in letzter Instanz. Über Berufungen gegen Verfügungen der Sicherheitsdirektionen gemäß §16 litb entscheidet der Bundesminister für Inneres.'
3. Nach §20 wird folgender §21 angefügt:
'§21. §18 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 201/1996 tritt mit 1. Juli 1996 in Kraft.'"
b) Der BMI begründet seinen Zurückweisungsbescheid - nach einer kurzen Schilderung des Verwaltungsgeschehens und der Rechtslage - wie folgt:
"Diese Neuregelung (Abkürzung) des Instanzenzuges (nämlich jene, die durch die Novellierung des §18 VersG verfügt wurde) ist mit 1. Juli 1996 in Kraft getreten. Eine ausdrückliche Übergangsbestimmung für anhängige Verfahren wurde nicht vorgesehen.
Im vorliegenden Fall hat die Sicherheitsdirektion für Wien aufgrund einer Berufung gegen einen Untersagungsbescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 28. Juni 1994 entschieden. Eine (erstinstanzliche) Verfügung einer Sicherheitsdirektion im Sinne des §16 litb Versammlungsgesetz 1953 idF BGBl. 1996/201, wogegen Berufung an den Bundesminister für Inneres erhoben werden könnte, liegt nicht vor. Es kommt daher die erfolgte Änderung der gesetzlichen Grundlage für den Instanzenzug (Wegfall des Bundesministers für Inneres als dritte Instanz) zum Tragen.
Nach der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zum Wegfall eines Rechtsmittels nach erfolgter Gesetzesänderung und zur Erlassung von Übergangsbestimmungen für anhängige Verfahren hat nämlich die Berufungsbehörde mangels einer ausdrücklichen Übergangsbestimmung das im Zeitpunkt ihrer Entscheidung geltende Verfahrensrecht anzuwenden. Falls sie infolge der neugeregelten Abkürzung des Instanzenzuges unzuständig geworden ist, hat sie dies auch im anhängigen Berufungsverfahren wahrzunehmen. Die Berufung ist daher von der in der Sache unzuständig gewordenen Berufungsbehörde als unzulässig zurückzuweisen (zuletzt VwGH 28.3.1995, 95/05/0022 = ZfVB 1996/4/1460)."
c) Der BMI hat mit dem angefochtenen Bescheid dem Beschwerdeführer eine Sachentscheidung über dessen Berufung verweigert. Hätte er dies zu Unrecht getan, so hätte er den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (vgl. z. B. VfSlg. 13512/1993, 13703/1994, 13784/1994; VfGH 12.6.1995 B1741/94; 25.9.1996 B4016/95).
Ein derartiger Vorwurf ist dem BMI zu machen:
Art71 StrAnpG 1996 enthält keine (ausdrücklichen) Übergangsbestimmungen. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ("Über
Berufungen ... entscheidet die Sicherheitsdirektion in letzter
Instanz. .... §18 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 201/1996 tritt mit 1. Juli 1996 in Kraft.") geht aber mit hinlänglicher Deutlichkeit hervor, daß die neue Rechtslage (Enden des administrativen Instanzenzuges bei der SID) nur auf jene Entscheidungen der SID anzuwenden ist, die nach dem 1. Juli 1996 ergangen sind.
Damit aber steht fest, daß der BMI im vorliegenden Fall verhalten ist, über die - fristgerecht erhobene - Berufung gegen den Bescheid der SID Wien vom 2. Dezember 1994 in der Sache zu entscheiden.
Da er dies verweigert hat, hat der BMI den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt. Sein Bescheid war mithin aufzuheben.
d) Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.000,-- S enthalten.
e) Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.
2. Zu der gegen den Bescheid der SID Wien gerichteten Beschwerde:
a) Gemäß Art144 Abs1 letzter Satz B-VG und §82 Abs1 VerfGG kann eine Beschwerde erst nach Erschöpfung des (administrativen) Instanzenzuges erhoben werden.
Keiner weiteren Begründung bedarf, daß dem Beschwerdeführer seinerzeit das Recht zustand, gegen den Bescheid der SID Wien Berufung an den BMI zu erheben. Wie sich aus den obigen Ausführungen (II.1) ergibt, hat Art71 StrAnpG 1996 an der Zuständigkeit des BMI zur Entscheidung über dieses Rechtsmittel nichts geändert.
Die gegen den Bescheid der SID Wien gerichtete Beschwerde war sohin mangels Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges zurückzuweisen.
b) Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lita VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
c) Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf den Wiedereinsetzungsantrag einzugehen.
Schlagworte
Versammlungsrecht, Behördenzuständigkeit, Instanzenzug, Übergangsbestimmung, VfGH / InstanzenzugserschöpfungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1997:B4230.1996Dokumentnummer
JFT_10029686_96B04230_00