Entscheidungsdatum
08.01.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W228 2189031-1/6E
W228 2189033-1/6E
W228 2189035-1/6E
W228 2189037-1/7E
W228 2204557-1/6E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER über die Beschwerden des XXXX , geboren am XXXX 1987 (BF1), der XXXX , geboren am XXXX 1989 (BF2), der XXXX , geboren am XXXX 2011 (BF3), der XXXX , geboren am XXXX 2017 (BF4), sowie des XXXX , geboren am XXXX 2018 (BF5) alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, BF3, BF4 und BF5 vertreten durch die Mutter XXXX als gesetzliche Vertreterin, alle vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.02.2018 und 30.07.2018, Zlen: XXXX beschlossen:
A) In Erledigung der Beschwerden werden die angefochtenen Bescheide
behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang
Der BF1 und die BF2 sind illegal in die Republik Österreich eingereist und haben am 03.02.2016 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz gestellt.
Gleichzeitig wurde ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF3, am XXXX 2011 geborenes Kind des BF1 und der BF2 gestellt.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.02.2016 gab der BF1 zu seinem Fluchtgrund an, dass er Afghanistan wegen des Krieges verlassen habe.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.02.2016 gab die BF2 an, dass sie Afghanistan wegen des Krieges verlassen habe. Wegen des Krieges habe ihr Mann in Afghanistan nicht arbeiten können.
Am 14.02.2017 wurde durch die BF2 als gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF4, am XXXX 2017 geborenes Kind des BF1 und der BF2, gestellt.
Der BF1 wurde am 06.12.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er aus Kunduz stamme. Er habe nie eine Schule besucht und in der Landwirtschaft gearbeitet. Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der BF1 aus, dass die Stadt Kunduz unter der Kontrolle der Taliban gestanden sei. Die Taliban seien immer wieder gekommen und hätten die jungen Männer mitgenommen. Sie seien in die Häuser eingebrochen und hätten die Frauen vergewaltigt. Die Taliban hätten den Vater des BF1 aufgefordert, den BF1 zu ihnen zu schicken. Der Vater des BF1 habe schließlich die Flucht des BF1 organisiert. Der BF1 sei in der Folge mit seiner Familie in den Iran gegangen. Dort habe er einen Motorradunfall gehabt. Er sei ca. eine Woche im Koma gelegen und habe schwere Verletzungen davongetragen. Er leide nach wie vor unter starken Kopfschmerzen. Der BF1 führte weiters aus, dass er und seine Frau sowohl in Afghanistan als auch im Iran von seinem Vater schlecht behandelt worden seien.
Die BF2 wurde am 06.12.2017 ebenfalls beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie an, dass sie aus Kunduz stamme. Vor vier Jahren habe sie mit ihrer Familie Afghanistan verlassen und fortan im Iran gelebt. Zu ihrem Leben als Frau in Afghanistan befragt, führte die BF2 aus, dass Frauen in Afghanistan keine Rechte hätten. Ohne Erlaubnis des Mannes dürften Frauen nichts unternehmen. Sie habe nicht mit gebildeten Leuten und nicht mit lauter Stimme sprechen dürfen. Als Frau sei man eine Dienerin und müsse stets einen Tschador tragen. Zu ihrem Fluchtgrund befragt, gab die BF2 an, dass sie den Iran verlassen habe, weil ihr Mann einen Unfall gehabt habe und danach nicht mehr arbeiten habe können. Afghanistan hätten sie einst wegen der Taliban verlassen. Die Taliban seien in Kunduz an der Macht gewesen. Ihr Schwiegervater sei aufgefordert worden, seine Söhne den Taliban zu überlassen. Die BF2 führte weiters aus, dass sie sich in Österreich über verschiedene Religionen informiere und auch in die Kirche gegangen sei und keinen Ramadan mehr durchführe. Ihr Schwiegervater habe den Kontakt abgebrochen, weil er gesehen habe, dass sie kein Kopftuch mehr trage. Sie sei nie mit eigenen Willen in Richtung ihrer Religion gegangen.
Mit nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 06.02.2018 wurden die Anträge des BF1, der BF2, der BF3 und der BF4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde jeweils Feststellungen zu den Personen der BF, zu deren Fluchtgrund, zur Situation im Falle der Rückkehr und zur Situation im Herkunftsstaat. Es wurde ausgeführt, dass eine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan nicht glaubhaft gemacht werden habe können. Es seien auch keine Gründe hervorgekommen, die eine Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden.
Gegen die verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheide vom 06.02.2018 erhoben der BF1, die BF2, die BF3 und die BF4 mit Schriftsatz der Rechtsvertretung vom 07.03.2018 Beschwerde. Darin wurde ausgeführt, dass die BF im Falle einer Rückkehr einerseits Verfolgung durch die Taliban, da sich der BF1 der Zwangsrekrutierung entzogen habe, und andererseits Verfolgung aufgrund ihrer liberalen westlichen Einstellung zu befürchten hätten. Der Kontakt mit der Familie des BF1 sei abgebrochen, weil die Familie gesehen habe, dass die BF2 kein Kopftuch mehr trage und sie nun als Abtrünnige gesehen werde. Die belangte Behörde habe das Fluchtvorbringen der BF nicht ausreichend gewürdigt. Weiters habe sie den Gesundheitszustand des BF1 nicht ausreichend gewürdigt. Gänzlich würden Berichte zur Verfolgung von westlich orientierten Frauen fehlen. Die belangte Behörde habe es zudem unterlassen, die BF2 zu ihrer westlichen Gesinnung zu befragen. Eine solche Befragung wäre insbesondere deshalb indiziert gewesen, da aus ihren Angaben hervorgehe, dass sie die Werte und Traditionen, welche in der afghanischen Gesellschaft gelebt werden, ablehne. Dass die belangte Behörde nicht zur westlichen Orientierung ermittelt habe, stelle einen schweren Verfahrensmangel dar. In weiterer Folge wurde auf eine Vielzahl an Berichten zur allgemeinen Situation in Afghanistan verwiesen und wurde ausgeführt, dass es die belangte Behörde verabsäumt habe, vollständige Länderberichte zu recherchieren. Hätte die belangte Behörde ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren und eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung vorgenommen, wäre sie zu dem Schluss gekommen, dass den BF aufgrund ihre pro-westlichen Gesinnung asylrelevante Verfolgung drohe. Darüber hinaus drohe dem BF1 Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsrekrutierung betroffenen Personen sowie den BF2, BF3 und BF4 aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen.
Die Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten langten am 13.03.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Am 26.07.2018 wurde durch die BF2 als gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf internationalen Schutz für den BF5, am XXXX 2018 geborenes Kind des BF1 und der BF2, gestellt.
Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 30.07.2018 wurde der Antrag des BF5 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Gegen verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheid vom 30.07.2018 erhob der BF5 mit Schriftsatz der Rechtsvertretung vom 27.08.2018 Beschwerde. Es wurde ausgeführt, dass es die belangte Behörde unterlassen habe, ein ordnungsgemäßes eigenständiges Ermittlungsverfahren in Bezug auf den BF5 durchzuführen. Darüber hinaus würden sich im angefochtenen Bescheid mangelhafte Feststellungen sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung finden.
Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakte langten am 17.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Am 03.08.2018 langte eine Dokumentenvorlage betreffend die Integration der BF2 in Österreich beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Am 08.11.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Abschluss-Bericht der LPD Steiermark vom 16.10.2018 ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF1 und die BF2 sind illegal in die Republik Österreich eingereist und haben am 03.02.2016 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz gestellt.
Gleichzeitig wurde ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF3, am XXXX 2011 geborenes Kind des BF1 und der BF2 gestellt.
Am 14.02.2017 wurde durch die BF2 als gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF4, am XXXX 2017 geborenes Kind des BF1 und der BF2, gestellt.
Am 26.07.2018 wurde durch die BF2 als gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf internationalen Schutz für den BF5, am XXXX 2018 geborenes Kind des BF1 und der BF2, gestellt.
Die belangte Behörde hat es in den gegenständlich angefochtenen Bescheiden unterlassen, konkrete Feststellungen hinsichtlich der individuellen Situation der BF, insbesondere der minderjährigen BF3, BF4 und BF5 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu treffen. Sie hat insbesondere keine ausreichenden Feststellungen hinsichtlich der Situation von Kindern bzw. Minderjährigen in Afghanistan getroffen.
Die belangte Behörde hat es zudem unterlassen, die individuelle Situation der BF2 als Frau in Afghanistan zu erörtern. Sie hat es unterlassen festzustellen, inwieweit bei der BF2 eine verfahrensrelevante fundierte westliche Gesinnung oder ein relevanter westlicher Lebensstil abzuleiten ist.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich aus den Verfahrensakten, insbesondere aus den Bescheiden vom 06.02.2018 und 30.07.2018.
3. Rechtliche Beurteilung:
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl I Nr. 10/2013 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG) nicht getroffen und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Die zentrale Regelung zur Frage der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte bildet § 28 VwGVG.
"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist."
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.
Zu A) Zurückverweisung der Beschwerde:
Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat oder, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat oder, wenn die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.
Das Bundesamt hat betreffend mehrerer wesentlicher Verfahrensfragen den entscheidungsrelevanten Sachverhalt nicht bzw. nicht ausreichend ermittelt, hat verfahrenswesentliche Feststellungen nicht getroffen und entsprechende Länderfeststellungen den gegenständlichen Bescheiden nicht zu Grunde gelegt.
Auch unter Verweis auf die jüngste Entscheidung des VfGH (etwa E 3507/2017-15 vom 27. Februar 2018) ist festzuhalten, dass die im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Länderberichte unter anderem nur allgemeine Ausführungen zur Situation von Kindern in Afghanistan enthalten. Aus den in den gegenständlichen Bescheiden zu Grunde gelegten Länderfeststellungen geht insbesondere hervor, dass die Menschenrechtssituation von Kindern in Afghanistan insgesamt Anlass zur Sorge gebe. So wird ausgeführt, dass körperliche Züchtigungen und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei verbreitet seien und der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem sei. Der sexuelle Missbrauch von Jungen sei weit verbreitet, eine polizeiliche Aufklärung finde nicht statt. Die Länderberichte nennen Kinderarbeit als Problem. Die Regierung zeige auch nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien. Rund 22% der Kinder in Afghanistan würden einer Arbeit nachzugehen haben. Betreffend die Ausbildungssituation wären Defizite zu erkennen. Den gegenständlichen Länderinformationen ist insbesondere weiters auch zu entnehmen, dass viele Kinder in Afghanistan unterernährt seien und ca. 10% der Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr sterben würden.
In seiner Begründung, insbesondere zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten, setzt sich das BFA jedoch nicht weiter mit der Situation von Minderjährigen in Afghanistan insgesamt und diesbezüglich auch nicht mit den in den angefochtenen Bescheiden zitierten Länderberichten auseinander, bzw. würdigt auf die Informationen der den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten Länderfeststellungen aufbauend, nicht ausreichend die individuelle konkrete Situation der Familie bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan. Vielmehr beschränkt sich das BFA in diesem Zusammenhang auf eine allgemeine Ausführung, dass die BF nicht zu befürchten hätten, dass sie nach ihrer Rückkehr in eine existenzbedrohende bzw. ausweglose Lage geraten könnten. Dafür, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären, würde es keine hinreichenden Anhaltspunkte geben.
Insofern geht das BFA aber auf die Minderjährigkeit der BF3, der BF4 und des BF5 nicht ausreichend ein. Es unterlässt jegliche vertiefende bzw. individuelle Auseinandersetzung mit den in den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten kinderspezifischen Länderberichten und der Frage, ob den drei Kindern, im Zeitpunkt der Entscheidung des BFA sieben und ein Jahr(e) sowie ein Monat alt, im Falle einer Rückkehr eine Verletzung ihrer gemäß Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte droht (vgl. hiezu jüngst VfGH 21.9.2017, E 2130/2017 ua.; 11.10.2017 E 1734/2017 ua.; 11.10.2017 1803/2017 ua.). Die Entscheidungen betreffend die minderjährigen BF3, BF4 und BF5 sind somit begründungslos ergangen. Diese Begründungslosigkeit schlägt auch auf die Entscheidungen der BF1 und BF2 durch, da ein anderes Ergebnis bei nur einem im vorigen Satz genannten BF zwangsläufig auch auf die restlichen BF umzulegen ist.
Weiters ist festzuhalten, dass auch hinsichtlich des von der BF2 im Zuge der Befragung vor dem BFA erstatteten Vorbringens wesentliche verfahrensrelevante Abklärungen unterlassen worden sind. So führte die BF2 unter anderem während ihrer Einvernahme vor dem BFA am 06.12.2017 aus, dass Frauen in Afghanistan keine Rechte hätten. Ohne Erlaubnis des Mannes dürften Frauen nichts unternehmen. Sie habe nicht mit gebildeten Leuten und nicht mit lauter Stimme sprechen dürfen und habe nicht einmal die Türe öffnen dürfen. Als Frau sei man eine Dienerin und müsse stets einen Tschador tragen. Es ist jedoch seitens des BFA verabsäumt worden, mit der BF2 diesbezüglich ihre individuelle Situation in Afghanistan näher zu erläutern.
Die BF2 führte in der Einvernahme am 06.12.2017 weiters aus, dass sie in Österreich kein Kopftuch tragen müsse, hier stets an Deutschkursen teilgenommen habe, sonntags zum Fußballspielen gehe und wie ein österreichischer Bürger arbeiten wolle. Die belangte Behörde hat sich jedoch nicht näher mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt.
Wie auch in der Beschwerde ausgeführt wurde, hätten betreffend die BF2 auch bereits mehrere während der Einvernahme erkennbare äußere Erscheinungsmerkmale auf eine möglicherweise bestehende westliche Orientierung hingewiesen. Weitere diesbezügliche Nachfragen bzw. Abklärungen wurden im gegenständlichen Verfahren jedoch nicht vorgenommen. So wurde im gegenständlichen Verfahren etwa auch nicht auf Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der BF2 - unter Heranziehung aktueller Länderberichte - die zu erwartende Reaktion in Afghanistan auf eine von ihr angestrebte Lebensweise geprüft (etwa VwGH, Zlen Ra 2014/20/0017 und 0018-9, 28.05.2014). Wenn das BFA in Hinblick auf die Ausführungen der BF2 hinsichtlich der Unterdrückungen der Frauen in Afghanistan sich auf die herangezogenen Länderfeststellungen beruft, wonach sich die Situation der Frauen nach der Herrschaft der Taliban erheblich verbessert hat, so übersieht das BFA, dass die BF2 in der mit ihr aufgenommenen Niederschrift von massiven Problemen als Frau in Afghanistan gesprochen hat. Ihren Ausführungen nach gehe es dabei um die allgemeine Sicherheit der Frauen; so schilderte sie konkret ihre Situation der Unterdrückung als Frau in Afghanistan. Wenn den vom BFA herangezogenen Länderfeststellungen zu entnehmen ist, dass die Verteidigung der Rechte der Frauen in einem Land, indem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt ist und von der traditionellen Stammeskultur bestimmt ist, nur eingeschränkt möglich sei bzw. staatliche Akteure nicht gewillt seien die Rechte der Frauen zu schützen, Richter durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt werden würden Täter freizulassen, so übersieht das BFA, dass dieses bei offensichtlichen Zweifeln an dieser Situation aufgrund seiner Ermittlungspflicht noch entsprechende Nachforschungen und Nachfragen in Verfahren zu tätigen gehabt hätte.
Bereits im erstinstanzlichen Verfahren ist zu ermitteln und festzuhalten, inwieweit aus solchen Aussagen der BF2, aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes und eines Berufswunsches eine verfahrensrelevante fundierte westliche Gesinnung oder ein relevanter westlicher Lebensstil abzuleiten ist. Das Unterlassen jeglicher weiteren hierauf bezogenen Abklärungstätigkeit stellt im gegenständlichen Verfahren einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel dar.
Aufgrund des gänzlichen diesbezüglichen Unterlassens von weiteren Nachfragen, kann nicht nachvollzogen werden, auf welchen Grundlagen die Aussagen der BF2, dass diese in Afghanistan nicht frei hätte leben können, seitens des BFA als unglaubwürdig beurteilt worden sind.
Festzuhalten ist zudem, dass die BF2 in ihrer Einvernahme vor dem BFA ausführte, dass sie niemals mit eigenem Willen und bewusst in Richtung des Islam gegangen sei, sondern sie seit ihrer Kindheit gezwungen worden sei, etwas für diese Religion zu tun. Sie gab an, dass sie in Österreich keinen Ramadan mehr durchführe, bereits in die Kirche gegangen sei und sich über verschiedene Religionen informiere. Die belangte Behörde hat dieses Vorbringen jedoch nicht weiter beachtet bzw. aufgegriffen und hat keine weiteren Fragen betreffend eine mögliche Apostasie/Konversion gestellt.
Der von der Verwaltungsbehörde ermittelte Sachverhalt ist somit in mehreren Punkten grundlegend ergänzungsbedürftig.
Das BFA wird somit die oben angeführten Ermittlungen nachzuholen haben.
Die Vornahme solcherart verfahrenswesentlicher Abklärungen kann nicht gänzlich zur erstmaligen bzw. vollständigen Ermittlung im Beschwerdeverfahren an das BVwG delegiert werden. Eine solcherart gänzliche erstmalige Vornahme in den angeführten Punkten verfahrenswesentlich durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine solcherart auch darauf aufbauende erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann jedenfalls nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dies insbesondere auch unter besonderer Berücksichtigung des Umstandes, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist und eine sämtliche verfahrensrelevanten Aspekte abdeckende Prüfung des Antrages nicht erst beim BVwG beginnen und zugleich enden soll.
Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt als bloß ansatzweise ermittelt erweist, sodass grundlegende und geeignete Ermittlungen und darauf aufbauende Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteiverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.
Auf Grundlage der neuen Ermittlungsergebnisse wird das BFA nach Vornahme von entsprechenden Abklärungen und unter Zugrundelegung von aktuellen, die oben angeführten Punkte abklärenden Länderfeststellungen, neue Bescheide zu erlassen haben.
Das Bundesverwaltungsgericht hat daher die angefochtenen Bescheide mit Beschluss aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
In der Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht wurde ausgeführt, dass im erstbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, vielmehr orientiert sich der vorliegende Beschluss an der aktuellen Rechtsprechung (26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 und 24.02.2016, Zl. Ra 2015/08/0209) des Verwaltungsgerichtshofes zur Anwendung des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelndeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W228.2189037.1.00Zuletzt aktualisiert am
27.02.2019