Kopf
Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen hat durch den Senatspräsidenten Dr.Bott (Vorsitz), die Richterin Dr.Kraschowetz-Kandolf, den Richter Dr.Deu sowie die fachkundigen Laienrichter Maga.Grübler (Arbeitgeber) und Maga.Mössler (Arbeitnehmer) als weitere Senatsmitglieder in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *****, Graz, *****, im Berufungsverfahren nicht vertreten, gegen die A***** U*****, pA *****, vertreten durch ihre Angestellten *****, wegen Versehrtenrente, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 19.September 2018, 24 Cgs 39/18t-12, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die Revision ist nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 17.April 1960 geborene Kläger erlitt am 13.Juli 2000 einen Arbeitsunfall, bei welchem er sich eine Abrissfraktur des großen Rollhöckers am Oberarm rechts, einhergehend mit einer Verletzung der Sehne des Obergrätenmuskels zuzog. Wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalls wurde dem Kläger mit Bescheid der Beklagten vom 20.März 2001 nach Beendigung der unfallbedingten völligen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 19.Februar bis 31.August 2001 eine 20%ige vorläufige Versehrtenrente in Form einer Gesamtvergütung gewährt. Das gegen diesen Bescheid zu GZ 32 Cgs 144/01t des Erstgerichts geführte Verfahren endete mit Klagsabweisung.
Mit Bescheid der Beklagten vom 27.Mai 2003 wurde dem Antrag des Klägers vom 25.Februar 2002 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente für die Folgen des genannten Arbeitsunfalles stattgegeben und dem Kläger für die Zeit vom 25.Februar bis 25.Mai 2002 eine 40%ige Dauerrente sowie vom 26.Mai 2002 bis 30.März 2005 die Vollrente zuerkannt, ein weiterer Rentenanspruch ab 31.März 2003 jedoch abgelehnt, da ab diesem Zeitpunkt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenbegründenden Ausmaß nicht mehr vorlag.
Das dagegen diesen Bescheid zu 32 Cgs 136/03v des Erstgerichts vom Kläger angestrengte Verfahren endete mit rechtskräftiger Klagsabweisung mit Urteil vom 9.März 2004 (ON 11). Grundlage für diese Entscheidung bildete das Gutachten Dris.***** vom 9.Jänner 2004 (ON 7), in welchem festgehalten wird, dass beim Kläger die OP-Narben im Bereich des rechten Schultergelenkes reizlos sind, die Beweglichkeit mittelgradig eingeschränkt ist, keine Atrophie der Armmuskulatur rechts besteht, die Hohlhandbeschwielung seitengleich ausgeprägt ist, die grobe Kraft rechts nur angedeutet vermindert ist und der Nacken- und Schürzengriff mit dem rechten Arm erschwert dargestellt wird. Der Bewegungsumfang der linken Schulter wurde mit S 30/0/145°, F 160/0/30°, R 45/0/15° festgehalten. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit wurde ab 31.März 2003 mit 10 % eingestuft.
Beim Vorwärtsheben und Seitwärtsheben des Armes bis zu 45° oder 50° wäre die unfallbedingte Minderung zu diesem Zeitpunkt jedoch mit 30 % oder mehr einzuschätzen gewesen.
Der klinische Untersuchungsbefund des Klägers vom 15.Mai 2018 zeigt im Bereich des rechten Schultergelenks eine am AC-Gelenk beginnende, nach medial konvex nach vorne auslaufende Narbe, die bland ist und funktionell nicht behindernd. Das Vorwärtsheben der Schulter rechts gelingt bis zu einem Winkel von 90°. Dann schießen beim Kläger Schmerzen ein und er muss den rechten Arm mit der linken Hand unterstützen. Das Seitwärtsheben des rechten Armes gelingt bis zu 80°. Die Rotation ist um die Hälfte eingeschränkt. Die Impingement- und Rotatorenmanschettenzeichen sind angedeutet positiv; im Seitenvergleich zeigt sich eine Abschwächung der groben Kraft. Der Bewegungsumfang der (richtig:) rechten Schulter zeigt in S 20/0/90° in F 80/0/20° und R 40/0/90°.
Unfallkausal resultieren Funktionseinschränkungen im Sinne einer eingeschränkten Beweglichkeit des Schultergelenks rechts zu links im Seitenvergleich. Bewegungs- und belastungsabhängige Beschwerden sind medizinisch nachvollziehbar. Des weiteren findet sich eine Abschwächung der groben Kraft beim Vorwärts- und Seitwärtsheben des rechten Armes sowie bei der Außenrotation. Zusammenfassend ergibt sich ab 3.November 2017 aus dem Arbeitsunfall vom 13.Juli 2000 eine kausale Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 20 %. Im Vergleich zum Vorbefund Dris.***** findet sich eine deutliche Verbesserung der Bewegungsumfänge im Schultergelenk rechts, wobei die Muskelumfangmaße nach wie vor seitengleich ausgebildet sind.
Mit Bescheid vom 23.Jänner 2018 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 3.November 2017 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 13.Juli 2000 ab. Im Zustand der Unfallfolgen sei keine wesentliche Änderung eingetreten.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab Antragstellung gerichteten Klage. In seinem Zustand habe sich eine nachhaltige Verschlechterung eingestellt. Die Schmerzen hätten an Intensität stark zugenommen, der rechte Schulter-Arm-Bereich sei derzeit für nahezu keine Tätigkeiten mehr geeignet.
Die Beklagte beantragt Klagsabweisung unter Aufrechterhaltung ihres im Bescheid eingenommenen Standpunktes. Es würden erhebliche Zweifel an der Bewegungseinschränkung im Bereich der rechten Schulter des Klägers bestehen. Auch hätten in jüngster Zeit keine ärztlichen Konsultationen, die auf einen entsprechenden Leidensdruck schließen lassen würden, stattgefunden. Demnach bestehe unfallkausal keine Minderung der Erwerbsfähigkeit.
Mit dem angefochtenen Urteil stellt das Erstgericht das auf Gewährung der Versehrtenrente gerichtete Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend fest und erlegt der Beklagten für die Zeit ab 3.November 2017 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von EUR 100,00 monatlich auf.
Es meint auf der Grundlage des eingangs wiedergegebenen und zur Gänze unstrittigen Sachverhalts rechtlich, wesentliche Änderungen seien sowohl zugunsten als auch zu Lasten des Versicherten zu berücksichtigen. Im Leidenszustand des Klägers sei eine wesentliche Änderung eingetreten. In Wahrheit habe die Minderung der Erwerbsfähigkeit zum Zeitpunkt des maßgeblichen Vorbefundes zumindest 30 % der Vollrente betragen. Da sich die Bewegungsumfänge (gemeint: Im Bereich der verletzten rechten Schulter) deutlich verbessert hätten, betrage die Minderung der Erwerbsfähigkeit nunmehr 20 % der Vollrente, was eine wesentliche Besserung im Sinne des § 183 Abs 1 ASVG bedeute und zu einer Neufeststellung der Rente führe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung der angefochtenen Entscheidung in Klagsabweisung.
Der Kläger hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Die Berufung ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Unter dem einzigen Anfechtungsgrund macht die Beklagte im Wesentlichen geltend, eine frühere unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit könne nicht über § 183 Abs 1 ASVG korrigiert werden, was auch im Falle einer zu niedrigen Einschätzung gelte. Im Vorgutachten habe Dr.***** die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers mit 10 % bemessen, weshalb ausgehend von dem nun im Gutachten Dris.***** festgestellten Bewegungsumfang eine Verbesserung vorliege, die jedoch nicht zur Gewährung einer Versehrtenrente ausgehend von einer 20 %igen Minderung der Erwerbsfähigkeit führen könne.
Das Berufungsgericht vermag sich dieser Argumentation nicht anzuschließen.
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 183 Abs 1 ASVG liegt nach ständiger höchstgerichtlicher Judikatur dann vor, wenn sich der körperliche oder geistige Zustand und dadurch der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert haben, wobei die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Gewährungsbescheides mit denen des Entziehungsbescheides zu vergleichen sind. Damit ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrundelag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufeststellung der Rente im Wege steht (RIS-Justiz RS0084226, RS0084151).
Daraus folgt, dass der Unfallversicherungsträger bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgebend waren, auf Antrag oder von Amts wegen die Rente „neu festzustellen“ (das heißt zu erhöhen, herabzusetzen oder zu entziehen) hat. Eine Neufeststellung der Rente setzt damit in allen Fällen eine wesentliche Änderung der Verhältnisse voraus. Eine solche liegt jedoch unter anderem nur dann vor, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens zehn von hundert gemindert wird oder durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt. Unter Rechtskraftgesichtspunkten kann von einer Änderung der Verhältnisse nur dann gesprochen werden, wenn sich der Sachverhalt, also die Befundlage und nicht bloß die Schlussfolgerungen aus der Befundlage, geändert hat. Wurde eine Dauerrente einmal festgestellt, dann können seinerzeitige Fehleinschätzungen, betreffend das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit, nicht im Wege einer Neufeststellung korrigiert werden (zuletzt 10 ObS 57/18g, 10 ObS 87/16s mzwN).
Liegt eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vor, muss eine ursprünglich unrichtige Einschätzung (mangels einer weiterbestehenden Rechtskraftwirkung) nicht fortgeschrieben werden, sondern es kann die aktuelle (richtige) Einschätzung der neuen Entscheidung zugrundegelegt werden. Eine unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der rechtskräftigen Vorentscheidung bildet grundsätzlich keinen Anlass für eine Neueinschätzung, und zwar unabhängig davon, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit in der früheren Entscheidung zu hoch oder zu niedrig eingeschätzt wurde (10 ObS 145/12i mwN). Die unrichtige Einschätzung könnte nur dann von Bedeutung sein, wenn eine Besserung oder Verschlechterung des Zustands tatsächlich eingetreten ist (RIS-Justiz RS0084151 [T 1]).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Ausgehend davon, dass nach den Ausführungen des unfallchirurgischen Sachverständigen Dr.***** die medizinische Einschätzung der unfallskausalen Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers im Jahr 2003 auf einer drastischen Fehleinschätzung durch den damaligen Sachverständigen Dr.***** beruhte, und zwischenzeitig eine maßgebliche Zustandsverbesserung durch Zunahme des Bewegungsumfangs in der verletzten Schulter eingetreten ist, die jedoch nach wie vor mit 20 % das berentungsfähige Ausmaß erreicht, kann sich die damalige Fehleinschätzung nicht zum Nachteil des Klägers auswirken. Dies führt zwar zu dem auf den ersten Blick schwer nachvollziehbaren Ergebnis, dass nun trotz Zustandsverbesserung im Vergleich zum Vorbefund ein damals nicht gegebener Rentenanspruch auflebt bzw entsteht, jedoch ist dieses Ergebnis im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur sachgerecht. So hat der Oberste Gerichtshof zu 10 ObS 87/16s, ebenfalls eine Versehrtenrente betreffend, ausgeführt, dass man zu einem schwer vertretbaren Ergebnis gelangte, würde ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 von 100 der Vollrente zu Recht gewährt worden ist, bei einer geringfügigen Verbesserung des Zustandes die Entziehung der Rente in Kauf nehmen müssen, während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 von 100 die (aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte) Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte. Umgekehrt muss dies nach Auffassung des Berufungsgerichts in gleicher Weise gelten. So musste der Kläger in den letzten Jahren aufgrund der von ihm hingenommenen Fehleinschätzung die Nichtgewährung einer Versehrtenrente trotz erheblicher Unfallfolgen in Kauf nehmen, wobei es nicht einzusehen wäre, dass dies auch weiterhin Geltung haben soll, obwohl trotz Zustandsveränderung im Sinne einer wesentlichen Verbesserung die verbliebenen Folgen noch immer das berentungsfähige Ausmaß erreichen und damit die Zuerkennung einer Versehrtenrente rechtfertigen.
Im Sinne dieser Grundsätze erweist sich die angefochtene Entscheidung als zutreffend, weshalb der Berufung ein Erfolg zu versagen ist.
Eine Kostenentscheidung entfällt mangels Kostenverzeichnung.
Mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO besteht für eine Revisionszulassung kein Anlass. Die hier maßgebliche Frage, ob im Falle einer in der Vergangenheit erfolgten Fehleinschätzung im Zustand der Unfallfolgen (zu Lasten des Versehrten) trotz wesentlicher Zustandsverbesserung die Zuerkennung einer Versehrtenrente (zugunsten des Versehrten) in Betracht kommt, scheint nach den dargestellten Grundsätzen der höchstgerichtlichen Judikatur geklärt.
Oberlandesgericht Graz, Abteilung 6
Textnummer
EG00160European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OLG0639:2019:0060RS00001.19T.0117.000Im RIS seit
05.03.2019Zuletzt aktualisiert am
05.03.2019