TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/22 W171 2122820-1

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Veröffentlicht am 22.01.2019
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Entscheidungsdatum

22.01.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W171 2122820-1/17E

W171 2122819-1/13E

W171 2122822-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor MORAWETZ, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von 1.) XXXX , StA Ukraine, 2.) XXXX , StA Russische Föderation, 3.) mj. XXXX , StA Ukraine, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2016, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.12.2018, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide zu lauten hat: "Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 3 Monate ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.".

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1.1. Der Erstbeschwerdeführer (in der Folge: BF1), ein Staatsangehöriger der Ukraine, stellte am 07.12.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 08.12.2014 brachte der BF1 zu seinen Fluchtgründen vor, er stamme aus XXXX . Wegen des Krieges habe er nach XXXX flüchten müssen. Vor etwa einem Monat habe er die Nachricht erhalten, dass er zum Militär einrücken müsse. Aus Angst um sein Leben habe er das Land verlassen.

1.2. Die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) stellte am 30.12.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei ihrer Erstbefragung am 30.12.2014 gab sie zu ihren Fluchtgründen an, ihrem Mann gefolgt zu sein. Dieser hätte entweder auf der Seite der Separatisten oder der ukrainischen Armee kämpfen sollen, beides habe er nicht gewollt.

1.3. Am 19.02.2015 wurde der BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab dabei im Wesentlichen an, außer an Depressionen an keinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu leiden. Er habe in der Ukraine ein Studium des Finanzwesens absolviert und zuletzt als stellvertretender Leiter eines Unternehmens gearbeitet. Er habe sich 2010 auf Urlaub in Österreich aufgehalten, damals sei ein Verfahren wegen versuchten Diebstahls eingeleitet worden.

Er habe seinen Militärdienst parallel zum Studium absolviert. Er habe per Post eine Ladung zum Militärkommissariat erhalten. Einen Monat später seien Vertreter der Militärbehörde zu seiner Wohnadresse gekommen, er sei aber nicht zuhause gewesen. Er habe nicht gewartet, ob sie wiederkommen würden, sondern sei gleich geflüchtet. Er habe die Ladung nicht mitgenommen. Man habe ihm gesagt, dass er bis zu fünf Jahre ins Gefängnis komme, wenn er nicht in den Krieg ziehen wolle.

Der BF1 legte einen Auszug aus dem ukrainischen Ehebuch und einen abgelaufenen Führerschein vor.

Ein ukrainisches Führungszeugnis, eine Kopie des ukrainischen Inlandspasses und eine Heiratsurkunde wurden nachgereicht.

1.4. Bei ihrer Einvernahme am 19.02.2018 gab die BF2 an, dass sie ukrainische Staatsangehörige sei. Sie sei in Lettland geboren, habe aber nur einen sowjetischen Pass gehabt. Die ukrainische Staatsbürgerschaft habe sie durch ihre Heirat bekommen. Sie sei darüber aber noch nicht in Kenntnis gesetzt worden, sie wisse es daher nicht genau.

Sie habe in Lettland ein Studium der außenwirtschaftlichen Beziehungen abgeschlossen. 2010 sei sie in die Ukraine gezogen und habe bei einer Bank gearbeitet.

Sie sei wegen ihres Mannes geflüchtet. In XXXX sei Rassismus derzeit stark verbreitet. Da sie russischer Abstammung sei, habe sie Angst, sich auf der Straße zu zeigen. Sie sei beschimpft worden. Die Entscheidung zur Flucht habe ihr Mann getroffen.

Eine Kopie des russischen Reisepasses der BF2 und ihrer lettischen Geburtsurkunde wurden nachgereicht.

1.5. Am 20.02.2015 wurde die Drittbeschwerdeführerin (BF3) im Bundesgebiet geboren. Der BF1 stellte für sie am 24.02.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.6. Am 26.02.2015 wurde eine Anfrage bezüglich der Staatsangehörigkeit der BF3 an die Staatendokumentation gestellt. Aus der Anfragebeantwortung vom 05.03.2015 geht hervor, dass laut ukrainischem Staatsbürgerschaftsgesetz eine Person, deren einer oder beide Elternteile bei Geburt Staatsbürger der Ukraine waren, als Staatsbürger der Ukraine erachtet wird. Nach russischem Recht kann ein Kind die russische Staatsbürgerschaft erhalten, wenn ein Elternteil russischer Staatsbürger ist und die Staatsbürgerschaft für das Kind beantragt.

1.7. Am 27.02.2015 wurde der BF1 wegen des Vergehens des teils versuchten, teils vollendeten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

1.8. Die BF2 wurde am 25.06.2018 erneut einvernommen. Dabei gab sie an, dass ihre Tochter keine eigenen Fluchtgründe habe. Sie hätten noch keine Staatsbürgerschaft für sie beantragt, sie werde wohl die ukrainische erhalten. Sie selbst habe vor der Ausreise einen Antrag auf Verleihung der ukrainischen Staatsbürgerschaft gestellt, aber noch keine Rückmeldung erhalten. Sie habe in der Ukraine nie irgendwelche Probleme mit den Behörden gehabt

1.9. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2016 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), diesen gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (BF1 und BF3) bzw. Russische Föderation (BF2) nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und den BF gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Ukraine (BF1 und BF3) bzw. Russische Föderation (BF2) zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, dass die Einziehung zum Wehrdienst im Sinne der ukrainischen Gesetze keine Verfolgung iSd GFK darstelle. Es bestehe keine unverhältnismäßige Bestrafung für Wehrdienstverweigerung. Das Fluchtvorbringen der BF2 stütze sich auf das des BF1. Die BF hätten die Möglichkeit, sich in der Russischen Föderation oder der Ukraine niederzulassen. Die BF2 habe sich offenbar auch zuvor legal in der Ukraine aufgehalten. Rechtlich wurde zu Spruchpunkt I. insbesondere ausgeführt, dass die BF somit nicht in der Lage gewesen seien, eine Bedrohungssituation iSd Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft zu machen. Die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes wurde im Wesentlichen damit begründet, dass weder in der Ukraine noch in der Russischen Föderation ein reales Risiko einer derart extremen Gefahrenlage vorliege, welches einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 3 EMRK darstelle würde und somit einer Rückführung der BF in ihr Heimatland entgegenstehen würde. Schließlich bestünden im Bundesgebiet keine Hinweise auf weitere familiäre Anknüpfungspunkte oder eine außerordentliche Integration, weshalb das Vorliegen eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK nicht festgestellt werden könne.

1.10. In den dagegen erhobenen Beschwerden vom 03.03.2016 wurde der Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren vorgeworfen. Die Länderinformationen seien ein Jahr oder noch älter und daher als veraltet anzusehen. Die BF hätten als Binnenflüchtlinge keine Sozialbeihilfen erhalten. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die Behörde zu der Feststellung gelange, die BF3 sei ukrainische Staatsbürgerin. In der Westukraine würden ethnische Russen diskriminiert, der BF1 müsse in der Russischen Föderation mit Diskriminierungen rechnen.

Der BF1 habe den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert, da es auch durch ukrainische Streitkräfte zu Verletzungen des Kriegsrechts und der Menschenrechte komme. Der Behörde sie daher eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorzuwerfen. Der BF1 habe mit massiven strafrechtlichen Konsequenzen, nämlich mit bis zu fünf Jahren Haft zu rechnen.

Die Behörde hab es weiters unterlassen, Ermittlungen zur Integration der BF in Österreich vorzunehmen. Eine Rückkehrentscheidung stelle eine Verletzung von Art. 8 EMRK dar. Abschließend wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

Der Beschwerde lagen ein Schreiben des Bürgermeisters des Wohnorts der BF und zwei Empfehlungsschreiben bei.

1.11. Am 15.04.2016 wurden weitere Unterstützungsschreiben vorgelegt.

1.12. Den BF wurde mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung aktuelle Länderberichte zur Ukraine übermittelt.

1.13. In einer Stellungnahme vom 27.09.2018 wurde vorgebracht, dass dem BF1 weiterhin asylrelevante Verfolgung durch Einberufung drohe. Bei einer Rückkehr drohe ihm eine Haftstrafe. Die BF könnten nicht nach XXXX zurückkehren. Außerhalb von XXXX könnten sie auf keine Unterstützung zurückgreifen. Aufgrund ihrer russischen Abstammung seien sie am Arbeits- und Wohnungsmarkt Diskriminierungen ausgesetzt. Es bestehe somit keine innerstaatliche Fluchtalternative. In XXXX drohe dem BF1 jedoch asylrelevante Verfolgung durch Separatisten. Der BF1 habe sich aufgrund der Mobilisierung nicht als Binnenflüchtling registrieren lassen, weshalb er keinen Zugang zu Sozialleistungen habe.

1.14. Am 08.10.2018 wurde seitens des BVwG eine Anfrage an die Staatendokumentation hinsichtlich eines Aufenthaltsrechts für die BF in der Ukraine oder der Russischen Föderation gestellt, welche am 29.10.2018 beantwortet wurde.

1.15. Am 11.10.2018 wurde der BF wegen Betrugs gemäß § 146 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt.

1.16. In einer vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.12.2018 durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF1 und der BF2, Einsichtnahme in den Verwaltungsakt und durch Einsicht in den Akt des Bundesverwaltungsgerichts.

Der BF1 gab dabei an, in Österreich bisher noch nicht gearbeitet zu haben. Er besitze aber einen Führerschein der Klasse C und habe schon mit Leuten gesprochen, die ihm einen Arbeitsplatz verschaffen könnten. Er habe in einem Fußballverein gespielt und kenne von dort einige Leute. Derzeit spiele er noch nicht in einem neuen Verein.

Seine Eltern wohnten mit seiner Schwester und deren Kindern in einem Haus in XXXX . Mit seinem Vater sei er aber zerstritten, mit seiner Mutter bestehe Kontakt. Er habe in der Ukraine eine militärische "Lehrkanzel" absolviert. Dadurch sei er automatisch Offizier, in dem Fall Leutnant. Er werde in der Ukraine als Deserteur angesehen. In XXXX habe er Schwierigkeiten gehabt, weil er in XXXX gelebt habe. Man habe mit ihm nicht Russisch sprechen wollen. Er mache auf Ukrainisch beim Sprechen Fehler. Er sei Mitglied bei der Partei der Regionen. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass er nach XXXX gegangen sei, habe er keinen Arbeitsplatz bekommen.

Die BF2 gab bei der mündlichen Verhandlung an, Deutschkurse im Rahmen eines Vorstudienlehrgangs zu besuchen. Nach Abschluss werde sie zum Studium zugelassen. Sie habe vor ein Masterstudium zu beginne. Sie habe in Österreich noch nicht gearbeitet, verfüge aber über eine Einstellungszusage der Post. Sie habe keine Verwandten in Österreich, ihre Mutter lebe in Deutschland. Sie habe Kontakt mit anderen Müttern, die sie aus dem Kindergarten kenne, und mit Freundinnen aus Lettland, Litauen und der Ukraine, die mit Österreichern verheiratet seien.

Ihre Muttersprache sei Russisch, sie habe aber keine Verwandten in der Russischen Föderation oder der Ukraine.

Den BF wurde das Ergebnis der Anfrage des Gerichtes bei der Staatendokumentation vom 25.10.2018 hinsichtlich der Staatsbürgerschaft bzw. des Erlangens von Aufenthaltstiteln der BF in den Staaten Ukraine und Russische Föderation vorgehalten. Die Rechtsvertreterin nahm Einsicht in das Originaldokument und führte hiezu aus:

Im Falle einer Abschiebung des BF1 und der BF3 in die Ukraine, sowie der BF2 in die Russische Föderation sei nicht absehbar, wann die BF ihr Familienleben fortsetzen könnten. Laut telefonischer Auskunft der ukrainischen Botschaft in Wien vom 27.09.2018 sei für die Einreise eines Staatsangehörigen der russischen Föderation in die Ukraine eine Anfrage- bzw. ein Einreisegesuch erforderlich. Dieses sei an die ukrainische Botschaft zu richten. Dieses Einreisegesuch benötige auch eine Einladung eines ukrainischen Staatsbürgers, welche von der ukrainischen Botschaft anschließen geprüft werde. Diese werde bewilligt oder abgelehnt. Dieser Prüfungsprozess unterliege jedoch keinen gesetzlichen Fristen. Es sei daher nicht absehbar ob oder nach welcher Dauer dieses Einreisegesuch der BF in die Ukraine bewilligt würde, auch angesichts des sich verschärfenden Konflikts zwischen der Ukraine und der russischen Föderation. Erst kürzlich habe die Ukraine nach der Einführung des Kriegsrechts auch die Einreisebedingungen für Russen verschärft. Eine solche Trennung der BF3 von ihrer Mutter würde eine dauernde Verletzung des Kindeswohls der BF3 bedeuten. Auch sei den BF eine Familienführung in der Russischen Föderation unzumutbar, da keiner der BF Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation habe.

Die BF legten eine Einstellungszusage der BF2, Bestätigungen über den Besuch der BF2 des Vorstudienlehrgangs und eine Bestätigung über den Kindergartenbesuch der BF3 vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

1. Feststellungen

1.1. Der BF1 ist Staatsangehöriger der Ukraine, die BF2 ist Staatsangehörige der Russischen Föderation. Die BF3 verfügt von Geburt an über die ukrainische Staatsbürgerschaft, die Verleihung der Russischen Staatsbürgerschaft ist auf Antrag möglich.

1.2. Der BF1 stellte am 07.12.2014, die BF2 am 30.12.2014 und die BF3 am 24.02.2015 die dem gegenständlichen Beschwerdeverfahren zugrundeliegenden Anträge auf internationalen Schutz.

1.3. Der BF1 hat weder für sich selbst noch für seine Ehefrau oder die minderjährige BF3 eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht.

Nicht festgestellt werden konnte, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung der BF in die Ukraine oder die Russische Föderation eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Ukraine oder die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

1.4. Der BF1 war in der Ukraine als stellvertretender Leiter eines Unternehmens, die BF2 bei einer Bank beschäftigt. Beide verfügen über abgeschlossene Universitätsstudien.

1.5. Die BF leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, bezüglich derer es keine Behandlungsmöglichkeiten in der Ukraine oder der Russischen Föderation gibt.

1.6. Die BF2 ist strafgerichtlich unbescholten. Am 27.02.2015 wurde der BF1 wegen des Vergehens des teils versuchten, teils vollendeten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Am 11.10.2018 wurde er wegen Betrugs gemäß § 146 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt.

1.7. Der BF1 verfügt über kein Deutschzertifikat, aber gewisse Deutschkenntnisse. Die BF2 verfügt über gute Deutschkenntnisse. Sie besucht im Rahmen eines Vorstudienlehrgangs einen Deutschkurs. Im Bundesgebiet gehen der BF1 und die BF2 keiner legalen Beschäftigung nach und beziehen nur Leistungen aus der Grundversorgung. Die BF3 besucht den Kindergarten. Die BF haben keine familiären Anknüpfungspunkte an Österreich.

1.8. Die BF können ihr Familienleben sowohl in der Ukraine als auch in der Russischen Föderation fortsetzen.

1.9. Zur Situation in der Ukraine wird festgestellt:

0. Politische Lage

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Ihr Staatsoberhaupt ist seit 7.6.2014 Präsident Petro Poroschenko. Regierungschef ist seit 14.4.2016 Ministerpräsident Wolodymyr Hroisman. Das Parlament (Verkhovna Rada) der Ukraine besteht aus einer Kammer; 225 Sitze werden über ein Verhältniswahlsystem mit Listen vergeben, 225 weitere Sitze werden in Mehrheitswahl an Direktkandidaten in den Wahlkreisen vergeben. 27 Mandate bleiben aufgrund der Krim-Besetzung und des Konflikts in der Ost-Ukraine derzeit unbesetzt. Im Parlament sind folgende Fraktionen und Gruppen vertreten (mit Angabe der Zahl der Sitze):

Block von Petro Poroschenko (Blok Petra Poroschenka)

142

Volksfront (Narodny Front)

81

Oppositionsblock (Oposyzijny Blok)

43

Selbsthilfe (Samopomitsch)

26

Radikale Partei von Oleh Ljaschko (Radykalna Partija Oleha Ljaschka)

20

Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna)

20

Gruppe Wolja Narodu

19

Gruppe Widrodshennja

24

Fraktionslose Abgeordnete

48

(AA 2.2017a)

Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahldurchgang zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt seither mit unterschiedlichen Koalitionen eine europafreundliche Reformpolitik. Zu den Schwerpunkten des Regierungsprogramms gehören die Bekämpfung der Korruption sowie eine Verfassung- und Justizreform. Die Parteienlandschaft ist pluralistisch und reflektiert alle denkbaren Strömungen von national-konservativ bis links-sozialistisch. Die kommunistische Partei ist verboten. Die Regierung Hrojsman, die seit April 2016 im Amt ist, setzt den euroatlantischen Integrationskurs der Vorgängerregierung unter Arseni Jazenjuk fort und hat trotz zahlreicher koalitionsinterner Querelen und zum Teil großer Widerstände wichtige Reformen erfolgreich durchführen können. Gleichwohl sind die Erwartungen der Öffentlichkeit zu Umfang und Tempo der Reformen bei weitem nicht befriedigt (AA 7.2.2017).

Die Präsidentenwahlen des Jahres 2014 werden von internationalen und nationalen Beobachtern als frei und fair eingestuft (USDOS 3.3.2017a).

Ukrainische Bürger können seit 11. Juni 2017 ohne Visum bis zu 90 Tage in die Europäische Union reisen, wenn sie einen biometrischen Pass mit gespeichertem Fingerabdruck besitzen. Eine Arbeitserlaubnis ist damit nicht verbunden. Die Visabefreiung gilt für alle EU-Staaten mit Ausnahme Großbritanniens und Irlands (DS 11.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 31.5.2017

-

AA - Auswärtiges Amt (2.2017a): Ukraine, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Ukraine_node.html, Zugriff 31.5.2017

-

DS - Der Standard (11.6.2017): Ukrainer feierten Aufhebung der Visapflicht für die EU,

http://derstandard.at/2000059097595/Ukrainer-feierten-Aufhebung-der-Visapflicht-fuer-die-EU, Zugriff 19.6.2017

-

USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 31.5.2017

1. Sicherheitslage

Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahlgang am 07.06.2014 direkt zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Diese Politik hat zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren geführt, obwohl Russland im März 2014 die Krim annektierte und seit Frühjahr 2014 separatistische "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine unterstützt (AA 7.2.2017).

Die ukrainische Regierung steht für einen klaren Europa-Kurs der Ukraine und ein enges Verhältnis zu den USA. Das 2014 von der Ukraine unterzeichnete und ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU ist zum Jahresbeginn 2016 in Kraft getreten und bildet die Grundlage der Beziehungen der Ukraine zur EU. Es sieht neben der gegenseitigen Marktöffnung die Übernahme rechtlicher und wirtschaftlicher EU-Standards durch die Ukraine vor. Das Verhältnis zu Russland ist für die Ukraine von zentraler Bedeutung. Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens übte Russland erheblichen Druck auf die damalige ukrainische Regierung aus, um sie von der EU-Assoziierung abzubringen und stattdessen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion/Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und dem Sturz von Präsident Janukowytsch verschlechterte sich das russisch-ukrainische Verhältnis dramatisch. In Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen und bilateraler Verträge annektierte Russland im März 2014 die Krim und unterstützt bis heute die bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine (AA 2.2017c).

Die sogenannten "Freiwilligen-Bataillone" nehmen offiziell an der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Streitkräfte teil. Sie sind nunmehr alle in die Nationalgarde eingegliedert und damit dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Offiziell werden sie nicht mehr an der Kontaktlinie eingesetzt, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, eventuell auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von allerdings teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).

Seit Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine in den Regionen Lugansk und Donezk im April 2014 zählte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN (OHCHR) 33.146 Opfer des Konflikts, davon

9.900 getötete und 23.246 verwundete Personen (inkl. Militär, Zivilbevölkerung und bewaffnete Gruppen). Der Konflikt wird von ausländischen Kämpfern und Waffen, die nach verschiedenen Angaben aus der Russischen Föderation in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete (NGCA) gebracht werden, angeheizt. Zudem gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen sind betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Der bewaffnete Konflikt stellt einen Bruch des Internationalen Humanitären Rechts und der Menschenrechte dar. Der Konflikt wirkt sich auf die ganze Ukraine aus, da es viele Kriegsrückkehrern (vor allem Männer) gibt und die Zahl der Binnenflüchtlinge (IDPs) hoch ist. Viele Menschen haben Angehörige, die getötet oder entführt wurden oder weiterhin verschwunden sind. Laut der Special Monitoring Mission der OSZE sind täglich eine hohe Anzahl an Brüchen der Waffenruhe, die in den Minsker Abkommen vereinbart wurde, zu verzeichnen (ÖB 4.2017).

Russland kontrolliert das Gewaltniveau in der Ostukraine und intensiviert den Konflikt, wenn es russischen Interessen dient (USDOS 3.3.2017a).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 31.5.2017

-

AA - Auswärtiges Amt (2.2017b): Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

-

AA - Auswärtiges Amt (2.2017c): Außenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Aussenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

-

ÖB - Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

-

USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 12.7.2017

1.1. Ostukraine

Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 rissen pro-russische Separatisten in einigen Gebieten der Ost-Ukraine die Macht an sich und riefen, unterstützt von russischen Staatsangehörigen, die "Volksrepublik Donezk" und die "Volksrepublik Lugansk" aus. Der ukrainische Staat begann daraufhin eine sogenannte Antiterroroperation (ATO), um die staatliche Kontrolle wiederherzustellen. Bis August 2014 erzielten die ukrainischen Kräfte stetige Fortschritte, danach erlitten sie jedoch - bedingt durch militärische Unterstützung der Separatisten aus Russland - zum Teil schwerwiegende Verluste. Die trilaterale Kontaktgruppe mit Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE bemüht sich darum, den militärischen Konflikt zu beenden. Das Minsker Protokoll vom 5. September 2014, das Minsker Memorandum vom 19. September 2014 und das Minsker Maßnahmenpaket vom 12. Februar 2015 sehen unter anderem eine Feuerpause, den Abzug schwerer Waffen, die Gewährung eines "Sonderstatus" für einige Teile der Ost-Ukraine, die Durchführung von Lokalwahlen und die vollständige Wiederherstellung der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze vor. Die von der OSZE-Beobachtermission SMM überwachte Umsetzung, etwa des Truppenabzugs, erfolgt jedoch schleppend. Die Sicherheitslage im Osten des Landes bleibt volatil (AA 2.2017b).

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Berichte der OSZE-Beobachtermission, von Amnesty International sowie weiteren NGOs lassen den Schluss zu, dass es nach Ausbruch des Konflikts im März 2014 in den von Separatisten kontrollierten Gebieten zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Dazu zählen extralegale Tötungen auf Befehl örtlicher Kommandeure ebenso wie Freiheitsberaubung, Erpressung, Raub, Entführung, Scheinhinrichtungen und Vergewaltigungen. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte spricht von einem "vollständigen Zusammenbruch von Recht und Ordnung", von einem "unter den Bewohnern vorherrschenden Gefühl der Angst, besonders ausgeprägt in der Region Lugansk", sowie einer durch "fortgesetzte Beschränkungen der Grundrechte, die die Isolation der in diesen Regionen lebenden Bevölkerung verschärft, sowie des Zugangs zu Informationen" gekennzeichneten Menschenrechtslage. Die Zivilbevölkerung ist der Willkür der Soldateska schutzlos ausgeliefert, Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit sind faktisch suspendiert. Nach UN-Angaben sind seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen umgekommen. Es sind rund 1,7 Mio. Binnenflüchtlinge registriert und ca. 1,5 Mio. Menschen sind in Nachbarländer geflohen. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt: Die Sicherheitslage hat sich verbessert, auch wenn Waffenstillstandsverletzungen an der Tagesordnung bleiben. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt jedoch trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt neben den Lokalwahlen im besetzten Donbas der Dezentralisierungsprozess für den Donbas, den die Rada noch nicht abgeschlossen hat. In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Lugansk wird die staatliche Ordnung erhalten oder wieder hergestellt, um Wiederaufbau sowie humanitäre Versorgung der Bevölkerung zu ermöglichen (AA 7.2.2017).

Die von Russland unterstützten Separatisten im Donbas verüben weiterhin Entführungen, Folter und unrechtmäßige Inhaftierung, rekrutieren Kindersoldaten, unterdrücken abweichende Meinungen und schränken humanitäre Hilfe ein. Trotzdem dies offiziell weiterhin abgestritten wird, kontrolliert Russland das Ausmaß der Gewalt in der Ostukraine und eskaliert den Konflikt nach eigenem politischen Gutdünken. Die separatistischen bewaffneten Gruppen werden weiterhin von Russland trainiert, bewaffnet, geführt und gegebenenfalls direkt im Einsatz unterstützt. Die Arbeit internationaler Beobachter wird dabei nach Kräften behindert. Geschätzte 70 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Flächen in der Ostukraine wurden von den beiden Seiten vermint, speziell nahe der sogenannten Kontaktlinie. Diese Verminungen sind oft schlecht markiert und stellen eine Gefahr für Zivilisten dar. Bis zu 2.000 Zivilisten sollen im ostukrainischen Konfliktgebiet umgekommen sein, meist durch Artilleriebeschuss bewohnter Gebiete. Die Zahl derer, die durch Folter und andere Menschenrechtsverletzungen umgekommen sein dürften, geht in die Dutzende. 498 Personen (darunter 347 Zivilisten) bleiben vermisst. Die von Russland unterstützten Separatisten begingen systematisch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Schläge, Zwangsarbeit, Folter, Erniedrigung, sexuelle Gewalt, Verschwindenlassen aber auch Tötungen) sowohl zur Aufrechterhaltung der Kontrolle als auch zur Bereicherung. Sie entführen regelmäßig Personen für politische Zwecke oder zur Erpressung von Lösegeld, besonders an Checkpoints. Es kommt zu willkürlichen Inhaftierungen von Zivilpersonen bei völligem Fehlen jeglicher rechtsstaatlicher Kontrolle. Diese Entführungen führen wegen ihrer willkürlichen Natur zu großer Angst unter der Zivilbevölkerung. Von einem "Kollaps von Recht und Ordnung" in den Separatistengebieten wird berichtet. Internationalen und nationalen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise in die Separatistengebiete verweigert. Wenn Gruppen versuchen dort tätig zu werden, werden sie zum Ziel erheblicher Drangsale und Einschüchterung. Journalisten werden willkürlich inhaftiert und misshandelt. Die separatistischen bewaffneten Gruppen beeinflussen direkt die Medienberichterstattung in den selbsternannten Volksrepubliken. Freie (kritische) Meinungsäußerung ist nicht möglich. Da die separatistischen Machthaber die Einfuhr von humanitären Gütern durch ukrainische oder internationale Organisationen stark einschränken, sind die Anwohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk mit starken Preisanstiegen konfrontiert. An Medikamenten herrscht ein erheblicher Mangel. Das erschwert auch die Behandlung von HIV und Tuberkulose. Mehr als 6.000 HIV-positive Personen in der Region leiden unter dem Mangel an Medikamenten und Medizinern (USDOS 3.3.2017a).

In den ostukrainischen Konfliktgebieten begingen Berichten zufolge auch Regierungstruppen bzw. mit ihnen verbündete Gruppen Menschenrechtsverletzungen. Der ukrainische Geheimdienst (SBU) soll Personen geheim festhalten bzw. festgehalten haben (USDOS 3.3.2017a). Nach einem Bericht über illegale Haft und Folter, sowohl durch den ukrainischen SBU sowie durch prorussische Separatisten, reagierte im Juli 2016 der SBU mit der Entlassung von 13 Personen aus der Haft (die Illegalität der Haft wurde aber abgestritten). Von der separatistischen Seite ist nichts dergleichen berichtet, obwohl deren Vergehen viel zahlreicher waren (FH 1.2017; vgl. HRW 12.1.2017).

Trotz des Abkommens von Minsk ist in der Ostukraine immer noch kein tragfähiger Waffenstillstand zustande gekommen. Russland liefert weiterhin Waffen und stellt militärisches Personal als "Freiwillige". 2016 haben sich die lokalen Verwaltungen in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk institutionell konsolidiert und der Aufbau russisch kontrollierter Staatsgebilde ist überwiegend abgeschlossen. Unabhängige politische Aktivitäten und politische Parteien sind jedoch verboten, NGOs arbeiten dort nicht, und eine freie Presse ist nicht vorhanden (FH 29.3.2017).

Nach wie vor kam es im Osten der Ukraine auf beiden Seiten zu sporadischen Verstößen gegen den vereinbarten Waffenstillstand. Sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die pro-russischen Separatisten verübten Verletzungen des humanitären Völkerrechts, darunter Kriegsverbrechen wie Folter, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. In der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurden Personen, die der Unterstützung der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden, rechtswidrig inhaftiert, auch zum Zwecke des Gefangenenaustauschs. Sowohl seitens der ukrainischen Behörden als auch der separatistischen Kräfte im Osten der Ukraine kam es auf den von der jeweiligen Seite kontrollierten Gebieten zu rechtswidrigen Inhaftierungen. Zivilpersonen, die als Sympathisanten der anderen Seite galten, wurden als Geiseln für den Gefangenenaustausch benutzt. Wer für einen Gefangenenaustausch nicht in Frage kam, blieb häufig monatelang inoffiziell in Haft, ohne Rechtsbehelf oder Aussicht auf Freilassung. In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk setzten lokale "Ministerien für Staatssicherheit" die ihnen im Rahmen lokaler "Verordnungen" verliehenen Befugnisse dazu ein, Personen bis zu 30 Tage lang willkürlich zu inhaftieren und diese Haftdauer wiederholt zu verlängern. Die ukrainischen Behörden schränkten den Personenverkehr zwischen den von den Separatisten kontrollierten Regionen Donezk und Lugansk und den von der Ukraine kontrollierten Gebieten weiterhin stark ein (AI 22.2.2017).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk agieren lokale Sicherheitsdienste in einem vollkommenen rechtlichen Vakuum, wodurch die von ihnen festgenommenen Personen jeglicher Rechtssicherheit oder Beschwerdemöglichkeiten beraubt (HRW 12.1.2017).

In den von pro-russischen Kräften besetzten Gebieten im Osten der Ukraine kann in keinster Weise von einer freien, gar kritischen Presse die Rede sein. Die im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim bzw. im Zuge der Kampfhandlungen im Osten bekanntgewordenen und nicht zuletzt durch OSZE-Beobachter wiederholt thematisierten Verschleppungen von Journalisten durch Separatisten sowie die Behinderung objektiver Berichterstattung gaben ebenfalls zu verstärkter Sorge Anlass (ÖB 4.2017).

Pro-russische Separatisten in der Ostukraine entführen, inhaftieren, schlagen und bedrohen Mitglieder der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats, Zeugen Jehovas und Angehörige protestantischer Kirchen. Auch antisemitische Rhetorik und Handlungen werden berichtet. Sie verwüsten oder beschlagnahmen weiterhin Kirchenvermögen und geben vor, nur "offizielle Kirchen" dürften tätig werden. Faktisch werden religiöse Gruppen außer der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats systematisch diskriminiert (USDOS 10.8.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (2.2017b): Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

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AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336532/479204_de.html, Zugriff 1.6.2017

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FH - Freedom House (29.3.2017): Nations in Transit 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/338537/481540_de.html, Zugriff 1.6.2017

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FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336975/479728_de.html, Zugriff 22.6.2017

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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/334769/476523_de.html, Zugriff 6.6.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

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USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 31.5.2017

2. Rechtsschutz/Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering (USDOS 3.3.2017a).

Nach einer langen Phase der Stagnation nahm die Justizreform ab Juli 2016 mit Verfassungsänderungen und neuem rechtlichem Rahmen Fahrt auf. Für eine Bewertung der Effektivität der Reform ist es noch zu früh (FH 29.3.2017).

Die Reform der Justiz war eine der Kernforderungen der Demonstranten am sogenannten Euro-Maidan. Das größte Problem der ukrainischen Justiz war immer die mangelnde Unabhängigkeit der Richter von der Exekutive. Auch die Qualität der Gesetze gab stets Anlass zur Sorge. Noch problematischer war jedoch deren Umsetzung in der Praxis. Auch Korruption wird als großes Problem im Justizbereich wahrgenommen. Unter dem frisch ins Amt gekommenen Präsident Poroschenko machte sich die Regierung daher umgehend an umfassende Justizreformen. Mehrere größere Gesetzesänderungen hierzu wurden seither verabschiedet. Besonders hervorzuheben sind Gesetz Nr. 3524 betreffend Änderungen der Verfassung und Gesetz Nr. 4734 betreffend das Rechtssystem und den Status der Richter, die Ende September 2016 in Kraft traten. Mit diesen Gesetzen wurden die Struktur des Justizsystems reformiert und die professionellen Standards für Richter erhöht und ihre Verantwortlichkeit neu geregelt. Außerdem wurde der Richterschaft ein neuer Selbstverwaltungskörper gegeben, der sogenannte Obersten Justizrat (Supreme Council of Justice). Dieser ersetzt die bisherige Institution (Supreme Judicial Council), besteht hauptsächlich aus Richtern und hat ein Vorschlagsrecht für Richter, welche dann vom Präsidenten zu ernennen sind. Ebenso soll der Oberste Justizrat Richter suspendieren können. Die besonders kritisierte fünfjährige Probezeit der Richter wurde gestrichen und ihr Einkommen massiv erhöht. Auf der anderen Seite wurden die Ernennungskriterien für Richter erhöht, bereits ernannte Richter müssen sich einer Überprüfung unterziehen. Die Antikorruptionsregelungen wurden verschärft und die richterliche Immunität auf eine rein professionelle Immunität beschränkt. Richter, die die Herkunft ihres Vermögens (bzw. das enger Angehöriger) nicht belegen können, sind zu entlassen. Besonders augenfällig ist auch die Umstellung des Gerichtssystems von einem viergliedrigen zu einem dreigliedrigen System. Unter dem ebenfalls reformierten Obersten Gerichtshof als höchster Instanz, gibt es nun nur noch die Appellationsgerichte und unter diesen die lokalen Gerichte. Die zuvor existierenden verschiedensten Gerichtshöfe (zwischen Appellationsgerichten und Oberstem Gerichtshof) wurden abgeschafft. Außerdem wurde ein spezialisierter Antikorruptionsgerichtshof geschaffen, wenn auch dessen genaue Zuständigkeit noch durch Umsetzungsdekrete festzulegen ist. Die Kompetenz Gerichte zu schaffen oder umzuorganisieren etc., ging vom Präsidenten auf das Parlament über (BFA/OFPRA 5.2017).

Die andere große Baustelle des Justizsystems ist die Reform des Büros des Generalstaatsanwalts, der bislang mit weitreichenden, aus der Sowjetzeit herrührenden Kompetenzen ausgestattet war. Im April 2015 trat ein Gesetz zur Einschränkung dieser Kompetenzen bei gleichzeitiger Stärkung der Unabhängigkeit in Kraft, wurde in der Praxis aber nicht vollständig umgesetzt. Große Hoffnungen in diese Richtung werden in den im Mai 2016 ernannten neuen Generalstaatsanwalt Juri Lutsenko gesetzt. Eine neu geschaffene Generalinspektion soll die Legalität der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft überwachen. Die praktische Umsetzung all dieser Vorgaben erfordert allerdings die Verabschiedung einer Reihe begleitender Gesetze, die es abzuwarten gilt. Etwa 3.400 Posten in der Staatsanwaltschaft, die neu besetzt wurden, gingen überwiegend an Kandidaten, die bereits vorher in der Staatsanwaltschaft gewesen waren. Alle Kandidaten absolvierten eingehende und transparente Tests, aber am Ende waren unter den Ernannten nur 22 neue Gesichter, was in der Öffentlichkeit zu Kritik führte. Für die Generalinspektion ist aber neues Personal vorgesehen. Die schlechte Bezahlung der Staatsanwälte ist ein Einfallstor für Korruption. Der Antikorruptions-Staatsanwalt bekommt als einziger Staatsanwalt höhere Bezüge, obwohl gemäß Gesetz alle Staatsanwälte besser bezahlt werden müssten (BFA/OFPRA 5.2017; vgl. FH 29.3.2017).

Mit 1. Oktober 2016 hat die Generalstaatsanwaltschaft sechs Strafverfahren gegen Richter eingeleitet. Richter beschweren sich weiterhin über eine schwache Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative. Einige Richter berichten über Druckausübung durch hohe Politiker. Andere Faktoren behindern das Recht auf ein faires Verfahren, wie langwierige Gerichtsverfahren, vor allem in Verwaltungsgerichten, unzureichende Finanzierung und mangelnde Umsetzung von Gerichtsurteilen. Diese liegt bei nur 40% (USDOS 3.3.2017a).

Der unter der Präsidentschaft Janukowitschs zu beobachtende Missbrauch der Justiz als Hilfsmittel gegen politische Mitbewerber und kritische Mitglieder der Zivilgesellschaft ist im politischen Prozess der Ukraine heute nicht mehr zu finden. Es bestehen aber weiterhin strukturelle Defizite in der ukrainischen Justiz. Eine umfassende, an westeuropäischen Standards ausgerichtete Justizreform ist im September 2016 in Kraft getreten, deren vollständige Umsetzung wird jedoch noch einige Jahre in Anspruch nehmen (ÖB 4.2017).

Laut offizieller Statistik des EGMR befindet sich die Ukraine auf Platz 1 in Bezug auf die Anzahl an anhängigen Fällen in Strassburg (18.155, Stand 1.1.2017). 65% der anhängigen Fälle betreffen die nicht-Umsetzung von nationalen Urteilen. Wiederkehrende Vorwürfe des EGMR gegen die Ukraine kreisen auch um die überlange Dauer von Zivilprozessen und strafrechtlichen Voruntersuchungen ohne Möglichkeit, dagegen Rechtsmittel ergreifen zu können; Verstöße gegen Art. 5 der EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit); Unmenschliche Behandlung in Haft bzw. unzulängliche Untersuchung von derartig vorgebrachten Beschwerden; Unzureichende Haftbedingungen und medizinische Betreuung von Häftlingen (ÖB 4.2017).

Quellen:

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BFA/OFPRA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

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FH - Freedom House (29.3.2017): Nations in Transit 2017 - Ukraine, http://www.ecoi.net/local_link/338537/481540_de.html, Zugriff 6.6.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

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USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 31.5.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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