TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/30 W147 1437987-2

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Veröffentlicht am 30.01.2019
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Entscheidungsdatum

30.01.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

W147 1437987-2/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Dezember 2017, Zl:

643658602 / 14484431, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23. Oktober 2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. gemäß den §§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016, 8 Abs. 1 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, § 57 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, und §§ 46, 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, 55 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste gemeinsam mit ihrem Ehegatten (W147 1437988-2) und dem gemeinsamen Kind (W147 1437989-2) unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 30. August 2013 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Ehegatte der Beschwerdeführerin zu seinen Fluchtgründen befragt an, sein Cousin hätte einen Mann erschossen. In dieser Region gebe es Blutrache, egal gegen wen in der Familie. So hätte diese Blutrache auch den Ehegatten der Beschwerdeführerin und seine Familie treffen können. Er sei zunächst mit den Angehörigen am 16. August 2013 mit dem Zug von XXXX nach XXXX gefahren und wäre die Gruppe in weiterer Folge zusammen über XXXX ebenfalls am Schienenweg nach Polen gelangt. Von dort seien sie mit Unterstützung eines Schleppers nach Österreich gelangt.

Das Bundesasylamt ersuchte in weiterer Folge Polen mit E-Mail via DubliNet vom 2. September 2013 die Asylwerber wieder aufzunehmen. Polen erklärte sich mit Schreiben vom 3. September 2013 bereit, diese auf Grundlage des Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) wieder aufzunehmen und die Asylanträge zu prüfen.

Niederschriftlich vor dem Bundesasylamt am 10. September 2013 abermals einvernommen, gab die Beschwerdeführerin an, auch Mutter eines zweiten Kindes namens XXXX XXXX , geb. XXXX , zu sein. Dieses würde aktuell bei seinem Vater, dem ersten Mann, in der Heimat leben. In Tschetschenien habe sie ihr Leben lediglich mit den Einkünften von Arbeitslosengeld bestritten und hätte die Familie von Beginn an Österreich als endgültiges Reiseziel auserkoren. Im Bundesgebiet lebe zwar bereits seit geraumer Zeit ihre XXXX -jährige Schwester, aber kenne sie nicht deren Wohnadresse. Zuletzt habe sie sich im Jahre 2001 oder 2002 mit Letztgenannter einen gemeinsamen Haushalt geteilt und hätte man sich seither auch nie gegenseitig unterstützt. Irgendwelche Probleme habe die Gruppe während ihres Aufenthaltes in Polen nicht erlebt; allein ausschlaggebend für die Weiterreise von Polen nach Österreich sei ausschließlich der Entschluss ihres Gatten gewesen: "Mein Mann hat sich so entschieden. Es geht um die Blutrache. Die Personen von den gegnerischen Seiten sind Militärangehörige und können ohne weiteres nach Polen einreisen. Ich habe gehört, dass sie nicht nach Österreich einreisen können." Generell wolle man nicht mehr zurück in die Heimat.

Ebenfalls am 10. September 2013 niederschriftlich einvernommen, behauptete der Ehegatte der Beschwerdeführerin, er verfüge er über keinerlei Angehörige im Bundesgebiet. In Tschetschenien hätte er seinen Lebensunterhalt als Bauhilfsarbeiter bestritten und wäre ihm in der Heimat Österreich als zu bevorzugendes Reiseziel empfohlen worden. Probleme habe es in Polen zwar keine gegeben, aber "wollten wir so schnell wie möglich hierher."

Das Bundesasylamt hat mit Bescheiden vom 11. September 2013, Zlen.:

13 12.575 EAST West, 13 12.577 EAST West und 13 12.578 EAST West, die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz im Bundesgebiet gemäß §§ 5, 10 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 Asylgesetz 2005 zurückgewiesen sowie die Asylwerber unter einem aus dem Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

Infolge rechtzeitig erhobener Beschwerden wurde diese mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 30. Oktober 2013, S5 437.987-1/2013/4E, S5 437.988-1/2013/4E und S5 437.989-1/2013/4E, gemäß §§ 5 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 Asylgesetz 2005 abgewiesen.

2. Die rechtskräftigen Entscheidungen wurde in weiterer Folge wegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Mutter der Beschwerdeführerin nicht effektuiert.

Am 25. März 2014 stellte die Beschwerdeführerin und ihre Familienangehörigen erneut Anträge auf internationalen Schutz in Österreich, woraufhin die Asylverfahren in Österreich zugelassen wurden.

Am 19. Mai 2016 meldete sich die Beschwerdeführerin und ihre mitgereiste Familie für die freiwillige Rückkehr in ihren Herkunftsstaat an. Am 5. September 2016 reiste letztendlich nur die Mutter der Beschwerdeführerin unter Gewährung von Rückkehrhilfe freiwillig aus.

Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 19. November 2017 gab der Ehegatte der Beschwerdeführerin im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die russische Sprache eingangs an, er sei russischer Staatsbürger, gehöre der Tschetschenischen Volksgruppe an, sei moslemischen Glaubens, verheiratet und habe nunmehr zwei Kinder (W147 1437989-2 und W147 2187896-1).

Er habe einen Reisepass und einen Inlandspass. Sein Reisepass sei in Polen und hier in Österreich habe er seinen Inlandspass. Auch führe er seinen Führerschein mit, den er bereits vorgelegt habe. Weder bei Ausstellung des Reisepasses noch bei der Ausstellung des Inlandreisepasses habe es Probleme gegeben. Sein Führerschein sei im Jahre XXXX ebenfalls ohne Probleme ausgestellt worden.

Er sei gesund, habe bis dato die Wahrheit gesagt und sei alles korrekt rückübersetzt worden.

Im Herkunftsstaat habe er den Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter und Maler am Bau finanzieren können. Österreich sei das Reiseziel gewesen, da seine Freunde gut über Österreich gesprochen hätten. Seit seiner Geburt bis zur Ausreise sei er immer unter derselben Adresse XXXX , XXXX . gemeldet. Im Herkunftsstaat aufhältig seien seine Eltern, seine Schwester und sein Bruder. Seine Eltern und sein Bruder seien an selber Adresse gemeldet wie er, jedoch sei sein Bruder nunmehr auf XXXX . Seine Schwester sei verheiratet und wohne in einem anderen Dorf in Tschetschenien.

Befragt nach Problemen der Verwandten im Herkunftsstaat antwortete der Ehegatte der Beschwerdeführerin, diese hätten dieselben Probleme wie alle anderen Leute in Tschetschenien. Die Regierung mache mit den Leuten was diese wolle. Sein Bruder sei jetzt in XXXX , vor einem Monat habe er mit ihm gesprochen und er habe ihm dies bestätigt. Sonst hätten seine Verwandten keine Probleme.

Erstmals den Gedanken seinen Herkunftsstaat zu verlassen habe er ca. im Jahr 2012 gefasst. Sein letzter Arbeitstag sei ungefähr ein halbes Jahr vor seiner Ausreise gewesen, danach habe er nicht mehr gearbeitet und an seiner Meldeadresse gelebt. Davor habe er in verschiedenen Städten unter verschiedenen Adressen gewohnt. In der Stadt XXXX im Bezirk XXXX in Russland habe er schwarz auf dem Bau gearbeitet und dort gewohnt und in XXXX in Russland habe er ebenfalls gewohnt und schwarz auf dem Bau gearbeitet.

Befragt nach den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates führte der Ehegatte der Beschwerdeführerin aus, seine Familie hätte ein Blutracheproblem seit dem Jahr 1999 bis 17. Oktober 2014 gehabt. Der Gegner sei XXXX gewesen. Am 17. Oktober 2014 sei das Blutracheproblem gelöst worden und existiere dieses Problem nicht mehr. Aber es sei ein neues Problem aufgetreten, am 17. Mai 2015 sei die Polizei in schwarzer Uniform bei ihnen zu Hause gewesen und habe sein Bruder die Türe geöffnet. Die Polizei habe seinem Bruder Fotos von der Beschwerdeführerin und ihres Gatten gezeigt und nach ihrem Aufenthalt gefragt. Sein Bruder habe geantwortet, dass sie in der Russischen Föderation seien. Die Polizisten hätten aber gewusst, dass sie sich in Österreich befinden. Die Polizei habe gesagt, dass sich die Beschwerdeführerin und ihr Gatte nach ihrer Rückkehr melden müssen. Die Fotos, die die Polizei seinem Bruder gezeigt hätten, seien aus Österreich. Wo diese aufgenommen worden seien, könne der Ehegatte der Beschwerdeführerin nicht beantworten. Sein Bruder vermeinte, dass die von der Polizei in Österreich gewesen seien, weil sie "von vorne und von der Seite gemacht worden" seien. Woher die Polizei zuhause seine Fotos und die seiner Frau habe, sei für ihn ein Rätsel. Befragt, weshalb er sich zu Hause bei der Polizei melden solle, antwortete der Ehegatte der Beschwerdeführerin, dies nicht zu wissen. Seine Verwandten könnten das nicht übers Telefon erklären, weil alles von der Staatspolizei abgehört werde, das Telefon, WhatsApp, etc. Vermutlich andere Tschetschenen, die schon nachhause zurückgekehrt seien, müssten über den Ehegatten der Beschwerdeführerin und sie selbst gesprochen haben. Die Polizei sei am 7. Mai 2015 bei ihnen zu Hause gewesen, danach nicht mehr. Befragt, was genau die Polizei zum Bruder des Ehegatten der Beschwerdeführerin gesagt habe, antwortete dieser, "Sie sagten, dass wir uns melden sollen bei der Polizei, sobald wir zuhause sind. Egal wie, die Polizei erfährt so und so das wir wieder zuhause sind."

Zwei oder drei Tage später habe er von diesem Vorfall erfahren.

Befragt, weshalb sich der Ehegatte der Beschwerdeführerin dann am 19. Mai 2016 zur freiwilligen Rückkehr in sein Heimatland angemeldet habe, antwortete dieser, dass damals noch seine krebskranke Schwiegermutter in Österreich gewesen sei. Sie habe unbedingt zuhause sterben wollen. Die Ärzte hätten bestätigt, dass sie nur noch zwei oder drei Monate zu leben habe. Sie habe nicht alleine fliegen können, deshalb hätten sie sich alle zur freiwilligen Rückkehr angemeldet. Später sei die Schwiegermutter so weit gewesen, dass sie alleine geflogen sei und sei sie dann auch zwei Monate später gestorben.

3. Am selben Tag wurde die Beschwerdeführerin niederschriftlich einvernommen. Sie und die Kinder seien gesund und hätten die Kinder keine eigenen Fluchtgründe. Sie habe noch ein Kind, eine Tochter, sie sei XXXX Jahre alt und stamme aus ihrer ersten Ehe.

In ihrem Herkunftsstaat habe sie bei ihrer Mutter gewohnt und ihr Mann habe in verschiedene Städte gearbeitet. Sie habe dann geheiratet und ihre Tochter bekommen. Dann seien sie von zuhause geflüchtet. Ihr Gatte hätte immer gearbeitet, außer die letzten fünf Monate. Sie habe neun Klassen Pflichtschule abgeschlossen und danach ohne Ausbildung drei Jahre lang im Kindergarten gearbeitet. Danach habe sie fünf Kinder von zuhause aus neun Monate hindurch betreut, als Tagesmutter. Dies sei nach ihrer Scheidung gewesen. Im Jahre XXXX habe sie ihren jetzigen Mann geheiratet und nicht mehr gearbeitet. Österreich sie ihr Reiseziel gewesen.

In Österreich aufhältig seien ihre Schwester, sie sei anerkannter Flüchtling und ihr Bruder, der ebenso Asylwerber sei. Seit dem Jahr 2000 sei sie von ihrer Schwester getrennt, die damals geheiratet hätten. Sie hätten viel Kontakt wegen ihrer verstorbenen Mutter, unterstützt werde sie jedoch von dieser nicht. In ihrem Herkunftsstaat habe sie außer ihrer Tochter aus erster Ehe, mit der kein Kontakt bestehe, keine Verwandten. Ihren Vater sei im Krieg verschwunden.

Ihr Mann habe entschieden, dass sie ihren Herkunftsstaat verlassen. Er habe Probleme zuhause gehabt und entschieden, dass sie flüchten. Sie persönlich habe keine Probleme zuhause.

Befragt, weshalb sie ihren Herkunftsstaat verlassen hat, antwortete die Beschwerdeführerin, ihr Gatte habe ein Problem gehabt und deswegen sei sie mit ihm ausgereist. Sie selbst habe keine Fluchtgründe. Ihr Gatte habe Blutrache als Problem von 1999 - 2014 gehabt. Jetzt gebe es das Problem nicht mehr. Aber es gebe ein neues Problem. Die Polizei sei am 7. Mai 2015 beim Bruder des Gatten zuhause gewesen und habe diesem Fotos der Beschwerdeführerin und ihres Gatten von der Polizei hier in Österreich gezeigt. Die Fotos seien von vorne und von der Seite, dieselben die hier in Österreich gemacht worden seien. Die Polizei habe dann zu dem Bruder ihres Mannes gesagt, wenn sie zuhause seien, müssten sei sich bei der Polizei in Tschetschenien melden. Sie würden sich fragen, wie diese Fotos nach Tschetschenien kommen. Befragt, woher sie wisse, dass diese Fotos jene seien, die von der österreichischen Polizei gemacht worden seien antwortete diese, sie könne dies nicht bestätigen, aber sie hätten solche Fotos nur hier in Österreich bei der Polizei gemacht. Der Bruder ihres Mannes habe angerufen und dies erzählt. Einen weiteren Besuch der Polizei habe es nicht gegeben.

Befragt, wann der Bruder ihres Mannes sie darüber informiert hätte, antwortete die Beschwerdeführerin, circa eine Woche später. Er hätte Angst, Einzelheiten zu erzählen, weil er wisse, dass die Telefone abgehört würden. Er habe gesagt, dass die Polizei da gewesen sei und sie sich melden müssen, sobald sie zuhause sind.

Im Falle einer Rückkehr habe sie Angst um ihren Mann. Er habe nichts Kriminelles gemacht. Es habe diesen Vorfall mit der Blutrache gegeben, den es aber nicht mehr gebe. Sie würde nicht verstehen, weshalb sie sie noch suchen. Wenn ihrem Mann etwas passieren würde, könne sie ihre Kinder nicht alleine großziehen.

Befragt, weshalb die Beschwerdeführerin nach ihrer Anmeldung zur freiwilligen Rückkehr in Ihr Heimatland am 19. Mai 2016 nicht ausgereist sei, antwortete diese, dass ihre Mutter sehr krank gewesen sei und Krebs gehabt hätte. Diese habe im Heimatland sterben wollen und hätte sich die Familie entschieden, allesamt ins Heimatland zurückzukehren. Schlussendlich habe ihre Mutter gesagt, dass sie hierbleiben sollen und sei diese alleine geflogen. Eine andere tschetschenische Frau, die sich auch zur freiwilligen Rückkehr angemeldet habe, habe ihre Mutter dann begleitet.

Sie hätte weder jemals eine Anzeige bei der Polizei im Herkunftsstaat erstattet noch um Hilfe und Unterstützung bei Menschenrechtsorganisationen angesucht.

4. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung wurde seitens der belangten Behörde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Ehegatte der Beschwerdeführerin eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können. Die Beschwerdeführerin habe keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht und sich auf dessen Fluchtgründe bezogen. Es habe sich nicht feststellen lassen, dass der Ehegatte der Beschwerdeführerin oder diese selbst in der Russischen Föderation einer individuellen Verfolgung maßgeblicher Intensität aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung durch die staatlichen Organe ausgesetzt gewesen oder im Fall Ihrer Rückkehr ausgesetzt sein werde. Es gebe auch keine Anhaltspunkte auf das Vorliegen von Gefahren, welche die Erteilung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden.

Bescheide gleichen Inhaltes ergingen auch an die Familienangehörigen der Beschwerdeführerin.

5. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom selben Tag wurde der Beschwerdeführerin für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der "Verein Menschenrechte, Alser Straße 20/5 (Mezzanin), 1090 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

6. Mit am 12. Februar 2018 bei der belangten Behörde eingelangten Schriftsatz erhob die Beschwerdeführerin, nunmehr vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48, 1170 Wien, fristgerecht verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen den genannten Bescheid und ficht diesen wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang an. In Einem erhoben auch sämtliche andere Familienangehörige Beschwerden.

Die Beschwerdeführerin moniert im Wesentlichen, dass es die belangte Behörde verabsäumt habe, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Die belangte Behörde hätte bei korrekter Entscheidungsfindung Asyl oder in eventu subsidiären Schutz gewähren müssen. Eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative habe die belangte Behörde weder vorschlagen können, noch ergebe sich eine derartige aus der Berichtslage.

Vorgelegt wurden mit der Beschwerde:

* Röntgenbefund des Ehegatten der Beschwerdeführerin der Lendenwirbelsäule vom 11. November 2014

* Zwei Bestätigungen über eine absolvierte Deutsch A1 Prüfung der Beschwerdeführerin

* Terminbestätigung an einer gynäkologischen Ambulanz die Beschwerdeführerin betreffend

* Kurarztbericht die Beschwerdeführerin betreffend sowie weitere Befunde und Überweisungen

* MR-Befund und Laborbefund der Tochter der Beschwerdeführerin samt weiteren ärztlichen Bestätigungen und Krankenanstalten-Aufenthaltsbestätigungen

* Fünf Empfehlungsschreiben

7. Am 23. Oktober 2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Im Zuge der Verhandlung, an welcher der rechtsfreundliche Vertreter der Beschwerdeführerin sowie eine Dolmetscherin für die russische Sprache teilgenommen haben, wurde die Beschwerdeführerin neuerlich zu ihren Fluchtgründen, Familien- und Privatleben und allfälligen Integrationsaspekten sowie Gesundheitszustand befragt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte schriftlich mitgeteilt, keinen Vertreter zu entsenden.

Im Zuge der Verhandlung gaben die Beschwerdeführerin und ihr Gatte an, dass sie für ihr nachgeborenes Kind (W147 2211114-1) vor ca. einer Woche einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht hätten.

8. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 7. November 2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des nachgeborenen Kindes gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen das nachgeborene Kind eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des nachgeborenen Kindes gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht ebenfalls Beschwerde im Familienverfahren erhoben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, der Ergebnisse der Beschwerdeverhandlung und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Folgendes festgestellt:

1.1. Die Beschwerdeführerin, deren Identität feststeht, ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, Gattin des Beschwerdeführers zu W147 1437988-2sowie Mutter der minderjährigen Beschwerdeführer zu W147 1437989-2, W147 2187896-1 und W147 2211114-1.

Die Beschwerdeführerin reiste im August 2013 in die Europäische Union und stellte am 25. März 2014 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin ihren Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefe, in ihrem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Die Beschwerdeführerin leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Die Beschwerdeführerin befindet sich seit dem Jahre 2013 durchgehend im Bundesgebiet. Sie hat sich lediglich Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Während die Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat vor der Geburt ihres ersten Kindes arbeitete, ist sie in Österreich keiner Beschäftigung nachgegangen und lebt von staatlichen Sozialleistungen (Grundversorgung), sodass nicht von einer Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden kann.

Die Beschwerdeführerin hat - mit Ausnahme ihres Gatten und den gemeinsamen minderjährigen Kindern, deren Beschwerden mit heutigem Tag ebenfalls als unbegründet abgewiesen wurden, keine Angehörigen im Bundesgebiet, mit denen sie in einem gemeinsamen Haushalt lebt oder zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Zu ihrer aufenthaltsberechtigten Schwester bestehen weder ein Abhängigkeitsverhältnis noch ein gemeinsamer Haushalt. Im Falle der Beschwerdeführerin konnten keine nennenswerten Anknüpfungspunkte wirtschaftlicher oder sozialer Natur im Bundesgebiet festgestellt und kann trotz der Aufenthaltsdauer von keiner besonderen Verfestigung im Bundesgebiet gesprochen werden.

Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:

0. "Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

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Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

0.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

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IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlan

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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