TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/25 W147 2184926-1

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Veröffentlicht am 25.01.2019
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Entscheidungsdatum

25.01.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

W147 2184926-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. am XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich in 1090 Wien, Alser Straße 20/5 (Mezzanin), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3. Januar 2018, Zl: 1080693701 / 150987029, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17. Oktober 2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. gemäß den §§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016, 8 Abs. 1 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, § 57 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, und §§ 46, 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, 55 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der Volksgruppe der Laken zugehörig, reiste gemeinsam mit seiner Ehegattin (Beschwerdeführerin W147 2184928-1) und drei gemeinsamen minderjährigen Kindern (Beschwerdeführer W147 2184921-1, W147 2184925-1 und W147 2184927-1) unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 1. August 2015 verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer eingangs an, dass er von 1991 bis 2001 die Grundschule in Machatschkala besucht habe und im Anschluss für ein Jahr eine juristische Akademie besucht habe. Zuletzt habe der Beschwerdeführer als Administrator in einer Schuhfabrik gearbeitet. In Dagestan würden noch seine Eltern und zwei Geschwister wohnen.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass seine Familie und er in Gefahr seien. Es sei auf den Beschwerdeführer geschossen worden und habe man ihm mit der Pistole auf den Kopf geschlagen. Der Beschwerdeführer vermute, dass es sich um zivile Polizisten gehandelt habe. Bei einer Rückkehr in das Herkunftsland vermute der Beschwerdeführer, dass er spurlos verschwinden werde, da sich die Polizei nach ihm erkundigt habe. Im Rahmen dieser Befragung legte der Beschwerdeführer einen internationalen Führerschein, ausgestellt am XXXX mit der Nr.XXXX im Original, die Kopie seines Inlandsreisepasses und eine Heiratsurkunde, ausgestellt am XXXX mit der Nr. XXXX im Original, in Vorlage.

2. Am XXXX brachte die Ehegattin des Beschwerdeführers einen weiteren Sohn (Beschwerdeführer W147 2184923-1) zur Welt und stellte die Ehefrau für den Sohn als gesetzliche Vertretung am 14. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

3. Nach Zulassung des Verfahrens gab der Beschwerdeführer im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 4. Dezember 2017 im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin für die russische Sprache eingangs an, dass seine Ehegattin und die gemeinsamen Kinder keine eigenen Fluchtgründe hätten. Zu Dokumenten, die die Identität des Beschwerdeführers belegen können, gab der Beschwerdeführer an, dass er einen russischen Inlandspass und einen Auslands-Reisepass gehabt habe. Bei der Passausstellung habe es keine Probleme mit den Behörden des Herkunftsstaates gegeben. Zu seinem Leben im Herkunftsstaat befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er in XXXX in der XXXX zusammen mit seiner gesamten Familie (Mutter und Schwester) gelebt habe. Zu seinen Fluchtgründen aus dem Herkunftsland befragt, gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass sein Cousin dritten Grades "XXXX" entführt worden sei, weil er ein Auto angefahren habe. Wochenlang habe die Familie nichts von dem Cousin gehört woraufhin diese ihn auch im Internet gesucht habe. Schließlich seien zwei Männer in ziviler Kleidung im April dieses Jahres erschienen und hätten die Familie aufgefordert, die Suchanzeige aus dem Internet zu löschen, dann würden sie den Cousin zurückbekommen. Im Mai/Juni habe man schließlich die Leiche des Cousins der Familie übergeben. Dieser sei sodann beerdigt worden. Zwei Monate später erkundigten sich zwei dem Beschwerdeführer unbekannte Männer nach dem Cousin und forderten den Beschwerdeführer nach dessen Bejahung auf, mit ihnen zu kommen. Als der Beschwerdeführer sich geweigert habe, seien die Männer handgreiflich geworden und hätten den Beschwerdeführer am linken Ellbogen angeschossen. Der Beschwerdeführer habe den Männern entkommen können und sei sodann von einem Hausarzt versorgt worden

Als der Onkel des Beschwerdeführers erfahren habe, dass sich nach dem Beschwerdeführer erkundigt worden sei, habe der Onkel eine Wohnung außerhalb der Stadt für den Beschwerdeführer und dessen Familie gemietet. Dort habe die Familie von August bis Dezember gelebt und sich versteckt gehalten. Am 9. Dezember habe der Beschwerdeführer dessen Schwester anlässlich ihres Geburtstages besucht und sei er auf dem Heimweg von zwei Männern in der Nähe eines Parks angesprochen worden. Danach habe der Beschwerdeführer einen Schlag am Kopf gespürt, sei ins Schwanken gekommen und habe um Hilfe gerufen. Blutend habe er sich mit einem Taxi in Sicherheit flüchten können. Im Juli des nächsten Jahres hätten der Vater und der Onkel des Beschwerdeführers diesen aufgefordert, das Heimatland zu verlassen. Zwei Tage später habe der Beschwerdeführer das Heimatland verlassen.

Auf Nachfrage, welche Männer den Beschwerdeführer attackiert hätten, konnte der Beschwerdeführer keine Auskunft geben und wisse der Beschwerdeführer auch nicht, was diese von ihm wollen könnten.

Auf weitere Nachfrage gab der Beschwerdeführer an, dass im August auf ihn geschossen worden sei und er im Dezember durch die Waffe einen Schädelbasisbruch erlitten habe. Wie der Beschwerdeführer im Anschluss an die Verletzungen medizinisch versorgt worden sei, könne der Beschwerdeführer nicht mehr beantworten, er wisse nur, dass er zwei Spritzen bekommen habe. Die Vorfälle habe der Beschwerdeführer nicht der Polizei gemeldet.

Auf Nachfrage antwortete der Beschwerdeführer, dass sich die Vorfälle im Jahr 2014 zugetragen hätten. Das Heimatland habe er mit seiner Familie am 20. Juli 2015 verlassen. Ab dem ersten Zwischenfall habe der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise in der "XXXX" in XXXX am Stadtrand gelebt. Seine Familie sei im August nachgezogen. Der Beschwerdeführer habe während dieser Zeit von seinem Ersparten, welches er als Verwalter in der Schuhfabrik verdient habe, gelebt und habe sodann finanzielle Unterstützung von seinen Eltern erhalten.

Nach der Aufforderung der belangten Behörde, dass der Beschwerdeführer sämtliche medizinische Beweise zu seinen Verletzungen vorlegen möge, antwortete der Beschwerdeführer, dass es sich nur im Gummipatronen gehandelt habe und er die Gummipatrone selbst aus seinem Arm gezogen habe.

Letztlich gab der Beschwerdeführer an, dass seine Kinder keine eigenen Fluchtgründe hätten, er sonst im Heimatland keine Probleme gehabt habe und er nicht wisse, warum er im Heimatland gesucht werde.

In Einem legte der Beschwerdeführer eine Teilnahmebestätigung an einem "Werte- und Orientierungskurs" vom 6. April 2017, eine A1-Prüfungsbestätigung, die A2-Prüfungsbestätigung seiner Ehegattin, ein Volkschulzeugnis seinesXXXX geborenen Sohnes (Beschwerdeführer W147 2184921-1), die Heiratsurkunde in der russischen Sprache mit beglaubigter Übersetzung, die Geburtsurkunde seines XXXX geborenen Sohnes (Beschwerdeführer W147 2184923-1), Auszug aus dem Geburtseintrag, vier Unterstützungserklärungen und einen Zeitungsausschnitt mit dem Foto seiner Ehegattin bei einer gemeinnützigen Veranstaltung vor.

4. Am selben Tag wurde die Ehegattin des Beschwerdeführers (Beschwerdeführerin (W147 2184928-1) niederschriftlich einvernommen. Zu den Problemen ihres Ehegatten im Herkunftsland befragt, gab die Ehegattin im Wesentlichen an, dass der Cousin dritten Grades ihres Ehegatten im Juni 2014 nach seiner Entführung ermordet worden wäre. Im August sei der Ehegatte während eines Spazierganges von Unbekannten, nach der Frage, ob er einen "XXXX" kenne, misshandelt worden und habe man auch auf ihn geschossen. Dies wisse sie alles nur aus Erzählungen, selbst habe die Ehegattin des Beschwerdeführers keinen Vorfall mitbekommen. Ende August sei die Ehegattin samt den Kindern in die Wohnung am Stadtrand zu dem Beschwerdeführer gezogen.

Auf Nachfrage gab die Ehegattin bekannt, dass sie persönlich nicht betroffen gewesen sei, aber sich jedoch in einem Stresszustand befunden habe. Ihr Ehegatte sei im August 2014 angeschossen worden und hätte die Familie das Heimatland am 20. Juli 2015 verlassen. Am 9. Dezember habe es einen weiteren Zwischenfall mit Verletzungen ihres Ehegatten gegeben. Auch zu diesem Vorfall könne die Ehegattin nur die Schilderungen ihres Ehemannes nacherzählen. Sie selbst habe keine Probleme im Herkunftsstaat gehabt.

5. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung wurde seitens der belangten Behörde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können. Auch hätten sich zeitliche Divergenzen zwischen den Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Ehegattin erheben. So habe der Beschwerdeführer angeführt, dass er von August bis Dezember 2014 in der Wohnung außerhalb des Stadtrandes gelebt habe. Später habe der Beschwerdeführer ausgeführt, dass er bis zu seiner Ausreise in der Wohnung am Stadtrand gelebt habe. Auch sei nicht nachvollziehbar, weshalb ausgerechnet der Beschwerdeführer von den Unbekannten gesucht werde und die weiteren Familienmitglieder unbehelligt im Heimatland leben könnten. Auch spreche gegen die Vermutung eines Zusammenhangs mit der Polizei, dass auf den Beschwerdeführer mit Gummigeschossen geschossen worden sei. Weiters sei nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschwerdeführer nach dem letzten Vorfall noch so lange Zeit im Heimatland verblieben sei.

Bescheide gleichen Inhaltes ergingen auch an die Familienangehörigen des Beschwerdeführers.

6. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der "Verein Menschenrechte, Alser Straße 20/5 (Mezzanin), 1090 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

7. Mit am 29. Januar 2018 bei der belangten Behörde eingelangten Schriftsatz erhob der Beschwerdeführer fristgerecht verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen den genannten Bescheid und ficht diesen in vollem Umfang an.

Der Beschwerdeführer moniert im Wesentlichen, dass die belangte Behörde den Hinweisen des Beschwerdeführers nicht ausreichend nachgegangen sei. Weiters sei die Sicherheitslage in Dagestan instabil und wäre es dem Beschwerdeführer im Heimatland nicht möglich eine Existenz aufzubauen und habe es die belangte Behörde verabsäumt, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Die belangte Behörde hätte bei korrekter Entscheidungsfindung Asyl oder in eventu subsidiären Schutz gewähren müssen.

Der Beschwerde wurden ein Ambulanzbrief eines Krankenhauses des Beschwerdeführers vom 16. Januar 2018 sowie ein weiterer Ambulanzbrief den XXXX geborenen Sohn betreffend vom 29. Dezember 2018 beigelegt.

8. Am 14. Mai 2018 langte ein Ultraschallbefund des Beschwerdeführers vom 13. April 2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Am 17. Oktober 2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Im Zuge der Verhandlung, an welcher der rechtsfreundliche Vertreter des Beschwerdeführers sowie eine Dolmetscherin für die russische Sprache teilgenommen haben, wurde der Beschwerdeführer neuerlich zu seinen Fluchtgründen, seinem Familien- und Privatleben und allfälligen Integrationsaspekten sowie seinem Gesundheitszustand befragt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte schriftlich mitgeteilt, keinen Vertreter zu entsenden.

Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurden drei Arbeitsplatzbestätigungen der Ehegattin des Beschwerdeführers, eine Bestätigung über die Anmeldung der Ehegattin des Beschwerdeführers für den Besuch eines Abendgymnasiums, ein Befürwortungsschreiben der Bürgermeisterin einer Marktgemeinde, Arbeitsplatzbestätigungen des Beschwerdeführers, ein weiteres Unterstützungsschreiben, ein Jahreszeugnis des XXXX geborenen Sohnes des Beschwerdeführers sowie eine Urkunde des Österreichischen Judoverbandes, über eine abgelegte Prüfung desXXXX geborenen Sohnes vorgelegt.

10. Am 29. November 2018 langte eine Judo-Urkunde des XXXX geborenen Sohnes samt Foto beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, der Ergebnisse der Beschwerdeverhandlung und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Folgendes festgestellt:

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der Volksgruppe der Laken zugehörig, muslimischen Glaubens und stellte am 1. August 2015 nach illegaler Einreise in die Europäische Union den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Der Beschwerdeführer leidet an keinen chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Der Beschwerdeführer wurde am 16. Januar 2018 wegen anhaltender Schmerzen in der Brust im Krankenhaus XXXX, Abteilung für Innere Medizin, untersucht und wurden ein vertebragener Thoraxschmerz, ein bekannter Lebertumor und einen Nikotinabusus diagnostiziert.

Hinsichtlich des diagnostizierten und dem Beschwerdeführer bekannten Lebertumors wurde am 13. April 2018 ein Ultraschall durchgeführt und die nächste Sonografie-Kontrolle nach einem Jahr angeordnet.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit Juli 2015 durchgehend im Bundesgebiet. Er hat sich Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Während der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat als Verwalter in einer Schuhfabrik ein gutes Einkommen erzielte, ist er in Österreich keiner Beschäftigung nachgegangen und lebt von staatlichen Sozialleistungen (Grundversorgung), sodass zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt nicht von einer Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden kann.

Der Beschwerdeführer hat - mit Ausnahme seiner Ehegattin (Beschwerdeführerin W147 2184928-1) und den vier minderjährigen Kindern (Beschwerdeführer W147 2184927-1, W147 2184925-1, W147 2184923-1, W147 2184921-1) keine weiteren Angehörigen im Bundesgebiet. Er lebt mit seiner Gattin und den gemeinsamen Kindern in einem Haushalt und sind diese, wie der Beschwerdeführer selbst, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bedroht. Der Beschwerdeführer bezieht Grundversorgung und konnten keine nennenswerten Anknüpfungspunkte wirtschaftlicher oder sozialer Natur im Bundesgebiet festgestellt werden. Auch kann vor dem Hintergrund der Aufenthaltsdauer von keiner besonderen Verfestigung im Bundesgebiet gesprochen werden.

1.2. Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:

0. "Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

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Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

0.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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