TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/24 W249 2160795-1

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Veröffentlicht am 24.10.2018
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Entscheidungsdatum

24.10.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W249 2160795-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ingrid ZEHETNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.08.2018

A)

I. beschlossen:

Das Verfahren über die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen mit der Maßgabe, dass Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat:

"Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge "BF") stellte nach unrechtmäßiger, schlepperunterstützter Einreise am 03.12.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am selben Tag vor der Polizeiinspektion XXXX erfolgten Erstbefragung im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi und einer Rechtsberaterin gab der zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährige BF im Wesentlichen an, er sei am XXXX in Teheran, Iran, geboren und aufgewachsen, schiitischen Bekenntnisses und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er sei ledig und spreche Farsi und Dari. Der BF habe im Iran von 2006 bis 2011 Unterricht durch eine private Lehrerin erhalten und sei von 2011 bis 2012 als Landarbeiter tätig gewesen.

Er brachte weiters vor, dass seine finanzielle Situation in Afghanistan "mittel" gewesen sei; die seiner Familie "schlecht" (sein Vater arbeite als Hilfsarbeiter). Vor ca. 1 1/2 Monaten habe der BF selbst den Entschluss zur Ausreise gefasst und habe dafür EUR 3.500,-- gezahlt.

Zum Fluchtgrund führte der BF aus, dass er illegal im Iran aufhältig gewesen sei; dadurch habe er keine Möglichkeiten zu einem Schulbesuch gehabt. Sein Vater habe Angst gehabt, angehalten und abgeschoben zu werden. Die Familie habe in einem Gebiet mit hauptsächlich Afghanen gelebt und nur sehr schlechte Möglichkeiten und Lebensbedingungen gehabt. Der BF habe keine Zukunft im Iran. Er habe Angst vor einer Rückkehr wegen weiterer Benachteiligungen aufgrund seiner Herkunft und Abstammung aus Afghanistan.

3. Der BF wurde am 13.03.2013 vor dem Bundesasylamt (in der Folge "BAA") niederschriftlich einvernommen. Er legte dabei eine Schulbestätigung (20.02.2013) und einen Obsorgebeschluss (03.01.2013) vor.

Im Rahmen der Befragung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi und einer Rechtsvertreterin führte der BF an, dass er in XXXX (Ort, der 1 bis 2 Stunden von Teheran entfernt sei), Iran, geboren worden sei und dort bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Er habe dort 5 Jahre lang eine afghanische Schule besucht und auf Baustellen und in der Landwirtschaft gearbeitet. Vor 2 Wochen habe der BF mit seiner Familie zuletzt Kontakt gehabt. Sein Vater verdiene den Lebensunterhalt der Familie, indem er auf Baustellen arbeite. Nebenbei sei er zusätzlich in der Landwirtschaft tätig. Seine Eltern würden aus Daikundi stammen. Der BF selbst sei noch nie in Afghanistan gewesen.

Zu den Fluchtgründen der Eltern aus Afghanistan befragt gab der BF im Wesentlichen an, dass diese Feinde (Onkel mütterlicherseits) wegen Grundstückstreitigkeiten gehabt hätten. Ein Bruder der Mutter sei bei den Streitigkeiten sogar ums Leben gekommen. Ein Sohn des Onkels sei mit Freunden sodann extra in den Iran gekommen und diese hätten dem BF Verletzungen mit einem Messer zugefügt.

Den Iran habe der BF verlassen, weil es dort keine Sicherheit gegeben habe und er kein Recht gehabt habe, zu arbeiten. Man werde als Afghane auch schlecht von den Arbeitgebern behandelt. Auch aufgrund der Feindschaft habe er nicht mehr im Iran leben können.

Zu seinem Tagesablauf in Österreich befragt schilderte der BF, er in die Schule gehe (4. Klasse).

4. Der BF wurde am XXXX aufgrund des Diebstahls von Schuhen und Kleidungsstücken aus Geschäften angezeigt. Am XXXX folgte eine gerichtliche Verurteilung wegen § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung), am XXXX wegen §§ 223 Abs. 1, 224 StGB (Urkundenfälschung) und § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung), am XXXX wegen § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften), am XXXX wegen §§ 15, 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften), am XXXX wegen § 27 Abs. 2a zweiter und dritter Fall und Abs. 3 SMG (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften) und am XXXX wegen § 105 Abs. 1 StGB (Nötigung).

5. Am 08.02.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen- und Asyl (in der Folge "BFA") in der Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Er gab ergänzend zu seinen bisherigen Aussagen an, dass sein jüngster Bruder sich seit Sommer 2015 in Österreich befinde. Seine Eltern und seine Schwester seien weiterhin im Iran. Der älteste Bruder des BF sei nach Afghanistan abgeschoben worden; sein Aufenthalt sei dem BF aber unbekannt, und es bestehe kein Kontakt.

Der BF gab zum Fluchtgrund seiner Eltern an, dass diese arbeitslos gewesen seien und keine Zukunftsperspektive gehabt hätten. Neben den finanziellen Problemen habe es auch Feindschaften mit der Familie der Mutter wegen Grundstückstreitigkeiten gegeben.

Der BF fürchte sich vor Afghanistan, weil er bisher nur Negatives über das Land gehört habe. Die Ausreise aus dem Iran sei sein eigener Entschluss gewesen. Finanzielle Gründe hätten ihn zur Ausreise motiviert.

6. Am 04.05.2017 kam es zu einer neuerlichen Befragung des BF vor dem BFA in der Sprache Dari hinsichtlich seines Bruders, zu dessen Leben er keine Angaben machen konnte, außer, dass er sich in einer Betreuungsstelle in Niederösterreich (Gänserndorf) aufhalte.

7. Das BFA wies mit dem angeführten Bescheid vom 05.05.2017 den gegenständlichen Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge "AsylG") (Spruchpunkt I.) und bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (in der Folge "FPG") erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt IV.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.). Zudem verlor der BF mit 14.01.2014 sein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet (Spruchpunkt VI.), und es wurde gegen ihn ein 9-jähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Dabei traf das BFA Feststellungen zur Person des BF (Bescheid S. 13ff, AS 287ff) und führte insbesondere aus, dass der BF in Afghanistan keiner asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt gewesen sei und eine solche auch nicht zu befürchten habe, im arbeitsfähigen Alter und gesund sei sowie kein schützenswertes Familienleben iSd Art. 8 EMRK vorliege (Beweiswürdigung s. Bescheid S. 97ff, AS 375ff).

8. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 10.05.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die XXXX als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

9. Am selben Tag erfolgte eine Information über die Verpflichtung zur Ausreise.

10. Mit 29.05.2017 wurde die XXXX zur rechtsfreundlichen Vertretung des BF bevollmächtigt.

11. Mit Schreiben vom 01.06.2017 erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Diese brachte im Wesentlichen vor, dass die belangte Behörde die Berichte zur Situation der Rückkehrer aus dem Iran und der Hazara sowie zur allgemeinen Sicherheitslage (im Speziellen Kabul), die als unsicher einzustufen sei, nicht entsprechend gewürdigt habe. Der BF habe sich noch nie in Kabul aufgehalten und verfüge über kein soziales Netz. Außerdem sei der afghanische Staat weder schutzfähig noch schutzwillig. Die belangte Behörde habe auch aufgrund einer unschlüssigen Beweiswürdigung Feststellungen getroffen und übersehen, dass ein schützenswertes Familienleben bestehe. Der BF stehe in regelmäßigem Kontakt mit seinem kleinen Bruder. Zum Privatleben führte die Beschwerde aus, dass der BF sich zwar mehrere Verfehlungen geleistet haben möge, diese jedoch nicht als Verbrechen zu werten seien und er sich dem Unrechtsgehalt seiner Handlungen zur Gänze bewusst sei, weshalb er sich das gesamte letzte Jahr nichts mehr zu Schulden hätte kommen lassen. Die Integrationsbemühungen des BF seien ebenfalls zu beachten. Zudem sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, um dem BF sein Recht auf wirksame Beschwerde vor einem gesetzlichen Richter zu ermöglichen. Auch das Einreiseverbot für die Dauer von 9 Jahren erweise sich als unrechtmäßig und unverhältnismäßig, habe der BF doch sein Leben gewandelt und gelte seine volle Konzentration nun seiner Ausbildung. Außerdem handle es sich um Strafen, die in der Jugend begangen worden seien und lediglich Vergehen darstellen würden.

12. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge auch "BVwG") am 02.06.2017, eingelangt am 08.06.2017, vorgelegt.

13. Mit Beschluss vom 09.06.2017, GZ W249 2160795-1/3Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

14. Am XXXX wurde der BF wegen § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 und § 27 Abs. 2a und Abs. 3 SMG (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften) verurteilt.

15. Am 09.08.2018 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Das BFA verzichtete mit der Beschwerdevorlage vom 02.06.2017 auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Im Zuge dieser Verhandlung wurde durch Parteienvernehmung des BF in Anwesenheit seiner Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari Beweis erhoben. Während seiner Einvernahme zog der BF nach Erörterung mit seiner Rechtsvertreterin die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide zurück.

16. Die Niederschrift der Befragung des BF lautet auszugsweise:

"Zur heutigen Situation:

R: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja.

R: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Nein.

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen

Lebensumständen:

R: Vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wurden im angefochtenen Bescheid die Feststellungen getroffen, dass Sie XXXX heißen, am XXXX geboren sind, Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan sind sowie der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam angehören. Sind diese Feststellungen korrekt?

BF: Ja.

R: Ist es richtig, dass Sie im Iran geboren wurden und noch nie in Afghanistan waren?

BF: Ja.

[...]

R: Haben Sie im Iran eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich habe fünf Jahre eine Grundschule besucht, ansonsten habe ich keine Ausbildung absolviert.

R: Womit haben Sie sich im Iran Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF: Ich habe meinem Vater beim Arbeiten geholfen. Nachgefragt gebe ich an, dass wir eine Landwirtschaft gehabt haben. Mein Vater ist für meinen Lebensunterhalt aufgekommen.

R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde)?

BF: Nein, ich war noch nie in Afghanistan. Nachgefragt gebe ich an, dass ich noch nie Papiere gehabt habe.

R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.

R: Wann haben Sie den Iran zuletzt genau verlassen?

BF: Im Jahr 2012, da war ich 13 Jahre alt.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

R: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF: Mein Bruder lebt in Österreich.

R: Haben Sie Kontakt zu Ihrem in Österreich lebenden Bruder?

BF: Seit ich im Gefängnis bin, nicht mehr. Nachgefragt gebe ich an, dass ich davor "normalen Kontakt" zu ihm hatte. Nachgefragt gebe ich an, dass ich damit meine, dass wir gemeinsam aufgewachsen sind. Wir haben uns in Österreich täglich getroffen, wenn wir Zeit hatten, ansonsten haben wir miteinander telefoniert. Nachgefragt gebe ich an, dass mich mein Bruder nicht im Gefängnis besucht hat. Nachgefragt gebe ich an, dass ich seit Juli 2017 im Gefängnis bin.

R ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. R stellt diverse Fragen.

R stellt fest, dass BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und gut auf Deutsch beantwortet hat.

R: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?

BF: Ja, ich habe bereits die Sprachkurse A1, A2 und B1 sowie einen Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluß absolviert. Derzeit besuche ich keinen Kurs. Ich benötige nämlich keinen Kurs, weil ich Deutsch kann.

R: Hatten Sie Arbeit in Österreich? Sind Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nachgegangen?

BF: Nein.

R: Besuchen Sie oder haben Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule besucht; sind oder waren Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen oder gingen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?

BF: Bevor ich verhaftet worden bin, habe ich Fußball gespielt. Derzeit mache ich Freigymnastik in meiner Zelle. Zu Schule und Kursen verweise ich auf meine vorigen Antworten.

R: Sind oder waren Sie ehrenamtlich tätig?

BF: Ja, im Jahr 2015 beim Flüchtlingsstrom habe ich am Westbahnhof freiwillig gearbeitet bzw. gedolmetscht. Derzeit mache ich leichte Arbeiten im Gefängnis und verdiene auch Geld damit.

R: Haben Sie österr. Freunde?

BF: Ja. Nachgefragt gebe ich an, dass ich sehr viele österreichische Freunde - vermutlich 100 Personen - habe, diese habe ich in der Schule, auf der Straße und in Parks kennengelernt.

R: Wovon leben Sie derzeit?

BF: Im Gefängnis.

R: Wie wollen Sie Ihr Leben in Österreich gestalten, wenn Sie den Asylstatus bekämen?

BF: Ich möchte in der Baubranche eine Ausbildung absolvieren und so wie andere Burschen mein Leben gestalten.

R: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?

BF: Ja. Nachgefragt gebe ich an, dass ich drei Mal verurteilt wurde.

R: Sie haben mittlerweile verschiedene strafrechtliche Verurteilungen in Österreich. Möchten Sie dazu etwas sagen?

BF: Es waren insgesamt sieben Verurteilungen. Ich kann das leider nicht wieder gut machen, aber ich entschuldige mich dafür.

R: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat bzw. den Iran, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), und wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF: Ich bin mit niemandem in Kontakt. Nachgefragt gebe ich an, dass ich auch mit meinem Vater nicht in Kontakt bin. Nachgefragt gebe ich an, dass, bevor ich ins Gefängnis gekommen bin, ich zwei Mal in der Woche mit meiner Familie telefoniert habe. Ich habe im Gefängnis keine Telefonnummer von ihnen.

R: Haben Sie noch Familie in Afghanistan?

BF: Ich weiß es nicht, und in Afghanistan habe ich noch niemanden angerufen.

R: Bei wem hat Ihr Bruder XXXX in Afghanistan gewohnt?

BF: Ich weiß es nicht.

R: Mit welcher Familie hat Ihre Familie Grundstücksstreitigkeiten in Afghanistan?

BF: Als ich erst nach Österreich gekommen bin, habe ich nicht gewusst, was ich als Fluchtgrund angeben soll. Danach haben mir die anderen Burschen gesagt, dass man dies und jenes erzählen soll. Bei der Einvernahme vor dem BFA habe ich diese Geschichte erfunden.

R: Welche Geschichte genau haben Sie jetzt erfunden?

BF: Die Streitigkeiten über die Grundstücke und die Feindschaften habe ich erfunden. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen meine Familie Afghanistan verlassen hat. Ich bin im Iran geboren und dort aufgewachsen.

R: Sie haben ja auch noch angegeben, dass Sie im Iran von Ihren Cousins angegriffen wurden. Ist das auch erfunden?

BF: Ein Teil dieser Geschichte ist erfunden. Ich bin zwar mit einem Messer attakiert worden, aber das waren fremde Leute und nicht meine Familie. Nachgefragt gebe ich an, dass wir Minderjährige in Gruppen waren und miteinander immer wieder gestritten haben. Nachgefragt gebe ich an, dass es sich um Afghanen gehandelt hat. Nachgefragt gebe ich an, dass wir in einer Stadt gelebt haben und einander gekannt haben. Ich habe mit diesen Burschen keinen Kontakt und weiß auch nicht, wo sie sich jetzt aufhalten.

R: Haben Sie einen Bruder, der XXXX heißt?

BF: Ja. Nachgefragt gebe ich an, dass er, als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, in Afghanistan war. Seit vier oder fünf Jahren weiß ich nichts mehr über ihn.

R: Wie finanziert Ihre im Iran lebende Familie ihren Unterhalt?

BF: Mein Vater arbeitet. Nachgefragt gebe ich an, dass mein Vater als Fliesenleger arbeitet, und er kann durchschnittlich gut für den Unterhalt der Familie sorgen. Wenn er Aufträge hat, arbeitet er und wenn nicht, dann lebt er von Ersparnissen.

R: Gibt es Grundstücke, die Ihnen oder Ihrer Familie gehören?

BF: Wo? Nachgefragt gebe ich an, dass ich glaube, dass wir keine Grundstücke haben.

R: Würden Ihre Verwandten Sie im Falle der Rückkehr - zumindest zu Beginn - finanziell unterstützen können?

BF: Ja, im Iran.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

[...]

Heute haben Sie angegeben, dass der Fluchtgrund der Grundstücksstreitigkeiten erfunden war.

Warum haben Sie den Iran verlassen?

BF: Ich habe den Iran aus finanziellen Gründen verlassen. Ich habe aber persönlich keine finanziellen Probleme gehabt, weil ich ein Minderjähriger war und habe von meinem Vater Geld bekommen. Ich konnte im Iran nicht in die Schule gehen. Ich konnte dort keinen Beruf erlernen. Wir haben zwar dort legal gewohnt, aber ich habe keinen Reispass gehabt.

[...]

BF zieht die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids (betreffend Zuerkennung des Status des Asylberechtigten) zurück. Die Beschwerde gegen die anderen Spruchpunkte wird ausdrücklich aufrecht erhalten.

R: Ihr Bruder XXXX , ist der bei Ihnen bzw. Ihrer Familie im Iran aufgewachsen, oder war er teilweise in Afghanistan; falls letzteres, bei wem war er in Afghanistan?

BF: Mein Bruder XXXX ist in Afghanistan aufgewachsen. Ich habe ihn nicht gekannt. Als er einmal in den Iran gekommen ist, hat mir meine Mutter gesagt, dass mein Bruder kommen wird. Nachgefragt gebe ich an, dass ich nicht weiß, bei wem er in Afghanistan aufgewachsen ist.

R: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat Afghanistan zurückkehren müssten?

BF: Das weiß ich nicht, und wenn ich gezwungen bin, werde ich auch nach Afghanistan reisen.

[...]

BFV: Wem gehört die Landwirtschaft, die Sie gemeinsam mit Ihrem Vater im Iran bewirtschaftet haben?

BF: Für drei Monate haben wir die Landwirtschaft gemietet. Nachgefragt gebe ich an, dass wir immer, wenn es warm geworden ist, die Grundstücke angemietet haben. Wir haben Gemüse angebaut.

BFV: Fühlen Sie sich in Österreich zu Hause?

BF: Bis jetzt nicht, weil ich mein Leben hier in den Heimen verbracht habe. Ich bin noch nie dazu gekommen, zu arbeiten und mir ein Leben aufzubauen."

17. Dem BF wurde in der Verhandlung hinsichtlich folgender vorgelegter Berichte zur Situation in Afghanistan die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt:

* Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018)

* UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom April 2016

* Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern vom Dezember 2016

* Auszug aus dem Urteil des EGMR vom 05.07.2016 (EGMR AM/NL, 5.7.2016, 29.094/09)

18. Von der Beschwerdeseite langte am 23.08.2018 eine Stellungnahme beim BVwG ein. Darin wurde nochmals darauf hingewiesen, dass der BF aufgrund seiner Volks- und Religionszugehörigkeit und der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan bei einer Rückkehr in eine Notlage geraten würde. Es sei ihm auch in eventu ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG zu erteilen.

19. Am 10.09.2018 übermittelte das BVwG dem BF die aktualisierten Versionen des Länderinformationsblattes (Stand 22.08.2018) und der UNHCR-Richtlinien (Stand 30.08.2018) zur Kenntnis und allfälligen Stellungnahme.

20. Von der Beschwerdeseite langte am 21.09.2018 eine Stellungnahme ein, in der insbesondere auf die aktualisierten UNHCR-Richtlinien Bezug genommen wurde (Situation u.a. in Herat und Balkh aufgrund einer großen Dürre; Zugang zu Unterbringung, grundlegender Infrastruktur und "wichtigen ‚Services'", Möglichkeit der Erwirtschaftung eines Lebensunterhalts). Weiters wurde vorgebracht, dass der BF über kein soziales Netzwerk in Afghanistan verfüge. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liege für den BF mangels Netzwerk, Orientierung und Erfahrung sowie aufgrund seiner wahrnehmbaren Fremdheit in Afghanistan durch die Sozialisierung im Ausland (Iran und Österreich) und der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der schiitischen Hazara nicht vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

1.1. Zur Person des BF, seinen Fluchtgründen, seiner Rückkehrsituation und seinem (Privat- und Familien-)Leben in Österreich

1.1.1. Der BF führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Er spricht Dari/Farsi als Muttersprache, ist volljährig, ledig und kinderlos.

1.1.2. Der BF kam in XXXX (Nähe von Teheran), Iran, auf die Welt und hielt sich an seinem Geburtsort bis zu seiner Ausreise nach Österreich auf. Er war niemals in Afghanistan. Seine Familie (Eltern, eine Schwester und der jüngste Bruder XXXX ) lebt nach wie vor dort. Er hat drei Brüder ( XXXX ). Der Vater des BF verdient den Lebensunterhalt der Familie durch Hilfstätigkeiten (Baustelle, Landwirtschaft, als Fliesenleger). Der BF hatte bis vor seinem derzeitigen Gefängnisaufenthalt Kontakt zu seiner Familie - nun nicht mehr. Er kann sich dennoch eine finanzielle Unterstützung bei einer Rückkehr durch diese erwarten.

Bis auf zwei seiner Brüder und einen Onkel mütterlicherseits leben alle Angehörigen des BF im Iran. Sein Bruder XXXX , der in Afghanistan geboren wurde und dort ohne seine Eltern und Geschwister aufwuchs, wurde nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt im Iran vor mehreren Jahren zurück nach Afghanistan abgeschoben. Auch der Onkel wurde nach Afghanistan abgeschoben. Der BF hat keinen Kontakt zu diesen.

Zu seinem Bruder XXXX s. unter II.1.1.11.

1.1.3. Der BF besuchte im Iran 5 Jahre lang eine Schule für Afghanen. Er arbeitete seit seinem 11. Lebensjahr bis zu seiner Ausreise auf Baustellen und in der Landwirtschaft.

1.1.4. Im Oktober 2012 reiste der BF vom Iran aus über die Türkei, Griechenland und mehrere weitere Staaten nach Österreich. Es konnte nicht festgestellt werden, ob der BF aus eigenem Entschluss oder auf Geheiß seiner Familie das Land verließ.

1.1.5. Derzeit lebt der BF von der Grundversorgung und geht keiner Beschäftigung nach. Er engagierte sich während der Flüchtlingswelle 2015 ehrenamtlich als Dolmetscher und verrichtet zurzeit im Gefängnis leichte Arbeiten. Der BF hat Deutschkurse bis zum Niveau B1 absolviert und konnte die von der Richterin auf Deutsch gestellten und nicht übersetzten Fragen verstehen und gut auf Deutsch beantworten. Der BF hat zudem eine Pflichtschulabschlussvorbereitung besucht, legte jedoch im Laufe des Verfahrens keine Integrationsunterlagen bis auf eine Schulbesuchsbestätigung vor. Bevor er verhaftet wurde, spielte der BF in seiner Freizeit Fußball. Er hat österreichische Freunde, die er in der Schule, auf der Straße oder in Parks kennengelernt hat.

1.1.6. Der BF leidet an keiner chronischen oder akuten Krankheit oder anderen Leiden oder Gebrechen.

1.1.7. Der BF wurde in Österreich von 2014 bis 2017 siebenmal strafrechtlich verurteilt:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX wurde der BF wegen § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung) verurteilt; der Schuldspruch erfolgte unter Vorbehalt der Strafe und Setzung einer Probezeit von 3 Jahren. Im Zuge des darauffolgenden Urteils wurde die Probezeit auf 5 Jahre verlängert. Am XXXX wurde der BF wegen § 223 Abs. 1 und 224 StGB (Urkundenfälschung) und § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung) vom Landesgericht für Strafsachen XXXX zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 3 Monaten unter Setzung einer 3-jährigen Probezeit verurteilt, die im Zuge des darauffolgenden Urteils auf 5 Jahre erhöht wurde. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX wurde über den BF wegen § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften) eine 3-monatige, bedingte Freiheitsstrafe unter Setzung einer 3-jährigen Probezeit verhängt. Aufgrund weiterer Verstöße gegen das Suchtmittelgesetz erhielt der BF vom Landesgericht für Strafsachen XXXX am XXXX wegen §§ 15, 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG eine Freiheitsstrafe von 7 Monaten (2 Monate unbedingt, 5 Monate bedingt; 3 Jahre Probezeit, die aufgrund des darauffolgenden Urteils auf 5 Jahre verlängert wurde) und am XXXX wegen § 27 Abs. 2a zweiter und dritter Fall und Abs. 3 SMG eine Freiheitsstrafe von 9 Monaten (3 Monate unbedingt, 6 Monate bedingt; 3 Jahre Probezeit). Am XXXX folgte eine Verurteilung des BF durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX wegen § 105 Abs. 1 StGB (Nötigung), die mit einer unbedingten 4-monatigen Freiheitsstrafe geahndet wurde. Am XXXX verurteilte das Landesgericht für Strafsachen XXXX den BF gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG und § 27 Abs. 2a und Abs. 3 SMG StGB (unerlaubter Umgang mit Suchtgiften) zu einer unbedingten 9-monatigen Freiheitsstrafe.

1.1.8. Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Heimatstaates keine Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.

1.1.9. Die Eltern des BF stammen aus der Provinz Daikundi. Der BF behauptete seit seiner ersten Einvernahme vor dem BFA, dass diese ihre Heimat aufgrund von Grundstückstreitigkeiten mit der Familie der Mutter verlassen hätten. Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der BF zu, sich die Fluchtgeschichte ausgedacht zu haben und zog die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhobene Beschwerde ausdrücklich zurück.

1.1.10. Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (EMRK).

Der BF kann sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Heimatprovinz seiner Eltern Daikundi niederlassen; der Reiseweg dorthin ist hinreichend sicher. Es steht ihm aber auch eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in Daikundi oder den genannten Städten Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Ansiedlung in Daikundi, Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Seine Existenz kann er - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine Unterkunft zu finden. Der BF hat zunächst auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass der BF vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Hazara) und Religion (schiitischer Islam) oder aufgrund der Tatsache, dass er sich den überwiegenden Teil seines Lebens im Iran aufgehalten hat bzw. als Rückkehrer aus Europa, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde oder einer menschenunwürdigen Behandlung ausgesetzt wäre. Auch die Kumulierung verschiedener Merkmale (Hazara, schiitische Moslems, Sozialisierung außerhalb Afghanistans, Fehlen eines sozialen Netzwerks) begründet kein Rückkehrhindernis.

1.1.11. Im Bundesgebiet befindet sich ein Bruder des BF namens XXXX , der seit dem Sommer 2015 in Österreich lebt. Der BF hat seit seinem jüngsten Gefängnisaufenthalt (Juli 2017) keinen Kontakt mehr zu ihm und wurde von diesem auch nicht in der Haftanstalt besucht. Auch davor wusste der BF nichts zum Privatleben seines Bruders bis auf dessen Wohnort.

1.1.12. Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband in einem von überwiegend Afghanen bewohnten Ort im Iran aufgewachsen und hat eine (nicht staatliche, afghanische) Schule besucht. Die Bindung des BF zu Afghanistan ist trotz dessen, dass er noch niemals dort war - insbesondere unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, des langjährigen Aufenthalts in einem muslimisch geprägten Land, der Muttersprache Dari/Farsi und der insgesamt daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur - deutlich intensiver als jene zu Österreich. Der BF gab auch an, sich bisher in Österreich nicht zuhause zu fühlen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 (zuletzt aktualisiert am 22.08.2018)

1.2.1.1. Neueste Ereignisse

KI vom 22.08.2018, Angriffe des Islamischen Staates (IS) in Kabul und Paktia und Aktivitäten der Taliban in Ghazni, Baghlan, Faryab und Kunduz zwischen 22.7.2018 und 20.8.2018; (relevant für Abschnitt 3/ Sicherheitslage)

Entführung auf der Takhar-Kunduz-Autobahn 20.8.2018

Am 20.8.2018 entführten die Taliban 170 Passagiere dreier Busse, die über die Takhar-Kunduz-Autobahn auf der Reise nach Kabul waren (Tolonews 20.8.2018; vgl. IFQ 20.8.2018). Quellen zufolge wurden die Entführten in das Dorf Nikpe der Provinz Kunduz gebracht, wo es zu Kämpfen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen kam. Es wurden insgesamt 149 Personen freigelassen, während sich die restlichen 21 weiterhin in der Gewalt der Taliban befinden (IFQ 20.8.2018). Grund für die Entführung war die Suche nach Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bzw. Beamten (IFQ 20.8.2018; vgl. BBC 20.8.2018). Die Entführung erfolgte nach dem von Präsident Ashraf Ghani angekündigten Waffenstillstand, der vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 gehen sollte und jedoch von den Taliban zurückgewiesen wurde (Reuters 20.8.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018).

IS-Angriff auf die Mawoud Akademie in Kabul 15.8.2018

Ein Selbstmordattentäter sprengte sich am Nachmittag des 15.8.2018 in einem privaten Bildungszentrum im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi, dessen Bewohner mehrheitlich Schiiten sind, in die Luft (NZZ 16.8.2018; vgl. BBC 15.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Detonation hatte 34 Tote und 56 Verletzte zur Folge (Reuters 16.8.2018a; vgl. NZZ 16.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Mehrheit der Opfer waren Studentinnen und Studenten, die sich an der Mawoud Akademie für die Universitätsaufnahmeprüfungen vorbereiteten (Reuters 16.8.2018b; vgl. RFE/RL 17.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Vorfall (RFE/RL 17.8.2018; vgl. Reuters 16.8.2018b).

Kämpfe in den Provinzen Ghazni, Baghlan und Faryab

Am Donnerstag, dem 9.8.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt Ghaznis, einer strategisch bedeutenden Provinz, die sich auf der Achse Kabul-Kandahar befindet (Repubblica 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018). Nach fünftägigen Zusammenstößen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen konnten letztere zurückgedrängt werden (AB 15.8.2018; vgl. Xinhua 15.8.2018). Während der Kämpfe kamen ca. 100 Mitglieder der Sicherheitskräfte ums Leben und eine unbekannte Anzahl Zivilisten und Taliban (DS 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018).

Am 15.8.2018 verübten die Taliban einen Angriff auf einen Militärposten in der nördlichen Provinz Baghlan, wobei ca. 40 Sicherheitskräfte getötet wurden (AJ 15.8.2018; vgl. Repubblica 15.8.2018, BZ 15.8.2018).

Auch im Distrikt Ghormach der Provinz Faryab wurde gekämpft: Die Taliban griffen zwischen 12.8.2018 und 13.8.2018 einen Stützpunkt des afghanischen Militärs, bekannt als Camp Chinaya, an und töteten ca. 17 Mitglieder der Sicherheitskräfte (ANSA 14.8.2018; vgl. CBS 14.8.2018, Tolonews 12.8.2018). Quellen zufolge kapitulierten die Sicherheitskräfte nach dreitägigen Kämpfen und ergaben sich den Aufständischen (CBS 14.8.2018; vgl. ANSA 14.8.2018).

IS-Angriff auf schiitische Moschee in Gardez-Stadt in Paktia 3.8.2018

Am Freitag, dem 3.8.2018, kamen bei einem Selbstmordanschlag innerhalb der schiitischen Moschee Khawaja Hassan in Gardez-Stadt in der Provinz Paktia, 39 Personen ums Leben und weitere 80 wurden verletzt (SI 4.8.2018; vgl. Reuters 3.8.2018, FAZ 3.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Anschlag (SI 4.8.2018).

IS-Angriff vor dem Flughafen in Kabul 22.7.2018

Am Sonntag, dem 22.7.2018, fand ein Selbstmordanschlag vor dem Haupteingangstor des Kabuler Flughafens statt. Der Attentäter sprengte sich in die Luft, kurz nachdem der afghanische Vizepräsident Rashid Dostum von einem einjährigen Aufenthalt in der Türkei nach Afghanistan zurückgekehrt und mit seinem Konvoi vom Flughafen abgefahren war (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018). Es kamen ca. 23 Personen ums Leben und 107 wurden verletzt (ZO 15.8.2018; vgl. France24). Der Islamische Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018).

1.2.1.2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

[...]

1.2.1.3. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

[...]

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

[...]

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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