Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter KAD Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Bauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E***** G*****, vertreten durch Mag. Michael Kadlicz, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Entziehung des Rehabilitationsgeldes, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. August 2018, GZ 9 Rs 29/18b-22, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 24. Jänner 2018, GZ 4 Cgs 66/17s-14, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 9. Februar 2018, GZ 4 Cgs 66/17s-16, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Aus Anlass der Revision werden die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorangegangene Verfahren im Umfang des Begehrens, es werde festgestellt, dass beim Kläger dauernde Invalidität ab dem Stichtag vorliege, sowie im Umfang der Entscheidung über die Invaliditätspension ab dem 1. Juni 2017 als nichtig aufgehoben. Die Klage wird im Umfang des Begehrens auf Feststellung, dass dauernde Invalidität ab dem Stichtag vorliege, wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der 1975 geborene Kläger bezog ab dem Jahr 2013 eine bis 28. 2. 2015 befristete Invaliditätspension. Mit Bescheid vom 30. 1. 2015 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Weitergewährung der befristeten Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege. Sie sprach weiters aus, dass ab 1. 3. 2015 weiterhin vorübergehende Invalidität vorliege und als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten sei. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Ab dem 1. 3. 2015 bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 24. 3. 2017 sprach die Beklagte aus, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 30. 4. 2017 entzogen werde. Dies wurde mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers begründet.
Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass Invalidität mindestens im Ausmaß von sechs Monaten vorliege, sowie die Weitergewährung von Rehabilitationsgeld über den 30. 4. 2017 hinaus, hilfsweise die Feststellung, dass dauernde Invalidität ab dem Stichtag bestehe.
Die Beklagte hielt dem entgegen, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers wesentlich verbessert habe.
Das Erstgericht wies die auf Feststellung des Vorliegens von Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten und auf Weitergewährung von Rehabilitationsgeld gerichteten Hauptbegehren ab (Spruchpunkt 1) und verpflichtete die Beklagte zur Leistung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. 6. 2017 (Spruchpunkt 2).
Der Gesundheitszustand und die Leistungsfähigkeit des Klägers seien mit 30. 4. 2017 derart verbessert gewesen, dass er wieder in der Lage gewesen sei, diverse Hilfskrafttätigkeiten auszuüben. Der Gesundheitszustand habe sich in der Folge aber wieder derart verschlechtert, dass der Kläger ab dem 1. 6. 2017 nicht mehr am allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar sei. Eine kalkülsrelevante Besserung sei nicht zu erwarten, sodass von dauerhafter Invalidität auszugehen und dem Kläger eine Invaliditätspension zuzusprechen sei.
Das Berufungsgericht gab der ausschließlich von der Beklagten erhobenen Berufung teilweise Folge und wies – offenbar in Abänderung von Spruchpunkt 2 des Ersturteils – das Eventualbegehren auf Feststellung dauernder Invalidität ab.
Rechtlich führte es aus, die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers bewirkten keinen Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Die Revision ließ das Berufungsgericht mangels Vorliegens einer Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts begehrt; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte beantragt in der ihr gemäß § 508a Abs 2 ZPO freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig, weil eine Nichtigkeit der Entscheidungen der Vorinstanzen aufzugreifen ist.
1. Nach dem in Sozialrechtssachen geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz kann in einer Leistungssache – abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall des § 65 Abs 1 Z 3 ASGG und vorbehaltlich des ebenfalls nicht in Rede stehenden § 68 ASGG – das Gericht nur angerufen werden, wenn vom Versicherungsträger entweder „darüber“, das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch des Versicherten, bereits ein Bescheid erlassen wurde oder der Versicherungsträger mit der Bescheiderlassung säumig geworden ist (§ 67 Abs 1 ASGG; RIS-Justiz RS0085867).
Insofern ist der mögliche Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens durch Antrag, Bescheid und Klagebegehren in dreifacher Weise eingegrenzt (Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 4 mwH; RIS-Justiz RS0105139 [T1]). Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss demnach mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein, ansonsten fehlt es bei einer Bescheidklage an einer „darüber“ ergangenen Entscheidung des Versicherungsträgers. In einem solchen Fall ist eine Klage gemäß § 73 ASGG von Amts wegen wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0042080). Ein davon betroffener Verfahrensteil ist als nichtig aufzuheben (10 ObS 53/17t; 10 ObS 4/16k, SSV-NF 30/33).
2.1. Nach der Rechtslage seit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3) gebührt für diejenigen Versicherten, die – wie der Kläger – am 1. 1. 2014 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, bei vorübergehender Invalidität Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, bei dauernder Invalidität Invaliditätspension aus der Pensionsversicherung. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Leistungen, die auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen (10 ObS 116/16f).
2.2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass die Beklagte dann, wenn nur der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung Gegenstand des Verwaltungsverfahrens sind, zwar die Frage der vorübergehenden Invalidität und deren Wegfalls im Verfahren zu prüfen hat, dies aber nichts am Verfahrensgegenstand ändert (10 ObS 116/16f). Tritt daher während des Bezugs von Rehabilitationsgeld beim Versicherten dauerhafte Invalidität ein, so hat dies nicht zur Folge, dass Gegenstand des (Entziehungs-)Verfahrens vor dem Pensionsversicherungsträger deshalb ein Anspruch auf Invaliditätspension wäre. Der Eintritt dauerhafter Invalidität bildet in einem solchen Fall lediglich einen – vom Wegfall der vorübergehenden Invalidität iSd § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG zu unterscheidenden – Entziehungstatbestand gemäß § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG. Gegenstand des Verfahrens bleiben aber der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung (10 ObS 116/16f).
2.3. Erst für das weitere Vorgehen nach Abschluss des Verfahrens über die Entziehung von Rehabilitationsgeld ordnen die Bestimmungen des § 361 Abs 5 ASVG iVm § 86 Abs 6 ASVG an, dass (nur) bei Vorliegen des Entziehungstatbestands des § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG die Leistungen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ohne weitere Antragstellung anfallen und das Leistungsfeststellungsverfahren über einen Anspruch aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (etwa auf Invaliditätspension) vom Pensionsversicherungsträger von Amts wegen einzuleiten ist (ErläutRV 321 BlgNR 25. GP 4; 10 ObS 116/16f mwN).
2.4. Selbst wenn sich daher in einem Fall wie dem vorliegenden im Gerichtsverfahren der Eintritt dauerhafter Invalidität herausstellen sollte, könnte das Arbeits- und Sozialgericht eine Invaliditätspension nicht zusprechen, weil dieser Anspruch nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens war und der Pensionsversicherungsträger über einen solchen Anspruch noch keinen Bescheid erlassen hat (10 ObS 116/16f; Sonntag, Neues zur vorübergehenden Invalidität, AsoK 2015, 420 [429]).
3.1. Im vorliegenden Fall wurde das auf Feststellung des Vorliegens von Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten und auf Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes gerichtete Hauptbegehren des Klägers vom Erstgericht rechtskräftig abgewiesen. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch das auf Feststellung des Vorliegens dauernder Invalidität gerichtete Eventualbegehren.
3.2. Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität nicht vorliege und hat das Rehabilitationsgeld entzogen. Über das Bestehen dauernder Invalidität hat sie nicht abgesprochen; auch ein Anspruch auf Invaliditätspension war nicht Gegenstand des vor der Beklagten geführten Verfahrens oder ihrer Entscheidung.
Mangels eines „darüber“ ergangenen Bescheids iSd § 67 Abs 1 Z 1 ASGG konnten daher weder das Bestehen dauernder Invalidität noch der Anspruch auf Invaliditätspension zulässiger Gegenstand einer gegen den angefochtenen Bescheid gerichteten Klage oder einer gerichtlichen Entscheidung sein.
4. Die Erhebung einer Klage vor Bescheiderlassung ist nur in den Säumnisfällen des § 67 Abs 1 Z 2 und – hier nicht in Betracht kommend – Z 3 ASGG möglich (Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 12).
Ein Säumnisfall iSd § 67 Abs 1 Z 2 ASGG erfordert, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist (10 ObS 116/16f; Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 12). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Auch der Kläger hat nicht behauptet, einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension oder auf Feststellung, ob Invalidität dauerhaft vorliegt (§ 255a ASVG) gestellt zu haben, der eine Pflicht der Beklagten zur Erlassung eines Bescheids auslösen könnte. Andererseits könnte eine (amtswegige) Verpflichtung zur Erlassung eines Bescheids über einen Anspruch aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit in einem Fall, in dem sich dauerhafte Invalidität erst während des gerichtlichen Verfahrens über die Entziehung von Rehabilitationsgeld herausstellt (sodass der Entziehungstatbestand des § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG vorläge), gemäß §§ 86 Abs 6, 361 Abs 5 ASVG erst nach rechtskräftigem Abschluss des Entziehungsverfahrens entstehen, sodass auch in diesem Fall keine Säumnis der Beklagten vorliegen kann (10 ObS 116/16f).
5. Da die Feststellung der dauerhaften Invalidität und die Gewährung einer Invaliditätspension nicht Gegenstand eines „darüber“ ergangenen Bescheids der Beklagten waren und ein Säumnisfall nicht vorliegt, sind die für die Zulässigkeit des Rechtswegs erforderlichen Verfahrensvoraussetzungen nicht erfüllt. Aus Anlass der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen und die davon betroffenen Verfahrensteile von Amts wegen wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs insoweit als nichtig aufzuheben (RIS-Justiz RS0042080), als damit über das Vorliegen dauerhafter Invalidität und über einen Anspruch auf Invaliditätspension ab dem 1. 6. 2017 abgesprochen wurde. Die Klage war gemäß § 73 ASGG im Umfang des Eventualbegehrens zurückzuweisen.
Textnummer
E124130European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00125.18G.0122.000Im RIS seit
26.02.2019Zuletzt aktualisiert am
16.09.2020