TE Vwgh Erkenntnis 2019/1/23 Ra 2018/19/0391

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Veröffentlicht am 23.01.2019
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §29 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des J R, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Juni 2018, W123 2195376-1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 7. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter Afghanistan verlassen und sei in den Iran gegangen. Da er dort keine Perspektive gehabt habe, sei er nach Österreich gekommen.

2 Mit Bescheid vom 16. April 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er u.a. - unter Anführung verschiedener Berichte zur Lage in Afghanistan - die Verletzung von Verfahrensvorschriften durch unvollständige und unrichtige Länderfeststellungen geltend machte und eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptete, insbesondere auch hinsichtlich der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, Herat bzw. Mazar-e Sharif. Der Revisionswerber beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Das BVwG gab die Feststellungen des BFA zur Person des Revisionswerbers und zur Situation im Fall seiner Rückkehr sowie die Feststellungen und die Beweiswürdigung zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates wieder. Beweiswürdigend führte das BVwG zu den Fluchtgründen des Revisionswerbers aus, es schließe sich der Beweiswürdigung des BFA an. Der Revisionswerber habe keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können; das Fluchtvorbringen beziehe sich ausschließlich auf den Iran. Zum Herkunftsstaat führte das BVwG in den Feststellungen Folgendes aus:

"Diesbezüglich wird auf die Feststellungen im angefochtenen Bescheid (...) verwiesen."

In der rechtliche Beurteilung führte das BVwG aus, der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei dem Revisionswerber nicht zuzuerkennen, da ihm eine Ansiedelung "in den Gebieten der innerstaatlichen Fluchtalternative, nämlich in den Städten Mazar-e-Sharif, Herat oder Kabul" möglich und zumutbar sei. Aus den vorliegenden Länderberichten ergebe sich, dass die Sicherheitslage in Afghanistan zwar weiterhin volatil sei. Die genannten Städte seien aber vergleichsweise sicher und könnten auf dem Luftweg erreicht werden. Die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, sei zwar häufig nur eingeschränkt möglich, die Versorgung der Bevölkerung sei jedoch zumindest grundlegend gesichert. Der Revisionswerber habe zwar keine Angehörigen in Afghanistan. Es handle sich aber um einen arbeitsfähigen jungen Mann mit mehrjähriger Schulbildung und Berufserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Er könne von seiner im Iran aufhältigen Familie unterstützt werden. Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten aus einer reinen Rechtsfrage resultiere, das BVwG nicht von der Beweiswürdigung des BFA abgewichen sei und dem Verfahrensakt sämtliche entscheidungsrelevanten Grundlagen zu entnehmen seien.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG habe entgegen näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen. Die Revision wendet sich auch gegen die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative und bringt dazu insbesondere vor, es fehle eine Begründung für die vom BVwG angenommene Situation des Revisionswerbers im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan.

8 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0484, mwN).

10 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:

11 Der Revisionswerber wendete sich in seiner Beschwerde unter konkreter Anführung verschiedener Quellen zur Sicherheits- und Versorgungslage sowie zur Situation von Rückkehrern gegen die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, Herat bzw. Mazar-e Sharif durch das BFA. Er hat damit den vom BFA festgestellten Sachverhalt substantiiert bestritten.

12 Demnach lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0560, mwN).

13 Das BVwG hat überdies gegen die Begründungspflicht verstoßen:

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0433 bis 0434, mwN).

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat überdies ausgesprochen, dass in einem Fall, in dem das Verwaltungsgericht die der Entscheidung zu Grunde gelegten maßgeblichen Länderfeststellungen in den wesentlichen Punkten wiedergegeben und lediglich darüber hinaus auf die getroffenen Feststellungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid verwiesen hat, die Entscheidung solcherart einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich und aus diesem Grund nicht als rechtswidrig zu erkennen ist (vgl. VwGH 19.4.2018, Ra 2017/20/0491, mwN). Hingegen hat der Verwaltungsgerichtshof in Fällen, in denen für die rechtliche Beurteilung maßgebliche Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat zur Gänze fehlten, eine Verletzung der Begründungspflicht angenommen (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2016/20/0291, mwN).

16 Im vorliegenden Fall hat es das BVwG unterlassen, eigene Feststellungen zu Afghanistan zu treffen. Es hat lediglich auf die vom BFA getroffenen Länderfeststellungen verwiesen und - disloziert - in der rechtlichen Beurteilung unter Berufung auf nicht näher spezifizierte Länderberichte punktuelle Aussagen über die Situation in den als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Städten getroffen. Es hat sich aber nicht mit dem Beschwerdevorbringen, die vom BFA verwendeten Länderberichte seien unvollständig und unrichtig, auseinandergesetzt. Damit ist es dem Verwaltungsgerichtshof aber nicht möglich, die angefochtene Entscheidung in der vom Gesetz geforderten Weise einer nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen.

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit.c VwGG aufzuheben.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. Jänner 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018190391.L00

Im RIS seit

20.02.2019

Zuletzt aktualisiert am

20.03.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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