Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Jänner 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Holzer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Haki B***** wegen des Vergehens des Betruges nach § 146 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 30 U 69/17m des Bezirksgerichts Favoriten, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 20. Oktober 2017, AZ 132 Ns 374/17z (ON 10 der U-Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, zu Recht erkannt:
In der Strafsache AZ 30 U 69/17m des Bezirksgerichts Favoriten verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 20. Oktober 2017, AZ 132 Ns 374/17z, § 37 Abs 3 StPO.
Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird in der Sache selbst der Beschluss gefasst:
Spruch
Für die Durchführung des Strafverfahrens ist das Bezirksgericht Lilienfeld zuständig.
Text
Gründe:
Mit beim Bezirksgericht Lilienfeld eingebrachtem Strafantrag vom 1. März 2016 (ON 22 in ON 28 in ON 5) legt die Staatsanwaltschaft Haki B***** eine als Vergehen des Betruges nach § 146 StGB beurteilte Tat zur Last, die dieser am 24. Oktober 2014 im Sprengel jenes Gerichts begangen haben soll. Am 18. März 2016 verfügte dieses, dem Akt eine Strafregisterauskunft über den Angeklagten anzuschließen; am 19. März 2016 beraumte es die Hauptverhandlung an, indem es Verfügungen gemäß § 455 Abs 1 iVm § 221 Abs 1 StPO traf (ON 1 S 5 in ON 28 in ON 5).
Demselben Angeklagten werden mit beim Bezirksgericht Wiener Neustadt eingebrachtem Strafantrag vom 11. Mai 2016 (ON 11 in ON 5) am 9. Oktober 2014 und am 29. Dezember 2015 im Sprengel jenes Gerichts gesetzte, als jeweils ein Vergehen des Betruges nach § 146 StGB, der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und der Urkundenfälschung nach § 223 Abs 2 StGB beurteilte Verhaltensweisen angelastet. Am 17. Juni 2016 beraumte das Bezirksgericht Wiener Neustadt im darüber geführten Verfahren – durch Verfügungen gemäß § 455 Abs 1 iVm § 221 Abs 1 StPO – die Hauptverhandlung an (ON 1 S 3 in ON 5).
Am 27. September 2016 verfügte das Bezirksgericht Lilienfeld „gem. § 37 StPO“ die „Abtretung“ des bei ihm geführten Verfahrens an das Bezirksgericht Wiener Neustadt (ON 1 S 7 verso in ON 28 in ON 5), welches am 30. September 2016 die Verbindung jenes Verfahrens mit dem bei ihm selbst anhängigen verfügte (ON 1 S 5 verso in ON 5).
Mit dem weiteren, beim Bezirksgericht Wiener Neustadt eingebrachten Strafantrag vom 1. Juni 2017 (ON 4) legt die Staatsanwaltschaft demselben Angeklagten ein „seit 1. 11. 2013“ „in Wr. Neustadt“ gesetztes, als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last. Mit „Beschluss“ (richtig Verfügung – RIS-Justiz RS0129801, RS0130527) vom 16. Juni 2017 verband das Bezirksgericht Wiener Neustadt die (nunmehr) beiden bei ihm anhängigen Verfahren und überwies die (solcherart vereinigte) Sache dem Bezirksgericht Favoriten „gem. §§ 36 Abs 3, 37 Abs 2 StPO“ mit dem Hinweis: „Wohnsitz des Angeklagten am 1. 11. 2013 in 1100 Wien; Tatort nach § 198 StGB somit Wien 10.“ (ON 1 S 1 verso f).
Nach Rückmittlung durch das Bezirksgericht Favoriten „unter Hinweis auf § 37 Abs 3 StPO (neu!)“ (ON 1 S 5) verfügte das Bezirksgericht Wiener Neustadt – obwohl es zugleich erneut den „Beschluss“ fasste, die Sache dem Bezirksgericht Favoriten zu überweisen (ON 9) – gemäß § 38 dritter Satz StPO die Vorlage der Akten an das (gemeinsam übergeordnete) Oberlandesgericht Wien (ON 1 S 7).
Mit Beschluss vom 20. Oktober 2017, AZ 132 Ns 374/17z, sprach das Oberlandesgericht aus, dass die Führung des Strafverfahrens dem Bezirksgericht Favoriten zukomme. Nach der Aktenlage sei die als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB beurteilte – fallbezogen früheste – Tat im Sprengel des Bezirksgerichts Favoriten begangen worden, sodass gemäß § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO dieses Gericht zur Führung des (gesamten) Verfahrens zuständig sei. § 37 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO (idF BGBl I 2016/121) finde im bezirksgerichtlichen Verfahren – mangels Eintritts der Rechtswirksamkeit der Anklage – keine Anwendung (ON 10).
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht dieser Beschluss mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 37 Abs 3 erster Halbsatz StPO (idgF BGBl I 2016/121) sind die Verfahren zu verbinden, sofern zu dem Zeitpunkt, zu dem die Anklage rechtswirksam wird, ein (weiteres) Hauptverfahren gegen den Angeklagten anhängig ist. Die Zuständigkeit des Gerichts bestimmt sich (auch) in diesem Fall nach § 37 Abs 1 und Abs 2 StPO mit der Maßgabe, dass das Verfahren im Fall des § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO dem Gericht zukommt, bei dem die Anklage zuerst rechtswirksam geworden ist (§ 37 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO).
Die Verbindung zweier konnexer Verfahren gemäß § 37 Abs 3 StPO (zur Reichweite Oshidari, WK-StPO § 37 Rz 7 und 8) setzt voraus, dass beide Anklagen rechtswirksam sind (RIS-Justiz RS0123444). Für die Zuständigkeit zur Verbindung und Führung beider Verfahren kommt es in der von § 37 Abs 3 zweiter Halbsatz iVm § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO bedachten Konstellation – anders als nach alter Rechtslage (vor BGBl I 2016/121) – zusätzlich darauf an, bei welchem Gericht zuerst eine der beiden Anklagen rechtswirksam wurde: Dieses Gericht ist, wenn im Verhältnis der zu verbindenden Verfahren § 37 Abs 2 zweiter Satz StPO anzuwenden wäre, zuständigkeitsbegründend „zuvorgekommen“. In die Zuständigkeit welches Gerichts „die frühere Straftat fällt“ (§ 37 Abs 2 zweiter Satz StPO), ist dann (gerade) nicht mehr maßgeblich (vgl EBRV 1300 BlgNR XXV. GP 4).
§ 37 Abs 3 StPO gilt auch im Verfahren vor dem Bezirksgericht (Oshidari, WK-StPO § 37 Rz 7/1). Eine Rechtswirksamkeit der Anklage (als Voraussetzung für die „Einleitung und Durchführung“ des Hauptverfahrens) normiert § 4 Abs 2 StPO – lege non distinguente – nicht nur für das kollegialgerichtliche Verfahren, sondern auch für das Verfahren vor dem Einzelrichter (des Landesgerichts oder des Bezirksgerichts). Soweit § 37 Abs 3 StPO die Rechtswirksamkeit der Anklage voraussetzt, gibt daher auch im bezirksgerichtlichen Verfahren ebendiese den Ausschlag (11 Ns 29/18f, EvBl 2018, 1022; 11 Ns 35/18p; anders, nämlich insoweit auf den Zeitpunkt der Einbringung des Strafantrags abstellend noch 15 Ns 104/15k [zu § 37 Abs 3 StPO idF BGBl I 2004/19], 14 Ns 75/17s und 11 Os 159/17t).
Im bezirksgerichtlichen Verfahren tritt die Rechtswirksamkeit der Anklage mit dem positiven (ie die Prozessvoraussetzungen bejahenden) Abschluss einer amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags ein. Sie findet dort jedoch – anders als im kollegialgerichtlichen Verfahren (§ 213 Abs 4, Abs 5 und § 215 Abs 6 StPO) – keinen beschlussförmigen Ausdruck, sondern zeigt sich erst im darauffolgenden Akt der Einleitung des Hauptverfahrens (Wiederin, WK-SPO § 4 Rz 63 ff [insbesondere Rz 73]).
Die Einleitung des Hauptverfahrens (§ 4 Abs 2 StPO) geschieht im bezirksgerichtlichen Verfahren durch die Anordnung der Hauptverhandlung (§ 450 StPO). Unter dieser Anordnung wird jedes Verhalten des Gerichts verstanden, das die Bejahung der Prozessvoraussetzungen unmissverständlich erkennen lässt. Dies trifft auf jede Entscheidung zu, deren Ergebnis keines nach § 450 erster Satz StPO (beschlussförmiger Ausspruch sachlicher Unzuständigkeit), § 451 Abs 2 StPO (beschlussförmige Verfahrenseinstellung) oder § 38 StPO (Wahrnehmung der eigenen örtlichen Unzuständigkeit nach § 36 Abs 3, Abs 5; § 37 Abs 1, Abs 2 StPO) ist, also jeder contrarius actus dazu (vgl Oshidari, WK-StPO § 37 Rz 7/1).
In diesem Sinn ist von Rechtswirksamkeit eines Strafantrags auszugehen, wenn das damit angerufene Bezirksgericht – anstatt seine (allfällige) Unzuständigkeit sogleich wahrzunehmen – die Hauptverhandlung „ausschreibt“ (vgl § 221 Abs 1 StPO), sonstige Verfügungen zu deren Vorbereitung trifft oder (auch nur) die Verbindung des Verfahrens über diesen Strafantrag mit jenem über einen anderen Strafantrag verfügt. Denn diese Verfügungen bringen zum Ausdruck, dass das betreffende Gericht zuvor die Prozessvoraussetzungen (§ 450 erster Satz, § 451 Abs 2 StPO; örtliche Zuständigkeit nach § 36 Abs 3, Abs 5; § 37 Abs 1, Abs 2 StPO) – isoliert, also noch ohne Rücksicht auf eine erst danach gebotene Verfahrensverbindung (§ 37 Abs 3 StPO) – für das bei ihm selbst anhängig gemachte Hauptverfahren bejaht hat. Eine solche Verfügung ist daher als „Anordnung“ der Hauptverhandlung aufzufassen (zum Ganzen abermals 11 Ns 29/18f, RIS-Justiz RS0132157).
Im Gegenstand wurden durch die sukzessive Einbringung mehrerer Strafanträge gegen ein und denselben Angeklagten ebenso viele subjektiv konnexe Hauptverfahren anhängig (§ 37 Abs 3 StPO).
Da einer dieser Strafanträge (nämlich jener vom 1. Juni 2017) nach dem 1. Jänner 2017 rechtswirksam wurde (siehe unten), bestimmt sich die Zuständigkeit des Zusammenhangs – insgesamt – nach § 37 Abs 3 StPO in der (seit diesem Zeitpunkt) geltenden Fassung BGBl I 2016/121 (§ 514 Abs 35 dritter Satz StPO).
Alle betroffenen Verfahren fallen in die sachliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts, ohne dass Anhaltspunkte für eine Sonderzuständigkeit ersichtlich wären; ein vorläufiger Rücktritt von der Verfolgung besteht (und bestand) in keinem dieser Verfahren. Da § 37 Abs 2 erster Satz StPO somit zu keinem Ergebnis führt, § 37 Abs 2 vierter Satz StPO nicht eingreift und § 37 Abs 2 dritter Satz StPO (der im bezirksgerichtlichen Verfahren übrigens ohnedies keine Anwendung findet – RIS-Justiz RS0129078) im Fall des § 37 Abs 3 StPO von vornherein außer Betracht zu bleiben hat (RIS-Justiz RS0128993), liegt ein „Fall des Abs 2 zweiter Satz“ (§ 37 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO) vor.
Bei Rechtswirksamkeit aller betroffenen Strafanträge (als Voraussetzung für eine Verbindung der darüber geführten Verfahren) gemäß § 37 Abs 3 StPO ist daher jenes Bezirksgericht zur gemeinsamen Verfahrensführung zuständig, bei dem die Anklage zuerst rechtswirksam wurde.
Zuerst rechtswirksam geworden ist die Anklage
– vorliegend – beim Bezirksgericht Lilienfeld. Hat doch dieses, nachdem der Strafantrag vom 1. März 2016 bei ihm eingebracht worden war, noch vor dem Eintritt der Rechtswirksamkeit eines der weiteren Strafanträge die Hauptverhandlung angeordnet (§ 450 StPO), indem es (zu deren Vorbereitung) am 18. März 2016 die Beischaffung einer Strafregisterauskunft verfügte (ON 1 S 5 in ON 28 in ON 5).
Die Rechtswirksamkeit der weiteren (nachfolgend gegen denselben Angeklagten eingebrachten) Strafanträge trat zu späteren Zeitpunkten ein; sie kam durch folgende – jeweils als Anordnung der Hauptverhandlung (§ 450 StPO) aufzufassende – Entscheidungen des Bezirksgerichts Wiener Neustadt zum Ausdruck: Jene des Strafantrags vom 11. Mai 2016 durch die „Ausschreibung“ der Hauptverhandlung am 17. Juni 2016 (ON 1 S 3 in ON 5) und jene des Strafantrags vom 1. Juni 2017 durch die Verfügung, das mit seiner Einbringung begonnene Hauptverfahren mit dem (bei demselben Gericht) bereits anhängigen Hauptverfahren zu verbinden, am 16. Juni 2017 (ON 1 S 1 verso f).
Daraus folgt, dass (1.) die Verbindung der Hauptverfahren § 37 Abs 3 erster Halbsatz StPO entsprach und (2.) das Bezirksgericht Lilienfeld – kraft
Zuvorkommens – gemäß § 37 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO für das gesamte Verfahren zuständig ist, ohne dass es noch darauf ankäme, in die Zuständigkeit welches Bezirksgerichts die frühere Straftat (§ 37 Abs 2 zweiter Satz iVm § 36 Abs 3 StPO) fällt.
Die Sache – gerade darauf abstellend – dem Bezirksgericht Favoriten zuzuweisen war demnach verfehlt.
Da nicht auszuschließen ist, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten wirkt (vgl RIS-Justiz RS0053573, RS0108369), sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
Textnummer
E124186European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0110OS00148.18A.0129.000Im RIS seit
06.03.2019Zuletzt aktualisiert am
06.03.2019