Entscheidungsdatum
30.01.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W182 2195674-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Dr. Joachim Rathbauer, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.04.2018, Zl. 1105951506-171026625, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI.
I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I. Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2 Z 2, Abs. 9, 55 Abs. 1 - 3, 46 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und stelle nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 18.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 05.02.2014 in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.
Bei der Erstbefragung am 18.02.2016 gab der BF im Wesentlichen an, er sei im Februar 2014 aus der Ukraine über Polen nach Deutschland eingereist und habe dort einen Asylantrag gestellt, der rechtskräftig abgewiesen worden sei.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) richtete am 26.02.2016 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-Verordnung gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Deutschland. Mit einem am 01.03.2016 eingelangten Schreiben stimmte die deutsche Dublin-Behörde dem Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-Verordnung ausdrücklich zu.
Bei der Einvernahme durch das Bundesamt am 22.03.2016 gab der BF im Wesentlichen an, dass er im Dezember 2015 in Österreich eine aufenthaltsberechtigte Tschetschenin nach islamischem Recht geheiratet habe. Ein gemeinsamer Wohnsitz bestehe noch nicht.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 23.03.2016, Zl. 1105951506/160264407, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Deutschland gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-Verordnung zur Prüfung des Antrags zuständig ist, sowie die Außerlandesbringung des BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass demzufolge die Abschiebung des BF nach Deutschland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig ist.
Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.06.2016, Zl. W184 2124170-1/7E, in allen Spruchpunkten abgewiesen. Die Entscheidung wurde am 15.06.2016 durch Hinterlegung gemäß § 8 Abs. 2 ZustellG zugestellt und rechtkräftig.
Zuvor hat sich der BF einem Festnahmeversuch zur Effektuierung der Außerlandesbringung durch Untertauchen entzogen. Laut Bericht einer Polizeiinspektion vom 12.05.2016 seien die polizeilichen Festnahmeversuche an der Meldeadresse des BF sowie an der Adresse seiner Gattin (nach islamischen Recht) in XXXX ergebnislos verlaufen, wobei die Gattin gegenüber der Polizei am 11.05.2016 angegeben habe, nicht zu wissen, wo sich der BF aufhalte. Der für den 13.05.2016 geplante Überstellungsflug musste storniert werden.
2.1. Am 05.09.2017 stellte der BF im Bundesgebiet neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF begründete seinen Antrag in einer Erstbefragung am 05.09.2017 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Wesentlichen damit, dass er Anfang 2013 einen merkwürdigen Anruf von einer unbekannten Person bekommen habe, wobei er nicht gewusst habe, warum er angerufen worden sei. Kurze Zeit später sei er von den Behörden mitgenommen worden, die von dem Telefonat gewusst hätten und wissen hätten wollen, warum der BF angerufen worden sei. Danach habe sein Vater für den BF ein Visum besorgt und sei dieser ausgereist. Zu seinen Befürchtungen bei einer Rückkehr ins Herkunftsland befragt, gab der BF an, jetzt andere Probleme zu haben. Er könne nicht sagen, was passieren würde. Er wolle in Österreich bleiben. Er habe im Februar 2014 in Deutschland um Asyl angesucht und dort auch seine jetzige Frau kennen gelernt. Sie sei damals schon in Österreich gewesen und habe er sie in Österreich nach muslimischen Ritus geheiratet. In Deutschland habe der BF zwei negative Bescheide erhalten und habe man ihn abschieben wollen. Der BF sei dann nach Österreich gefahren, und habe hier um Asyl angesucht. Als der BF von einem Zimmergenossen erfahren habe, dass er für die Abschiebung behördlich gesucht werde, sei er nach XXXX gefahren. Am XXXX 2016 habe er in Österreich standesamtlich die Ehe geschlossen und sei dann nach Deutschland zurückgekehrt. Dort hätten Juristen ihm geraten, das Land zu verlassen, 6 bis 7 Monate zu warten und dann wiederzukommen. Der BF sei dann am 04.09.2017 nach Österreich gefahren. Im Herkunftsland in Tschetschenien würden sich seine Eltern sowie drei Brüder und eine Schwester aufhalten. Seine namentlich genannte Ehegattin verfüge über eine Rot-Weiß-Rote Karte plus. Im XXXX 2017 sei der gemeinsame Sohn geboren worden.
In einer Einvernahme beim Bundesamt am 25.09.2017 bestätigte der BF auf Vorhalt, sich von Februar 2014 bis zum Februar 2015 in Deutschland aufgehalten zu haben, dazwischen im September 2014 seine Ehefrau kennen gelernt zu haben, in Dezember 2015 nach Österreich zur Eheschließung nach islamischer Tradition eingereist zu sein und im Jänner 2016 wieder nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Als er erfahren habe, dass sein Asylantrag in Deutschland abgelehnt worden sei und bereits ein Abschiebungstermin vorbereitet gewesen sei, sei er im Februar 2016 nach Österreich ausgewichen und habe hier ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt, welcher vom Bundesamt abgewiesen worden sei. Nach Erhebung einer Beschwerde sei der BF untergetaucht, weshalb eine geplante Abschiebung für den 13.05.2017 storniert werden habe müssen. Im Juni 2016 habe der BF nach rechtskräftiger Entscheidung durch das Bundesveraltungsgericht standesamtlich die Ehe geschlossen. Im September 2017 habe der BF vier Tage nach Ablauf der Überstellungsfrist nach Deutschland den gegenständlichen Antrag gestellt. Der BF gab dazu, im Wesentlichen ergänzend an, dass er, als er von der geplanten Abschiebung erfahren habe, von XXXX nach XXXX gefahren sei und dort bei einem Bekannten (ohne polizeiliche Meldung) gewohnt habe. Nur für den Tag der Hochzeit im Juni 2016, wobei sie den Termin bereits im April 2016 beantragt hätten, sei er wieder nach XXXX und dann gleich wieder nach XXXX gefahren. Ende Juni 2016 sei der BF zu einem Bekannten in Deutschland gefahren, wobei ihm ein Rechtsanwalt geraten habe, 6 Monate zu warten. Am 04.09.2017 sei der BF nach Österreich zurückgekehrt. In der Zeit in Deutschland sei er täglich mit seiner Gattin über WhatsAp in Kontakt gewesen. Der BF konnte auf Nachfragen keine verwertbaren Beweismittel für seinen Aufenthalt in Deutschland seit Ende Juni 2016 dartun. Der Bekannte sei inzwischen freiwillig in die Russische Föderation zurückgekehrt.
Im Rahmen des Dublin-Konsultationsverfahren lehnte Deutschland mit Schreiben vom 14.09.2017 bzw. 11.10.2017 eine Aufnahme des BF mit der Begründung ab, dass dieser sich nicht selbst nach Deutschland überstellt habe, zumal keine Dokumente oder Nachweise dafür vorliegen würden, die belegen würden, dass der BF sich nach seinem Untertauchen in Österreich in Deutschland aufgehalten habe. Die mündlichen Angaben des BF würden kein ausreichendes Indiz dafür darstellen, um seinen Aufenthalt in Deutschland zu belegen. Die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III VO sei nach Verlängerung mit 01.09.2017 erloschen.
In einer Einvernahme beim Bundesamt am 09.04.2018 brachte der BF auf Nachfragen vor, dass er keine Fluchtgründe habe. Dazu gab er ausdrücklich an: "Ich habe keine Probleme gehabt. Mein Vater wollte, dass ich nach Europa fahre und dort bleibe. Wir haben eine große Familie und die finanzielle Situation ist nicht einfach, deshalb sagte mein Vater, dass ich hier herkommen soll, um ein besseres Leben zu haben. Ich brauchte sogar für das Visum eine finanzielle Unterstützung." Der BF verneinte ausdrücklich andere Gründe, warum er das Herkunftsland verlassen habe. Es habe auch kein spezielles fluchtauslösendes Ereignis gegeben. Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland würde ihm nichts passieren. Er könne Österreich nicht verlassen, da er hier seine Familie habe. In Österreich würden sich seine Frau und sein Sohn aufhalten. Seine Frau habe einen Daueraufenthaltstitel für Österreich und lebe hier seit 10 Jahren. Er habe sie im Juni 2016 in Österreich standesamtlich geheiratet, der Sohn sei im XXXX 2017 hier geboren worden. Seit September 2017 bestehe eine Haushaltsgemeinschaft. Der BF habe 11 Jahre im Herkunftsland die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Er habe gemeinsam mit seinen Eltern zusammen in einer Stadt in Tschetschenien gewohnt. Dort würden neben den Eltern noch drei Brüder und eine Schwester wohnen. Der BF habe jeden Tag Kontakt zu seiner Familie im Herkunftsland. Der BF habe einen Deutschkurs auf Niveau A1 abgeschlossen und einen A2 Kurs begonnen. Er sei auch in einem Sportverein. Dazu legte der BF u.a. ein entsprechendes A1 Zertifikat, Deutschkursbesuchsbestätigungen, eine Heiratsurkunde, einen im Februar 2013 ausgestellten gültigen russischen Reisepass sowie ein Unterstützungsschreiben einer Inländerin vor.
2.2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag auf internationalen Schutz des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde sein Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde festgestellt, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Entscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Vom Bundesamt wurde im Wesentlichen festgestellt, dass die Identität des BF feststehe und er an keinen schweren Krankheiten leide. Der BF sei im Herkunftsland keiner persönlichen oder staatlichen Verfolgung ausgesetzt, wobei er im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation weder einer realen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung oder Behandlung oder der Gefahr der Folter ausgesetzt sei bzw. sein Leben auch in sonstiger Weise nicht gefährdet sei. Die Einreise des BF nach Österreich sei zum Zweck der Verschaffung einer dauerhaften Niederlassung in Österreich unter Umgehung der Einreise- und Niederlassungsvorschriften erfolgt. Weiters wurden Feststellungen zum Privat- und Familienleben des BF und ausführliche Feststellungen zum Herkunftsstaat getroffen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF in der Einvernahme beim Bundesamt auf Nachfragen Fluchtgründe oder sonstige Probleme im Herkunftsland ausdrücklich verneint habe, wobei sich auch aus den getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsland grundsätzlich keine Gefährdung für den BF ableiten lasse. Im Hinblick auf das Familien- und Privatleben des BF, der in Österreich eine aufenthaltsberechtigte Person geheiratet habe, wobei aus der Ehe im XXXX 2017 ein gemeinsames Kind hervorgegangen sei, wurde in einer Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen höheres Gewicht beigemessen.
2.3. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF überdurchschnittlich integriert sei, bereits einen Integrationskurs für Deutsch Stufe A2 absolviert habe und diesbezüglich bald die Prüfung ablegen werde. Der BF habe im Juni 2016 seine Gattin in Österreich standesamtlich geheiratet und zusammen mit ihr seit Juni 2017 einen Sohn. Sowohl der Sohn als auch die Gattin seien Angehörige der Russische Föderation. Die Gattin besitze eine Aufenthaltsberechtigung in Form eines Daueraufenthaltes. Aus diesen Umständen ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung wegen Verletzung des Privat- und Familienlebens des BF unzulässig sei. Der BF wohne durchgehend seit September 2017 in Österreich. Es bestehe eine Haushaltsgemeinschaft seiner Gattin, welche sich seit mehr als 10 Jahren in Österreich aufhalte. Der BF habe einen Asylantrag in Deutschland gestellt, wobei man ihm die Auflage gemacht habe, dass er wiederum nach Deutschland zurückkehren müsse und ihm erst ab Abschluss des dortigen Asylverfahrens die Möglichkeit eingeräumt werde, wiederum zu seiner Frau nach Österreich zurückzukehren. Der BF habe angegeben, dass er keine eigenen Fluchtgründe habe. Dennoch sei nach der Rechtsprechung des EGMR klargestellt, dass er aufgrund des gemeinsamen Familienlebens mit seiner Frau und seinem Sohn ein ausgeprägtes Verhältnis und eine Nahebeziehung mit einer überaus großen Intensität habe, welche nach der Judikatur des EGMR schon alleine aufgrund des Umstandes, dass die Ehe seit beinahe zwei Jahren existent sei und auch sein Sohn bald seinen ersten Geburtstag habe, jedenfalls wesentliche, die Interessenabwägung zu seinen Gunsten ausschlagende Komponenten habe. Der BF werde aufgrund seiner fortgeschrittenen Integration alsbald eine berufliche Tätigkeit aufnehmen können. Er werde daher auch finanziell seine Frau, die sich derzeit in Karenz befinde, unterstützen können. Des weiteren werde er seiner Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn nachkommen. Spätestens bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung werde er daher eine Einstellungszusage bzw. eine Beschäftigungsbewilligung vorlegen können und werde nachweisen, dass er auch in wirtschaftlicher Hinsicht integriert sei. Dazu wurde eine mündliche Beschwerdeverhandlung sowie die Einvernahme der Gattin des BF als Zeugin beantragt.
2.4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 30.11.2018, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Befragung des BF und seiner Gattin als Zeugin in Anwesenheit ihres rechtsfreundlichen Vertreters sowie einer Dolmetscherin der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.
Der BF brachte in der Verhandlung im Wesentlichen wie bisher vor, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur wegen seiner Familie gestellt habe, da seine Gattin in Österreich sei. Er habe im Herkunftsland keine Probleme mit staatlichen Organen und/oder Privatpersonen. Der BF räumte auf Nachfragen auch ein, dass er sich - entgegen seiner bisherigen Behauptungen - nicht von Ende Juni 2016 bis Anfang September 2017 in Deutschland aufgehalten habe, sondern seit Februar 2016 durchgehend - ohne polizeiliche Meldung - in Österreich bei seiner Frau in XXXX gewohnt habe. Seine Frau sei an ihrer gemeinsamen Wohnadresse in XXXX auch nicht gemeldet gewesen. Es sei dem BF auch klar gewesen, dass die Unterlassung der polizeilichen Meldung illegal gewesen sei. Er habe dies leider so machen müssen, um in Österreich bleiben zu können. Nach Deutschland sei er aus Furcht vor einer Abschiebung ins Herkunftsland nicht zurückgekehrt. In Österreich lebe der BF von der Grundversorgung und gehe keiner legalen Erwerbstätigkeit nach. Seine Gattin sei in Karenz gewesen und beziehe Sozialhilfe. In Tschetschenien habe der BF mit seinem Vater gemeinsam auf Baustellen gearbeitet. Der BF habe im Herkunftsland 11 Jahre die Schule besucht, eine Berufsausbildung habe er nicht. Er habe eine Deutschprüfung A2 positiv abgeschlossen und besuche derzeit einen Deutschkurs B1. Seine Gattin sei seit etwa 10 Jahren in Österreich und hier inzwischen niedergelassen (Daueraufenthalt EU). Im Herkunftsland des BF halten sich seine Eltern, 3 Brüder und eine Schwester auf. Sein in Österreich geborener Sohn habe aufgrund einer Frühgeburt gesundheitliche Probleme.
Der BF konnte u.a. ein ÖIF Zeugnis über eine positiv absolvierte Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz (Niveau: A2) und zu Werte- und Orientierungswissen sowie eine Einstellungszusage einer neugegründeten Transportfirma vom 26.11.2018 als Fahrer für den Fall der Erteilung einer Arbeitsbewilligung vorlegen.
Die Gattin des BF brachte als Zeugin befragt im Wesentlichen vor, dass sie russische Staatsangehörige und seit September 2008 in Österreich aufhältig sei, wobei sie 2012 einen Aufenthaltstitel bekommen habe. Sie habe in Österreich die Hauptschule und ein polytechnisches Schuljahr abgeschlossen. Eine Berufsausbildung habe sie nicht. Zu ihrer Berufspraxis befragt gab die BF an, dass sie seit ihrer Heirat ein paar Mal als Reinigungskraft gearbeitet und Kurse besucht habe. Dazu gab sie weiters an, dass sie nur für ein Jahr - und nicht für drei Jahre - Kinderbetreuungsgeld ausgewählt habe, weil sie arbeiten gehen wolle. Sie habe eine Lehre als Köchin machen wollen. Sie habe aber damals noch nicht gewusst, dass ihr Kind so krank sei. In Österreich halten sich ihre Großeltern und ein Bruder, im Herkunftsland ihre Eltern und zwei Tanten auf. Dazu befragt, was einer Rückkehr ins Herkunftsland entgegenstehen würde, gab die Zeugin an, dass sie sich dies nicht vorstellen könne. Sie habe im Herkunftsland nur die Volksschule besucht und kenne dort nur ihre Bekannten. Außerdem gebe es dort keine Arbeit. Zur Gesundheit ihres Sohnes brachte die Zeugin vor, dass dieser mittels Kaiserschnitt zur Welt gekommen sei und seither einen Herzfehler habe sowie die Gliedmaßen hinsichtlich einer Körperhälfte kürzer ausgeformt seien, weshalb er Physiotherapie erhalte. Weiter sei im Dezember eine Hodenoperation geplant.
2.5. Mit einer Stellungnahme des rechtsfreundlichen Vertreters des BF vom 13.12.2018 wurde hinsichtlich des Sohnes des BF ein Konvolut an medizinischen Befunden vorgelegt. Dazu wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die vorgesehene Operation aufgrund eines Infektes verschoben werden müsse, wobei die Operation voraussichtlich im März 2019 stattfinde. Eine Betreuung des Sohnes des BF durch die Mutter sei bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres angezeigt. Massive Therapien seien notwendig, unter anderem regelmäßige Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie.
Den beigelegten medizinischen Befunden vom Dezember 2018 ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass der Sohn des BF an einem kleinen muskulären XXXX leide, wobei als Therapievorschlag eine Echokontrolle im März 2019 vorgeschlagen werde. Weiters weise der Sohn des BF bei männlichen Genotyp eine XXXX ( XXXX auf, wobei die für Dezember vorgesehene operative Sanierung aufgrund eines Infektes der oberen Atemwege verschoben werden habe müssen. Weiters leide der Sohn des BF a einer XXXX Erkrankung mit XXXX . Als Therapie wurde eine Weiterführung der ambulanten Physiotherapie sowie orthopädische Kontrollen vereinbart. Eine Betreuung des Kindes durch die Mutter sei bis zum zweiten Lebensjahr angezeigt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist Moslem und hält sich seit Februar 2016 in Österreich auf.
Ihm ist außerhalb des Asylverfahrens für das Bundesgebiet nie ein legaler Aufenthaltstitel zugekommen.
Der BF ist nach negativer Erledigung eines Asylantrages vom Februar 2014 in Deutschland und Vorbereitung eines Abschiebetermins illegal nach Österreich eingereist, wo er am 18.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.
Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 23.03.2016 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 wegen der Zuständigkeit Deutschlands gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-Verordnung als unzulässig zurückgewiesen und die Außerlandesbringung (nach Deutschland) ausgesprochen. Die Entscheidung wurde durchsetzbar und in weiterer Folge mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.06.2016 (zugestellt am selben Tag), Zl. W184 2124170-1/7E, rechtskräftig.
Der BF hat sich der Durchsetzung der Außerlandesbringung durch Untertauchen entzogen und jeden Behördenkontakt - bis auf eine standesamtliche Eheschließung am XXXX 2016 - bis zum Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III VO bewusst vermieden, wobei er 4 Tage nach Ablauf der Frist den gegenständlichen Antrag am 05.09.2017 im Bundesgebiet gestellt hat.
In Österreich halten sich die Gattin des BF sowie ein gemeinsames Kind auf. Beide sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Ein gemeinsamer Haushalt besteht seit 2016, wobei sowohl der BF als auch dessen Gattin bis knapp vor der neuerlichen Antragstellung eine polizeiliche Meldung an ihrer gemeinsamen Wohnadresse unterlassen haben, um eine Festnahme und Abschiebung des BF zu verhindern.
Das XXXX im Bundesgebiet geborene Kind des BF leidet aufgrund einer Frühgeburt an einem angeborenen Herzfehler, Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen. Es erhält Physiotherapie. Eine für Dezember vorgesehene Operation zur Sanierung einer XXXX musste aufgrund eines Atemwegsinfekts verschoben werden.
Der BF konnte eine positiv abgeschlossene Prüfung über Deutschkenntnisse auf Niveau A2 nachweisen. Er bezieht Grundversorgung. Er ist im Bundesgebiet keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen, konnte aber für den Fall der Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung eine Einstellungszusage vorlegen. Er ist unbescholten.
Der BF verfügt im Herkunftsland über eine mit Matura abgeschlossen Schulbildung und hat im Herkunftsland als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet. Er ist arbeitsfähig und leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Im Herkunftsland halten sich seine Eltern sowie drei Brüder und eine Schwester auf.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Der Antrag vom 05.09.2017 hat sich als unbegründet erwiesen. Der BF hat im gegenständlichen erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich individuelle Fluchtgründe und Probleme bei einer Rückkehr ins Herkunftsland verneint.
Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.
2. Zur allgemeinen Situation in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien werden folgende - dem angefochtenen Bescheid entnommene -Feststellungen getroffen:
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,
https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018
-
BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
-
Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,
https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
-
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018
-
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,
https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018
-
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
-
Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
-
Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
-
DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",
https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018
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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
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Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
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Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:
Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu
Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018
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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
Tschetschenien
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):
Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).
Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation