TE Bvwg Erkenntnis 2018/12/18 W201 2117931-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.12.2018
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Entscheidungsdatum

18.12.2018

Norm

AsylG 2005 §3
BFA-VG §52 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §8a

Spruch

W201 2117934-1/12E

W201 2117928-1/11E

W201 2117927-1/11E

W201 2117931-1/11E

W201 2117929-1/11E

W201 2117932-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX 1978, der mj. XXXX .2001, der mj. XXXX .2005, der mj. XXXX 2007, des mj. XXXX .2009 und des mj. XXXX .2015, alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie, jeweils gegen den Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Zl: XXXX vom XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.11.2018 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden hinsichtlich Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag, den Beschwerdeführern unentgeltlich einen Verfahrenshelfer beizugeben, wird gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG iVm § 8a VwGVG iVm § 52 Abs. 1 BFA-VG als unzulässig zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Die Beschwerdeführer, die Erstbeschwerdeführerin und ihre 4 mj Kinder (Zweitbeschwerdeführerin bis Fünftbeschwerdeführer) brachten am 07.10.2013 als Familienangehörige des XXXX (Sohn der Erstbeschwerdeführerin) einen Einreiseantrag gemäß § 35 AsylG ein, reisten am 27.04.2015 legal in das Bundesgebiet ein und stellten einen Asylantrag.

Der Sechstbeschwerdeführer wurde in Österreich geboren, für ihn wurde der Antrag auf internationalen Schutz am 07.07.2015 gestellt.

2. Die Erstbeschwerdeführerin gab bei ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 27.04.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass sie keine eigenen Fluchtgründe habe. Sie stelle den Antrag auf internationalen Schutz, da ihr Sohn XXXX den Status des subsidiär Schutzberechtigten erlangt habe und sie denselben Schutz beantrage. Auch die Zweitbeschwerdeführerin bis Sechstbeschwerdeführer hätten keine eigenen Fluchtgründe.

3. Anlässlich der am 28.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführten Einvernahme vor dem BFA, Regionaldirektion NÖ, gab die Erstbeschwerdeführerin ebenfalls an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben. Sie sei verheiratet und wisse nicht, wo ihr Mann derzeit sei. Afghanistan habe sie verlassen, da sie Angst um ihr Leben gehabt habe, ihr Mann sei Sicherheitskommandant in der Provinz XXXX gewesen.

4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 30.10.2015 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.).

Ihnen wurde der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 zuerkannt (Spruchpunkt II.).

Den Beschwerdeführern wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 29.12.2015 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das BFA aus, mit Bescheid des damaligen BAA vom 29.12.2011 sei der Antrag des Sohnes, XXXX , auf internationalen Schutz abgewiesen worden, es sei ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden und ihm eine Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.12.2015 erteilt worden. Der Bescheid sei mit 17.01.2012 in Rechtskraft erwachsen. Dem Sohn sei zuletzt bis zum 29.12.2015 eine befristete Aufenthaltsbewilligung erteilt worden.

Das BFA stellte weiter fest, dass die Erstbeschwerdeführerin in Afghanistan keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei und auch keine solchen zu befürchten seien. Der Grund für die Ausreise sei gewesen, dass sie in Österreich mit ihren Kindern leben wolle. Für die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer seien keine eigenen Asylgründen vorgebracht worden.

Es sei nicht feststellbar, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan Verfolgung aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung drohe.

Zu Spruchpunkt II. wurde festgestellt, dass ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG vorliege und der Erstbeschwerdeführerin daher der gleiche Schutz wie ihrem Sohn zuerkannt werde. Für die Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer wurde festgestellt, dass ihnen derselbe Status wie ihrer Mutter zuerkannt werde. Der Zeitraum der befristeten Aufenthaltsberechtigung ergebe sich aus dem abgeleiteten Zeitraum des Verfahrens des Sohnes der Erstbeschwerdeführerin.

5. Gegen die Spruchpunkte I. der jeweiligen Bescheide des BFA richten sich die fristgerecht erhobenen Beschwerden.

Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft gewesen. Es werde festgehalten, dass keine eigenen Fluchtgründe vorlägen. Die Beschwerdeführerin habe jedoch angegeben, dass der Ehemann Kommandant gewesen sei und sie daher Angst gehabt hätte. Auch hätte die belangte Behörde feststellen müssen, dass die Erstbeschwerdeführerin als Hazara diskriminiert und verfolgt werde und nur äußerst selten das Haus verlassen hätte können. Auch Fragen zur westlichen Orientierung habe die belangte Behörde unterlassen. Zudem seien die Länderberichte mangelhaft gewesen. Die Beschwerdeführer hätten auch keine innerstaatliche Fluchtalternative, da sie keine Anknüpfungspunkte in Afghanistan hätten.

Die belangte Behörde habe auch den § 8 Abs 4 AsylG unrichtig angewendet und die Aufenthaltsberechtigung für den Zeitraum erteilt, der auch für ihren Sohn Gültigkeit hätte. Diese wäre jedoch für ein Jahr, also bis zum 30.10.2016 zu erteilen gewesen.

Es werde der Antrag gestellt, den Beschwerdeführern Asylstatus zuzusprechen, alle Rechtswidrigkeiten des Bescheides amtswegig aufzugreifen, den Beschwerdeführer einen Verfahrenshelfer beizustellen, allenfalls eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 30.10.2016 zu erteilen, in eventu eine mündliche Verhandlung durchzuführen, die Spruchpunkte I. der Bescheide zu beheben und zur Erlassung neuer Bescheide an die belangte Behörde zurückzuverweisen und in eventu die ordentliche Revision zuzulassen.

6. Am 27.11.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer und ihre Rechtsvertreterin teilnahmen. Die belangte Behörde entschuldigte sich unter Verweis auf dienstliche und personelle Gründe für die Nichtteilnahme an der Verhandlung. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

Die Erstbeschwerdeführerin gab an, sie habe bei der Einvernahme vor dem BFA nicht gewusst, dass sie über ihre Probleme sprechen solle, sie habe daher nur erwähnt, dass sie nach Ö gekommen sei, da ihr Sohn schon hier lebe. Sie sei verheiratet, Mutter von 6 Kindern und könne ein wenig lesen und schreiben. In Afghanistan sei sie Hausfrau gewesen. Als Hazara sei sie immer von den Sunniten und Taliban unterdrückt worden. Das sei auch in ihrem Dorf vor ca 10 bis 12 Jahren so gewesen. Alle ihre Familienmitglieder seien vor ca 20 Jahren bei einem Selbstmordattentat ums Leben gekommen. Sie habe zu diesem Zeitpunkt schon bei ihrem Mann gewohnt. Dieser sei Bauer gewesen und habe mangels eigener Grundstücke für andere Leute gearbeitet. Vor ca 10 Jahren sei die Familie dann in den Iran gezogen.

Die Familie sei aus Afghanistan weggezogen, da ihr Mann bei Militäreinsätzen auch Soldaten geholfen habe. In dieser Zeit sei der Bruder eines mächtigen Taliban-Kommandanten getötet worden. Es sei vermutet worden, dass ihr Mann ihn getötet habe, was aber nicht wahr sei. Wegen dieser Gefahr sei die Familie in den Iran gezogen. Aus dem Iran seien sie schließlich geflohen, da sie dort illegal aufhältig gewesen seien und die Kinder nicht zur Schule hätten gehen können. Ihr Mann sei derzeit im Iran, zuvor sei er nach Afghanistan abgeschoben worden. Die Erstbeschwerdeführerin möchte einen Hauptschulabschluss machen und dann die Ausbildung zur Kindergärtnerin absolvieren.

Die 17-jährige Zweitbeschwerdeführerin wurde ebenfalls befragt. Sie habe im Iran eine afghanische Schule besucht. Sie möchte später einmal studieren. Sie hat keinen Freund in Österreich. Sie trage ein Kopftuch, weil das Teil ihrer Kultur sei. Weiters bete sie und halte die Fastenzeit ein. Betreffend die Fluchtgründe habe sie nur von ihrem Vater gehört, dass die Familie in Afghanistan Feinde habe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsbürger. Die Erstbeschwerdeführerin sowie die mj. Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer stammen aus der Provinz XXXX . Der mj. Sechstbeschwerdeführer wurde in Österreich geboren. Ein weiterer Sohn der Erstbeschwerdeführerin ist seit 2011 in Österreich aufhältig und hat den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Vor ihrer Ausreise nach Österreich waren die Beschwerdeführer die letzten 10 Jahre im Iran aufhältig.

Die Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet, ihr Mann befindet sich derzeit im Iran.

Die Beschwerdeführer sind Hazara und schiitische Moslems.

Die Erstbeschwerdeführerin kann Dari lesen und schreiben und hat geringe Deutschkenntnisse.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen Erkrankungen.

Die Beschwerdeführer waren in Afghanistan nicht politisch tätig, hatten keine Probleme mit den staatlichen Behörden.

Weder bei der Erstbeschwerdeführerin noch bei der 17-jährigen Zweitbeschwerdeführerin kann eine "westliche Orientierung" festgestellt werden.

Eine Verfolgung der Beschwerdeführer kann nicht festgestellt werden.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat wird auszugsweise auf die aktuellen Länderfeststellungen der Staatendokumentation verwiesen, vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan,

Gesamtaktualisierung am 29.06.2018:

Zu Afghanistan:

Neuste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

Keine aktuellen Kurzinformationen vorhanden.

1. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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