TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/18 W228 2203532-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.01.2019
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Entscheidungsdatum

18.01.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W228 2203532-1/7E

W228 2203533-1/7E

W228 2203534-1/8E

W228 2203536-1/7E

W228 2203537-1/7E

W228 2203538-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX 1993 (BF1), 2. XXXX , geboren am XXXX 1989 (BF2), 3. XXXX , geboren am XXXX 2008 (BF3), 4. XXXX , geboren am XXXX 2012 (BF4), 5. XXXX , geboren am XXXX 2013 (BF5) und 6. XXXX , geboren am XXXX 2015 (BF6), alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, BF3 bis BF6 vertreten durch den Vater XXXX als gesetzlicher Vertreter, alle vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.07.2018, Zlen XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.01.2019 zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

Die BF1 und der BF2 sind illegal in die Republik Österreich eingereist und haben am 08.01.2016 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Gleichzeitig wurde jeweils ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF3, am XXXX 2008 geborenes Kind der BF1 und des BF2, für die BF4, am XXXX 2012 geborenes Kind der BF1 und des BF2, für den BF5,

am XXXX 2013 geborenes Kind der BF1 und des BF2, sowie für den BF6,

am XXXX 2015 geborenes Kind der BF1 und des BF2, gestellt.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 08.01.2016 gab die BF1 an, dass sie Afghanistan als Kind mit ihrer Familie verlassen habe. Ihre Angehörigen würden allesamt im Iran leben. Sie und ihr Mann seien Analphabeten und sie wünsche sich für ihre Kinder ein besseres Leben.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 08.01.2016 gab der BF2 an, dass er im Iran 13 Jahre lang Holzkohle angefertigt habe. Er habe Atemprobleme bekommen und dürfe diesen Beruf nicht mehr ausüben. Außerdem hätten sie im Iran keine Dokumente gehabt und hätten seine Kinder keine Zukunft im Iran. Da die Grenzen offen seien, hätten sie sich entschlossen, nach Europa zu reisen, damit die Kinder hier eine Schule besuchen und einen Beruf erlernen können.

Die BF1 wurde am 09.03.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie an, dass sie sich an Afghanistan nicht mehr erinnern könne. Als die Taliban dort gewesen seien, habe ihr Vater entschieden, dass die Familie das Land verlasse. Seitdem sei sie nicht mehr dort gewesen und habe im Iran gelebt. Sie habe keine Angehörigen mehr in Afghanistan. Zu ihrem Fluchtgrund befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, dass ihre Eltern Afghanistan einst wegen der Taliban verlassen hätten. Sie hätten in der Folge allesamt im Iran gelebt, wo die BF1 ihren Mann geheiratet habe. Der Bruder ihres Mannes sei das Familienoberhaupt gewesen und habe sie unter Druck gesetzt. Sie habe ihre Eltern nicht besuchen dürfen, weil der Bruder ihres Mannes das nicht erlaubt habe und auch sonst habe er ihr alles verboten. Sie habe nicht für sich selbst entscheiden können und habe keine Recht gehabt. Der Bruder ihres Mannes habe ihr Leben und das ihrer Kinder massiv beschränkt. Er habe schließlich gewollt, dass die BF1 mit ihrer Familie nach Afghanistan zurückkehre. Dies habe die BF1 nicht gewollt und habe sie schließlich vorgeschlagen, nach Europa zu flüchten. Die BF1 führte weiters aus, dass ihre Töchter hier in Österreich eine Schule besuchen könnten; dies wäre in Afghanistan nicht möglich. In Afghanistan hätten Kinder keine Zukunft.

Der BF2 wurde am 09.03.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari ebenfalls niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er in Kabul geboren sei und Afghanistan vor ca. 15 Jahren verlassen habe. Sein Vater habe ihn damals allein in den Iran geschickt. Er habe keine Schule besucht. In Afghanistan habe er als Schuhputzer gearbeitet und im Iran habe er Kohle hergestellt. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF2 aus, dass er im Iran mit seiner Frau bei seinem Bruder gelebt habe. Sie hätten dort kein glückliches Leben gehabt. Seine Frau sei vom Bruder des BF2 schlecht behandelt worden. Der Bruder des BF2 habe der Tochter der BF1 und des BF2 vorgeschrieben, ein Kopftuch zu tragen, obwohl sie erst sieben Jahre alt gewesen sei. Außerdem sei beim BF2 Asthma diagnostiziert worden und habe er seine Arbeit als Kohlehersteller nicht mehr ausüben dürfen. Seine Kinder hätten im Iran keine Schule besuchen können. Sie hätten keine Papiere gehabt im Iran und sei seine Tochter, als sie sich verletzt habe, deshalb im Krankenhaus nicht behandelt worden. Als sie gehört hätten, dass die Wege nach Europa offen seien, hätten sie sich zur Ausreise entschlossen. Befragt, warum der BF2 vor 15 Jahren von seinem Vater von Afghanistan in den Iran geschickt worden sei, gab er an, dass er in Afghanistan einmal von den Taliban als Dieb bezichtigt worden sei. Sie hätten ihn geschlagen und gedroht, ihm seine Hände abzuschneiden. Sein Vater habe gemeint, der BF2 könne nicht mehr in Afghanistan leben und habe ihn weggeschickt. Befragt, was er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte, gab er an, dass seine Töchter dort keine Zukunft hätten. Mädchen seien immer in Gefahr.

Mit nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 25.07.2018 wurden die Anträge der BF1, des BF2, der BF3, der BF4, des BF5 und des BF6 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und wurde jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 24.07.2019 erteilt.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde jeweils Feststellungen zu den Personen der BF, zu deren Fluchtgrund, zur Situation im Falle der Rückkehr und zur Situation im Herkunftsstaat. Es wurde ausgeführt, dass eine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan nicht glaubhaft gemacht werden habe können. Der BF2 sei jedoch aufgrund seiner Erkrankung in seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkt. Darüber hinaus könnte er sich in seiner Herkunftsprovinz auf eine nur äußerst eingeschränkte Unterstützung seiner Familienangehörigen stützen. Im Falle einer Rückkehr müsste der BF2 für den Lebensunterhalt und die medizinische Versorgung von sechs Personen aufkommen. Die belangte Behörde gelange zu der Ansicht, dass sich der BF2 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht behaupten könnte und er und seine Familie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine aussichtslose Lage geraten würde.

Gegen Spruchpunkt I. der Bescheide vom 25.07.2018 erhoben die BF1, der BF2, die BF3, die BF4, der BF5 und der BF6 mit Schriftsatz der Rechtsvertretung vom 09.08.2018 Beschwerde. Darin wurde ausgeführt, dass das Vorbringen der BF sehr wohl asylrelevant sei. Der BF2 habe dargelegt, dass er Afghanistan aufgrund der Probleme mit den Taliban verlassen habe müssen. Die BF1 habe ausführlich beschrieben, unter welchem gesellschaftlichen Zwang sie als Frau in Afghanistan und im Iran gelebt habe. Sie wolle als Frau frei leben und selbst über ihre Zukunft entscheiden. Es könne ihr nicht zugemutet werden, unter denselben Einschränkungen zu leben, wie dies traditionelle afghanische Frauen tun würden. Sie wolle sich frei bewegen können und einem Beruf nachgehen. Sie wünsche sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Diese sollten eine Schule besuchen und selber über ihr Leben entscheiden können. Die BF1 erledige alle Besorgungen des Alltags allein. Ihre beiden Töchter würden zur Schule gehen und sie wünsche sich für ihre Töchter ein selbstbestimmtes Leben frei von Zwängen. Die belangte Behörde habe sich mit der Verfolgung oder Gefährdung der beiden Töchter in keiner Weise auseinandergesetzt. Sie hätten in Österreich einen Kulturkreis kennengelernt, der jenem in Afghanistan diametral widerspreche. Abschließend wurde auf diverse Berichte zur Lage von Frauen in Afghanistan verwiesen.

Die Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten langten am 16.08.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 08.01.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein der BF1, des BF2, der BF3, der BF4, des BF5 und des BF6 und deren Rechtsvertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt und die Rechtssachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF2 ist der Ehegatte der BF1. Die minderjährigen BF3, BF4, BF5 und BF6 reisten gemeinsam mit ihren Eltern am 08.01.2016 illegal in das Bundesgebiet ein und wurde für sie am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Hinsichtlich BF1 bis BF6 liegt ein Familienverfahren gem. § 34 AsylG 2005 vor. Sämtliche BF sind Staatsangehörige Afghanistans, sie sind sunnitischen Bekenntnisses und gehören der Volksgruppe der Tadschiken an.

Die BF1 stammt aus der Provinz Kapisa, verließ Afghanistan gemeinsam mit ihrer Familie im Alter von ca. sechs oder sieben Jahren und lebte fortan im Iran, wo sie schließlich den BF2 heiratete. Sie hat keine Schule besucht und ist keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Die Eltern und die Geschwister der BF1 leben allesamt im Iran.

Der BF2 stammt aus Kabul, hat Afghanistan als Jugendlicher verlassen und hat fortan im Iran gelebt. Er hat keine Schule besucht. Er hat in Afghanistan als Schuhputzer und im Iran in der Kohleherstellung gearbeitet. Die BF1 und der BF2 haben im Iran ca. fünf Jahre lang beim älteren Bruder des BF2 gelebt. Die Eltern des BF2 leben in Kabul. Die Geschwister des BF2 leben zum Teil in Afghanistan (Kabul bzw. Kapisa) und zum Teil im Iran.

Die minderjährigen BF3, BF4, BF5 und BF6 sind im Iran geboren und haben sich nie in Afghanistan aufgehalten. Sie sind die gemeinsamen Kinder der BF1 und des BF2 und haben ihren Lebensmittelpunkt im Kreise der Familie.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten (bzw. strafunmündig).

Es wird festgestellt, dass der BF1 im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgungsgefahr als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau droht. Die BF1 hat keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Sie hat keine "westliche Lebensführung" angenommen.

Es wird festgestellt, dass dem BF2 im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgungsgefahr durch die Taliban droht.

Es wird festgestellt, dass die BF3 im Falle der Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr der Zwangsverheiratung ausgesetzt wäre.

Zur Situation im Herkunftsland Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet. Trotzdem gilt Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit. In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist. Viel hat sich dennoch seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach. Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung:

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit.

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden. Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen. Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land.

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung:

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt.

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden.

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen. Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen. Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen.

2. Beweiswürdigung:

Die getroffenen Feststellungen zu den Personen ergeben sich aus dem diesbezüglichen Vorbringen der BF1 und des BF2. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Lebensumständen in Afghanistan und im Iran stützen sich auf die Angaben der BF1 und des BF2 im Verfahren vor dem BFA, in der Beschwerde, sowie in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Dari.

Das Vorbringen des BF2, wonach er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt wäre, ist aus folgenden Erwägungen nicht glaubhaft:

Der BF2 führte aus, dass er von den Pakistani des Diebstahls bezichtigt worden sei, er in weiterer Folge einer Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei und er daher Afghanistan verlassen habe müssen. Dass der BF2 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nach wie vor einer Verfolgung aus diesem Grund ausgesetzt wäre, ist nicht plausibel. Zunächst ist festzuhalten, dass der BF2 seinen Angaben zufolge die letzten ca. 15 Jahre im Iran gelebt habe und nicht mehr nach Afghanistan zurückgekehrt sei. Wie es den Taliban dennoch möglich sein sollte, den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen, kann nicht nachvollzogen werden. Ebenso wenig plausibel erscheint, dass die Taliban wegen des vom BF2 vorgebrachten Vorfalls vor 15 oder 16 Jahren nach wie vor ein Interesse an der Person des BF2 haben sollten.

Abgesehen davon ist festzuhalten, dass der BF2 zeitlich massiv widersprüchliche Angaben hinsichtlich seines Aufenthalts im Iran tätigte und seinem Vorbringen hinsichtlich einer möglichen Verfolgungsgefahr daher auch aus diesem Grund keine Glaubwürdigkeit zukommt. So gab der BF2 im Zuge der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass er 13 Jahre lang mit XXXX (Onkel der BF1) gemeinsam in der Kohleherstellung gearbeitet habe, während im Bescheid des Onkels der BF1 angegeben ist, dass dieser fünf bis sechs Jahre lang im Iran Kohle hergestellt habe. Auf entsprechenden Vorhalt führte der BF2 schließlich aus, dass er insgesamt neun Jahre lang in der Kohleherstellung gearbeitet habe.

In einer Gesamtschau erscheint eine konkrete Bedrohung des BF2 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht glaubhaft.

Die Feststellung, wonach der BF1 im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgungsgefahr als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau droht, beruht auf folgenden Erwägungen:

Die BF1 vermochte im Rahmen der mündlichen Verhandlung weder überzeugend darzulegen, dass sie einen "westlichen Lebensstil" führe noch, dass sie eine diesbezügliche innere Einstellung habe und dass sich diese nachhaltig verfestigt hätte. Für die Annahme, dass die BF1 seit ihrer Einreise in Österreich eine "westliche" Lebensführung und damit eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde, sind im gesamten Ermittlungsverfahren keine Gründe hervorgekommen, die derartiges vermuten ließen.

Aus den Ausführungen der BF1 zu ihren Lebensumständen in Österreich geht nicht hervor, dass diese eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Die Angaben der BF1 stellen jedenfalls kein ausreichend tragfähiges Substrat für die Annahme eines "westlichen" Gesellschaftsbildes und eines freibestimmten Lebens dar, das es der BF1 verunmöglichen würde, sich in das Gesellschaftsbild Afghanistans einzuordnen. Der Wirkungsbereich der Beschwerdeführerin in Österreich erstreckt sich ihren eigenen Angaben zufolge - nicht anders als in Afghanistan - auf die Bereiche Familie und Haushalt bzw. den häuslichen Bereich. Die BF1 gab einzig an, dass sie einmal auswärts gearbeitet habe und bei einer Familie die Scheiben geputzt habe. Der Mann dieser Familie habe sie mit dem Auto abgeholt. Mit diesen Ausführungen ist es der BF1 jedoch nicht gelungen den Eindruck zu vermitteln, dass sie ein "westliches" Gesellschaftsbild und ein freibestimmtes Leben angenommen hat.

Der von der BF1 gepflegte Lebensstil verletzt daher die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan nicht in einem Ausmaß, dass ihr bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des Lebensstils) Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde. Der westliche Lebensstil ist kein wesentlicher Teil der Identität der BF1 geworden, sodass diese ihr Verhalten nicht unterdrücken muss und somit keine Verfolgung gegeben ist.

Die Feststellung, dass die BF3 im Falle der Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr der Zwangsverheiratung ausgesetzt wäre, beruht auf folgenden Erwägungen:

Im Zuge der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ist hervorgekommen, dass es sich bei der Familie des BF2 um eine sehr konservative Familie handelt, die nach den traditionellen, in Afghanistan allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten lebt. So gab der BF2 hinsichtlich seiner in Kabul lebenden Eltern an, dass seine Eltern sehr konservativ seien, ihre Mutter immer noch die Burka trage, aber nicht, weil sie dies selber möchte, sondern weil der Vater des BF2 ihr nicht erlaube, ohne Burka aus dem Haus zu gehen. Auch die glaubhaften Ausfrührungen von BF1 und BF2 betreffend den Bruder des BF2, mit welchem sie im Iran zusammengelebt hätten, stützen das Bild einer sehr konservativen Familie. So brachte die BF1 in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, dass der Bruder des BF2 ihr Leben und das ihrer Kinder massiv beschränkt habe. Sie habe ihre Eltern nicht besuchen dürfen und habe der Bruder des BF2 ihr auch sonst alles verboten. Sie habe nicht für sich selbst entscheiden können und habe keine Recht gehabt. Er habe die BF3 gezwungen, ein Kopftuch zu tragen, obwohl sie erst sieben Jahre alt gewesen sei und habe ihr verboten, in die Schule zu gehen.

Dass der BF2 die BF1 während ihres Aufenthalts im Iran unterstützt und ihr geholfen habe und sich um die Kinder gekümmert habe, erscheint in Zusammenschau mit dem Bild, welches sich der erkennende Richter in der Verhandlung von der Familie des BF2 machen konnte, nicht glaubhaft. Vielmehr entstand beim erkennenden Richter in einer Gesamtschau der Eindruck, dass es sich bei der ganzen Familie des BF2 um eine sehr konservative Familie handelt, welche auch in Zukunft von den afghanischen traditionellen Werten und Traditionen nicht abweichen wird. Es ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die nunmehr elfjährige BF3 im Falle einer Rückkehr nach Kabul der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt wäre.

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aufgrund des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 29.06.2018), dem EASO-Bericht "Afghanistan Security Situation - Update" vom Mai 2018 und der UNHCR-RL vom 30.08.2018.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn (Z 1) der der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder (Z 2) die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Letztere Variante traf unter Berücksichtigung der in ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG vertretenen Ansicht über den prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auf die gegenständliche Konstellation zu (vgl. dazu etwa VwGH 28.07.2016, Zl. Ra 2015/01/0123).

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2004 Nr. L 304/12 [Statusrichtlinie] verweist). Damit will der Gesetzgeber an die Gesamtheit der aufeinander bezogenen Elemente des Flüchtlingsbegriffs der GFK anknüpfen (VwGH 24.3.2011, 2008/23/1443). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder, wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren." (vgl. VfSlg. 19.086/2010; VfGH 12.6.2010, U 613/10).

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH E vom 22.12.1999, Z1. 99/01/0334; VwGH E vom 21.12.2000, Z1. 2000/01/0131; VwGH E vom 25.1.2001, Zi. 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. (VwGH E vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH E vom 25.1.2001, Zl. 2001/20/0011).

Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH E vom 26.2.1997, Z1. 95/01/0454, VwGH E vom 09.04.1997, Z1. 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH E 18.4.1996, 95/20/0239; VwGH E vom 16.02.2000, Z1. 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose. Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH E vom 09.03.1999, Z1. 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH E vom 09.09.1993, Z1. 93/01/0284; VwGH E vom 15.03.2001, Z1. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH E vom 16.06.1994, Zl. 94/19/0183, VwGH E vom 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH vom 19.10.2000, Z1. 98/20/0233).

Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann weiters nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht (VwGH 27.01.2000, Zl. 99/20/0519, VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256, VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0177, VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203, VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0291, VwGH 07.09.2000, Zl. 2000/01/0153, u.a.).

Neben der staatlichen Verfolgung kann auch eine von nichtstaatlichen Stellen ausgehende Verfolgung Asylrelevanz besitzen, wenn sich der Asylwerber nicht an staatliche Stellen um Hilfe wenden kann; etwa dann, wenn von vornherein klar ist, dass die staatlichen Stellen vor Verfolgung nicht schützen können oder wollen (vgl. VwGH 11.6.2002, 98/01/0394).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann bereits nicht dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 12.3.2002, 99/01/0205). Allerdings liegt mangelnde Schutzfähigkeit nicht erst bei völligem Fehlen der Staatsgewalt vor, es ist vielmehr zu fragen, ob im relevanten Bereich des Schutzes dem Staat der Schutz seiner Angehörigen durch Machtausübung vor Übergriffen von Dritten möglich ist. Somit ist Verfolgung von dritter Seite relevant, wenn staatliche Stellen diese infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwenden können.

Bei der, der BF3 drohenden, Gefahr der Zwangsverheiratung durch die Familie des BF2 handelt es sich jedenfalls nicht um eine dem Staat zuzurechnende Verfolgungshandlung, sondern geht diese von Privatpersonen aus.

Es bleibt sohin zu prüfen, ob der afghanische Staat fähig und willens ist, gegen derartige private Übergriffe effektiven Schutz zu gewährleisten. Diesbezüglich ergibt sich jedoch aus den vorliegenden Länderfeststellungen, dass Frauen, welche von häuslicher Gewalt oder Zwangsheirat bedroht sind, nicht darauf vertrauen können, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird und auch keine Möglichkeit eines regionalen Ausweichens innerhalb des Landes besteht.

Im vorliegenden Fall ist, aufgrund der individuell bei der BF3 in der Vergangenheit verwirklichten Schläge durch den Bruder des BF2 und der aufgrund der geschilderten Einstellung der Eltern des BF2 zukünftigen Gefahreneinschätzung, von der Zugehörigkeit der BF3 zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der sozialen Gruppe der von Zwangsheirat bedrohten Mädchen und Frauen, im Zusammenhang mit ihrem Geschlecht (tradierte familiäre Wertvorstellungen), auszugehen.

Infolge einer Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe war daher die Flüchtlingseigenschaft nach der GFK zu bejahen. Dass es sich primär um keine staatliche Verfolgung handelt, ändert an diesem Ergebnis nichts, da präventiver Schutz in Afghanistan in diesem konkreten Fall mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht hinreichend erlangt werden kann.

Eine inländische Fluchtalternative würde der BF3 unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände in Afghanistan sowie auch im Hinblick auf die allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan derzeit ebenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Verfügung stehen.

Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht noch ein in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der Beschwerde stattzugeben und der BF3 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass der Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zur Zuerkennung des Status von Asylberechtigten an die BF1, BF2, BF4, BF5 und BF6:

Gemäß § 2 Abs. 1 Z. 22 AsylG 2005 ist unter anderem Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des (...) Asylberechtigten zuerkannt wurde.

Gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 ist aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

1. dieser nicht straffällig geworden ist;

2. die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens i.S.d. Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und

3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist.

Die unbescholtenen BF1 und BF2 sind Familienangehöriger der BF3 i. S.d. § 2 Abs. 1 Z. 22 AsylG 2005. Weiters hat sich nicht ergeben, dass das zwischen den BF bestehende Familienleben in einem anderen Staat fortgesetzt werden könnte.

Da der BF3 - wie oben dargelegt - der Status der Asylberechtigten zu gewähren war, war dieser Status gemäß § 34 AsylG 2005 auch den BF1 und BF2, bei denen keine der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegen, zuzuerkennen.

Die unbescholtenen minderjährigen BF4, BF5 und BF6 sind ledige, minderjährige Kinder der BF1 und BF2.

Da den BF1 und BF2 - wie oben dargelegt - der Status der Asylberechtigten zu gewähren war, war dieser Status gemäß § 34 AsylG 2005 auch den BF4, BF5 und BF6, bei denen keine der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegen, zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war festzustellen, dass den BF1, BF2, BF4, BF5 und BF6 von Gesetzes wegen die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs.1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs.4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

Asylgewährung von Familienangehörigen, Familienverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W228.2203532.1.00

Zuletzt aktualisiert am

04.03.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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