TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/4 L524 2199527-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.09.2018
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Entscheidungsdatum

04.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §6
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L524 2199527-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER, LL.B. über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.05.2018, Zl. 1098434007-151962495, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 wird mangels Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 09.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 10.12.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte er vor, dass er Araber und schiitischer Moslem sei. Er stamme aus Bagdad, habe neun Jahre die Grundschule besucht und sei zuletzt als Verkäufer tätig gewesen. Er habe sein Land legal am 26.10.2015 verlassen und sei über die Türkei und Griechenland schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Seinen Reisepass habe er im Meer verloren. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes gab er an (Schreibfehler im Original): "Wir wohnen in einer sehr unruhigen Gegend. Im Irak herrschen zurzeit Unruhen, Bürgerkrieg, es passieren Entführungen und alles wird durch Bombeneinschläge zerstört. Deswegen beschlossen meine Mutter und ich, dass ich mit meinen Onkeln in Richtung Europa flüchten werde."

2. Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 15.11.2017 legte der Beschwerdeführer einen Staatsbürgerschaftsnachweis im Original, eine Kopie seines Reisepasses, die ihm aus dem Irak mitgebracht worden sei, Ausweise seiner Mutter, Kursbestätigungen, ein Dienstzeugnis und Bilder vor. Der Beschwerdeführer brachte zusammengefasst im Wesentlichen vor, er sei Araber, schiitischer Moslem und ledig. Er stamme aus Bagdad und habe elf Jahre die Grundschule besucht. Seine seit 2011 geschiedenen Eltern würden in Bagdad leben. Die Adresse seines Vaters wisse er nicht. Zwei Brüder seien bei seiner Mutter und zwei Brüder bei seinem Vater aufhältig. Sein Vater sei Polizist in Bagdad und seine Mutter bereits in Frühpension, um sich um einen seiner Brüder - einen Pflegefall - kümmern zu können. Mit seiner Mutter habe er täglich Kontakt, mit seinem Vater etwa alle drei Monate. Der Beschwerdeführer habe bis zu seiner Ausreise in einem Haus in Bagdad gewohnt; seine Großmutter, seine Mutter und zwei Brüder würden nach wie vor dort leben. Nach der Scheidung seiner Eltern habe ein Onkel seinen Unterhalt finanziert. Sowohl seine Großeltern, als auch seine Mutter würden eine Pension bekommen. Der Beschwerdeführer habe den Beruf des Malers und Bäckers erlernt und bei einem Onkel als Maler gearbeitet. In Österreich würden drei Onkel leben. Einer von diesen sei österreichischer Staatsangehöriger. Sein Onkel XXXXhabe im August 2015 beschlossen, den Irak zu verlassen. Er habe seine Firma verkauft und sei mit dem Beschwerdeführer nach Österreich gekommen. Der Beschwerdeführer habe eine "Freundin", mit der er eine Liebesbeziehung führe, lebe mit ihr aber nicht zusammen, sondern vielmehr mit seinen beiden Onkeln. Er unternehme viel mit seiner "Freundin" und seinen Freunden, gehe in die Schule und ins Fitnessstudio und arbeite zwei Stunden pro Woche. Von seinem Onkel

XXXX erhalte er gelegentlich Taschengeld und auch von seinen Verwandten aus dem Irak werde er finanziell unterstützt. Er erhalte Leistungen aus der Grundversorgung und besuche Integrations- und Deutschkurse.

Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer Folgendes an (Schreibfehler im Original):

"LA: Schildern Sie nochmals die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland im Oktober 2015 verlassen und einen Asylantrag gestellt haben, von sich aus vollständig und wahrheitsgemäß. Sie werden darauf hingewiesen, dass falsche Angaben die Glaubwürdigkeit Ihres Vorbringens beeinträchtigen können. Soweit Sie auf Ereignisse Bezug nehmen, werden Sie auch aufgefordert, den Ort und die Zeit zu nennen, wann diese stattfanden und die Personen oder Gruppierungen, die daran beteiligt waren.

VP: Meine Mutter hat sich 2011 scheiden lassen. Deshalb haben wir beim Großvater gelebt. Mein Großvater ist später gestorben und mein Onkel XXXX ist bei einem Bombenanschlag schwer verletzt worden. Ich habe das Foto heute vorgelegt. Der IS hat viele Orte im Land angegriffen. Deshalb wollten die Milizen uns, also mich und meine Onkel, rekrutieren. Mein Onkel XXXXwurde von unbekannten Personen entführt. Bis heute wissen wir nicht, ob die Entführer Angehörige der Milizen, der Regierung oder der Polizei waren. Wir haben für ihn Lösegeld bezahlt, damit er freigelassen wird. Der Grund, warum er entführt wurde, war, weil sein Großvater und dessen Brüder und eine Tante bei der Baath Partei waren und gute Beziehungen zu Saddam hatten. Wir, also ich und mein Onkel die nach Österreich gekommen sind, konnten nirgendwo im Irak leben. Als die Möglichkeit bestand einzuwandern, sind wir ausgereist. Im Irak herrscht Diskriminierung. Wir sind vom XXXX. Die eine Hälfte des Clans sind Sunniten, die andere Hälfte Schiiten. Dieser Clan ist bekannt. Die Angehörigen des Clans hatten gute Beziehungen zu Saddam. Deswegen warf man uns vor, dass wir zu Saddams Zeiten Personen ermordet haben, dass wir Mörder und Verräter des Landes seien. Wegen all diesen Gründen konnte ich nicht mehr zur Schule gehen. Am Ende konnte ich nur mehr in die Schule und in die Firma meines Onkels gehen. Schließlich sagte meine Mutter, dass ich das Land verlassen soll, ich hätte wie mein Onkel entführt werden können, wenn wir das Lösegeld nicht hätten bezahlen können, wäre ich getötet worden. Es gab keine Sicherheit mehr, es gab kein Leben mehr. Ich konnte mich nicht mehr frei bewegen. Ich hatte Angst entführt oder rekrutiert zu werden. Deshalb hat mein Onkel entschieden, dass ich ausreisen sollte. Dann habe ich das Land verlassen. Wir lebten am Ende wie in einem Gefängnis. Es gab keine Arbeit mehr. Ich konnte nicht in die Schule gehen. Als die Flüchtlingswelle begann, war das wie eine Entlassung aus dem Gefängnis.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Nein, das sind meine Gründe.

LA: Haben Sie den genannten Fluchtgründen noch etwas hinzuzufügen?

VP: Nein, das sind alle Gründe, warum ich den Irak verlassen habe. Die anderen Gründe wird mein Onkel, XXXX, erzählen.

LA: Haben Sie all Ihre Fluchtgründe vorbringen können?

VP: Ja.

LA: Sind Sie jemals persönlich bedroht worden?

VP: Nein, aber die Personen, die uns bedroht haben, haben immer gesagt, dass sie uns umbringen werden. Sie haben meinen Onkel XXXXentführt.

LA: Wurden Sie jemals persönlich, von Angesicht zu Angesicht bedroht?

VP: Nein.

LA: Wann sind zum letzten Mal in die Schule gegangen im Irak?

VP: Bis zum 25.05.2015. Danach gab es Sommerferien. Gefragt gebe ich an, dass ich im August 2015 wieder hätte in die Schule gehen sollen und wegen der Entführung von XXXXnicht weiter in die Schule gegangen bin.

LA: Wann wurde Ihr Onkel XXXXentführt?

VP: Am 13.08.2015. Gefragt gebe ich an, dass es ein Donnerstag war und ich zum Zeitpunkt der Entführung zu Hause war. Des Weiteren weiß ich nicht, von wo und von wem er entführt wurde.

LA: Wann wurde er freigelassen?

VP: Am 21.08.2015 wurde er um 00 Uhr 30 freigelassen.

LA: Warum wurde er freigelassen?

VP: Weil wir Lösegeld gezahlt haben. Gefragt gebe ich an, dass wir 4500 US Dollar gezahlt haben.

LA: Wer hat Ihren Onkel entführt?

VP: Wir kennen sie nicht. Es waren unbekannte Personen.

LA: Wer hat das Lösegeld bezahlt und wo fand die Übergabe statt?

VP: Meine Mutter und Großmutter. Sie haben ihren Schmuck verkauft. Der Kontakt hat die ganze Zeit mit meiner Großmutter bestanden. Sie musste das Geld in eine Tüte geben und dann in die Nähe einer Moschee namens XXXX. Dort war ein Park und dort fand die Übergabe statt. Meine Oma hat das Geld auf einer Bank deponiert, das war um 21 Uhr. Um 00 Uhr 30 ist XXXXdann nach Hause gekommen.

LA: Sind Sie wegen der Entführung zur Polizei gegangen?

VP: Nein, weil sie sagten, dass sie ihn umbringen, wenn wir zur Polizei gehen. Nach seiner Freilassung sind wir zur Polizei gegangen und haben eine Anzeige erstattet. Gefragt gebe ich an, dass die Polizei nichts unternommen hat, sie haben nur die Anzeige protokolliert.

LA: Warum haben Sie den Irak erst am 26.10.2015 verlassen?

VP: Wir haben gewartet bis wir die Reisepässe bekommen. Wir haben Sie im August beantragt.

LA: Was haben Sie seit der Entführung des Onkels bis zur Ausreise gemacht?

VP: Ich war nur zu Hause. Wir haben das Haus nur wegen der Ausstellung der Reisepässe verlassen. Wir haben den Flug auch um 5 Uhr gebucht. Gefragt gebe ich an im Geschäft des Onkels gearbeitet zu haben. Gefragt gebe ich an, dass der Onkel das Geschäft nach seiner Entführung verkauft hat, das genaue Datum weiß ich nicht. Gefragt gebe ich an, dass ich letztmalig zwei Tage vor der Entführung im Geschäft gearbeitet habe und nach der Entführung weder ich noch mein Onkel im Geschäft waren.

LA: Schildern Sie den Tag der Ausreise!

VP: Wir haben ein Taxi aus einem anderen Ort bestellt und sind zum Flughafen gefahren. Gefragt gebe ich an am Weg zum Flughafen nicht kontrolliert worden zu sein.

LA: Werden Ihre Angehörigen im Irak bedroht?

VP: Nein. Aber "sie" fragen noch immer nach uns. Gefragt gebe ich an, dass "sie" unbekannte Personen sind und sie bei uns anklopfen und meine Mutter oder Großmutter nach uns fragen. Letztmals sind Personen vor ca. 9 Monaten zu und gekommen. Sie wissen, dass Männer in dem Haus leben. Sie wollen, dass wir kämpfen aber wissen nicht, dass wir im Ausland sind.

[...]

LA: Was ist Ihre politische Einstellung?

VP: Mich interessiert die Politik nicht.

LA: Hatten Sie in Ihrem Heimatland Probleme wegen Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit?

VP: Nein.

LA: Hatten Sie in Ihrem Heimatland Probleme wegen Ihrer Religionszugehörigkeit?

VP: Ja, weil ich Schiit bin, wurde ich diskriminiert. Ich sage jetzt auch nur mehr, dass ich Moslem bin aber nicht Schiit.

LA: Hatten Sie in Ihrem Heimatland Probleme mit staatlichen Behörden oder der Polizei?

VP: Nein.

LA: Hatten Sie in Ihrem Heimatland Probleme mit einer privaten, dritten Person?

VP: Nein.

LA: Hätten Sie die Möglichkeit in einer anderen, sicheren Region im Irak zu leben?

VP: Nein

LA: Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?

VP: Ich habe Angst getötet zu werden, weil ich wegen des Clannamens verfolgt werden könnte. Es gab einen Anschlag und man sagte, dass der XXXXClan den Anschlag verübt habe. Ich habe auch Angst entführt und getötet zu werden, wenn das Lösegeld nicht bezahlt werden könnte.

LA: Gibt es konkrete Hinweise, dass Ihnen bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohen? Hätten Sie im Falle Ihrer Rückkehr in Ihren Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen? Wenn ja, welche?

VP: Von der Regierung nicht, aber von den Milizen. Die Milizen haben viel Macht und Einfluss. Die Milizen können mit mir alles machen, was sie wollen.

[...]"

3. Mit Bescheid des BFA vom 30.05.2018, Zl. 1098434007-151962495, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung wurden zunächst die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund in der Erstbefragung sowie die Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA wörtlich wiedergegeben. Weiters wurden die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente angeführt. Das BFA stellte fest, dass die Identität des Beschwerdeführers feststehe, er irakischer Staatsangehöriger, Araber, schiitischer Moslem und gesund sei. Er sei ledig und habe keine Obsorgepflichten. Er sei spätestens am 09.11.2015 illegal nach Österreich eingereist. Er sei strafrechtlich unbescholten. Es sei glaubhaft, dass der Beschwerdeführer den Irak wegen der unsicheren Lage und aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe. Es werde nicht festgestellt, dass er aufgrund der Zugehörigkeit zum Stamm XXXXverfolgt oder bedroht worden sei. Es könne nicht festgestellt werden, dass er im Irak konkret und gezielt gegen seine Person gerichteten Übergriffen maßgeblicher Intensität ausgesetzt gewesen wäre oder er im Falle einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wäre. Er sei im arbeitsfähigen Alter, habe im Irak elf Jahre die Schule besucht und habe Erfahrungen als Maler und Bäcker sammeln können. Er verfüge im Irak nach wie vor über Familienangehörige (Eltern, vier Geschwister, Onkel und Tanten) und spreche Arabisch. Er könne in den Irak - vor allem nach Bagdad - zurückkehren, zumal es sich hierbei um eine hauptsächlich von Schiiten bewohnte Provinz handle. Der Beschwerdeführer könne sich mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und der Unterstützung seiner Angehörigen den Lebensunterhalt sichern. Es sei aufgrund der genannten Umstände in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass er bei seiner Rückkehr in den Irak nicht in eine Notlage entsprechend Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK gelange. In Österreich verfüge der Beschwerdeführer über drei Onkel als familiäre Anknüpfungspunkte bzw. verwandtschaftliche Beziehungen. Der Beschwerdeführer verfüge über keine nennenswerten Deutschkenntnisse und es bestehe kein schützenswertes Privat- und Familienleben in Österreich. Er sei Mitglied in einem Fitnessstudio und besuche ein Sprachcafé. Ansonsten gehöre er keinem Verein oder einer sonstigen Organisation an. Er lebe von der Grundversorgung und gehe keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nach. Danach traf das BFA Feststellungen zur Lage im Irak.

Beweiswürdigend führte das BFA zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaats aus (Schreibfehler im Original):

"Bzgl. Ihrer beim BFA behaupteten Fluchtgründe ist festzuhalten:

Ihre Angaben wegen der unsicheren Lage und Perspektivlosigkeit den Irak verlassen zu haben sind glaubhaft.

Bei der Darstellung einer Bedrohung und Verfolgung aufgrund Ihrer Angehörigkeit zum XXXXClan haben Sie sich beim BFA/RD-Wien auf das Aufstellen von bloß abstrakten und unkonkreten Behauptungen beschränkt. Darüber hinaus beinhaltet Ihr Vorbringen keine glaubhaften, gegen Sie persönlich gerichteten Verfolgungshandlungen und haben Sie Ihr Vorbringen auch widersprüchlich dargestellt.

Im Zuge Ihrer niederschriftlichen Befragung bei Ihrer Ersteinvernahme am 10.12.2015 haben Sie angegeben, dass Sie den Irak verlassen haben, weil Sie in einer sehr unruhigen Gegend gewohnt haben. Im Irak haben damals Unruhen und Bürgerkrieg geherrscht. Entführungen haben an der Tagesordnung gestanden und alles sei durch Bombeneinschläge zerstört worden. Deshalb habe Ihre Mutter gemeinsam mit Ihnen beschlossen, dass Sie mit Ihren Onkeln in Richtung Europa fliehen sollten.

Bei Ihrer Einvernahme am 15.11.2017 vor dem BFA haben Sie angegeben, dass Sie nach der Scheidung Ihrer Mutter im Jahr 2011 im Haus Ihres Großvaters gelebt haben. Ihr Großvater sei verstorben und ein Onkel, XXXX, sei bei einem Bombenanschlag schwer verletzt worden. Nachdem der IS viele Orte im Land angegriffen habe, haben die Milizen versucht Sie und Ihre Onkel zu rekrutieren. Ein Onkel, XXXX, sei auch von unbekannten Personen entführt worden, es sei ungewiss, ob die Entführer Milizen, die Regierung oder die Polizei gewesen seien. Nachdem Lösegeld bezahlt worden sei, habe man ihn freigelassen. Als Grund seiner Entführung haben Sie angeführt, dass sein Großvater, seine Großonkel und eine Tante Mitglieder der Baath Partei gewesen seien und in einem guten Verhältnis zu Saddam Hussein gestanden haben. Sie und Ihre Onkel, mit denen Sie nach Österreich gekommen seien, haben nirgendwo im Irak leben können. Als Sie die Möglichkeit gehabt haben, seien Sie ausgewandert. Des Weiteren seien Sie ein Angehöriger des XXXXClans, ein Clan, dem gute Beziehungen zu Saddam Hussein nachgesagt werden. Dem Clan werden Verbrechen zu Saddams Zeiten angelastet, Angehörige des Clans seien Mörder und Landesverräter. Deshalb haben Sie nicht mehr die Schule besuchen können. Nach der Entführung Ihres Onkels habe Ihre Mutter beschlossen, dass Sie das Land verlassen sollten, weil Sie, wie Ihr Onkel, hätten entführt werden können. Es habe keine Sicherheit und kein Leben mehr gegeben, eine freie Bewegung sei nicht möglich gewesen. Sie haben Angst gehabt rekrutiert oder entführt zu werden. Daher habe Ihr Onkel entschieden, dass Sie das Land verlassen sollten. Dann haben Sie das Land verlassen, was wie eine Entlassung aus einem Gefängnis gewesen sei.

Weitere Fluchtgründe haben Sie nicht angegeben, den genannten hatten Sie nichts mehr hinzuzufügen und die Frage, ob Sie alle Ihre Fluchtgründe vorbringen konnten, haben Sie bejaht.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Sie in der Erstbefragung am 10.12.2015 die Entführung Ihres Onkels XXXXund eine Zugehörigkeit zum XXXXClan mit keinem Wort erwähnt, sondern sich nur auf die unsichere Lage im Irak bezogen haben. Wenn sich auch die Angaben in der Erstbefragung gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen haben (vg. idS. VfGH 27.06.1992, U 98/12), ist nicht zu übersehen, dass Sie in beiden Befragungen gänzlich unterschiedliche Verfolgungsmotive angegeben haben, ohne dass dies logisch nachvollziehbar wäre. Ein derart massiver Widerspruch im Kern des Fluchtvorbringens ist bereits für sich allein geeignet die Glaubwürdigkeit des gesamten Fluchtvorbringens in Zweifel zu ziehen (AsylGH 21.01.2013, C15 430.798-1/2012). Für die entscheidende Behörde sind die Angaben einer Entführung Ihres Onkels und Zugehörigkeit zum XXXXClan als Steigerung Ihres Fluchtgrundes zu werten. Hierbei ist auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung zu verweisen, wonach ein spätes, gesteigertes Vorbringen als unglaubwürdig qualifiziert werden kann. Denn kein Asylwerber würde wohl eine sich bietende Gelegenheit, zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten, ungenützt vorübergehen lassen (VwGH 07.06.2000, 2000/01/0250). Es ist auch anzumerken, dass Sie die Frage, welchem Clan bzw. Stamm Sie angehören, beantwortet haben, dass Sie keinem angehören. Auch ist Ihren Personendokumenten keine Zugehörigkeit zu diesem Clan zu entnehmen.

Nähere, mehr oder weniger konkrete Angaben zu Ihrem Vorbringen konnte nur auf Nachfrage in Erfahrung gebracht werden. Sie seien niemals persönlich, von Angesicht zu Angesicht bedroht worden. Sie haben auch normal bis Mai 2015 die Schule besucht, ehe Sie nach den Sommerferien wegen der angeblichen Entführung Ihres Onkels aus freien Stücken nicht mehr dorthin gegangen seien.

Ihr Onkel sei am 13.08.2015 entführt worden. Sie seien zum Zeitpunkt der Entführung zu Hause gewesen und wüssten nicht, von wo oder von wem er entführt worden sei. Am 21.08.2015 um 00 Uhr 30 sei Ihr Onkel nach der Zahlung einer Lösegeldsumme von 4500 US-Dollar freigelassen worden. Ihre Mutter und Großmutter haben deren Schmuck verkauft und die Summe aufgebracht. Die Entführer seien auch die ganze Zeit mit Ihrer Großmutter in Kontakt gestanden. Sie seien auch erst nach der Freilassung Ihres Onkels zur Polizei gegangen und haben eine Anzeige erstattet, weil es zuvor nicht möglich gewesen sei ohne das Leben Ihres Onkels zu gefährden. Die Polizei habe aber keine weiteren Schritte gesetzt. Im Widerspruch dazu hat das angebliche Entführungsopfer in dessen Einvernahme behauptet, dass sein Bruder XXXX am Tag der Entführung (Anm. 13.08.2015) zur Polizei gegangen sei. Ihr Onkel XXXX behauptet dagegen, dass man erst zwei Tage nach der Entführung (Anm. 15.08.2015) von den Entführern kontaktiert worden sei, dann zur Polizei gegangen sei und diese sogar nach dem Entführungsopfer XXXXgesucht habe. Widersprüchlich ist auch die Tatsache, dass Ihre beiden Onkel jeweils angegeben haben, dass die Lösegeldsumme 45000 US Dollar betragen habe.

Den Irak haben Sie erst am 26.10.2015 verlassen, weil Sie und Ihre Onkel gewartet haben, bis die Reisepässe, welche Sie im August beantragt haben, ausgestellt seien. Bis zu Ihrer Ausreise seien Sie nur zu Hause gewesen, außer zur Antragstellung des Reisedokumentes. Eine Bedrohung Ihrer im Irak aufhältigen Familienangehörigen haben Sie verneint, aber behauptet, dass "sie" noch immer nach Ihnen und Ihre Onkel fragen würden, letztmalig neun Monate vor der Einvernahme vor dem BFA. Für die entscheidende Behörde ist es nicht schlüssig, dass sowohl Sie, als auch Ihre Onkel bedroht werden würden, aber dennoch erst nach zwei Monaten das Land verlassen haben und davor in Ruhe die Ausreise organisieren konnten. Des Weiteren spricht auch der weitere Aufenthalt Ihrer Familienangehörigen im Irak gegen eine konkrete Verfolgung Ihrer Person aufgrund der Milizen oder der Zugehörigkeit zu dem Clan Al Janabi. Da Sie behauptet haben, dass nur Männer Probleme im Irak haben, ist es nicht plausibel, dass Ihr Vater, der sogar Polizist ist und daher einer größeren Bedrohung ausgesetzt ist, und Ihre Brüder weiterhin im Irak aufhältig sind.

Schließlich seien Sie am 26.Oktober 2015 vom Flughafen in Bagdad legal, in Besitz eines Visums, nach Istanbul in die Türkei ausgereist. Die Tatsache, dass Sie vom Flughafen in Bagdad ohne Schwierigkeiten das Land in Richtung Türkei verlassen konnten, lässt keinen Rückschluss auf eine unmittelbare Bedrohung zu, da Sie sonst wohl nicht unbehelligt in ein Flugzeug hätten steigen können. Wenn Sie für eine bestimmte Person, Gruppierung oder sogar für staatliche Behörden von Bedeutung gewesen wären, hätten Sie das Land nicht so einfach verlassen können.

Insgesamt schilderten Sie Ihre Fluchtgründe, sehr vage und oberflächlich, sodass man daraus kein konkretes, Sie persönlich betreffendes, glaubhaftes Geschehen ableiten kann.

Wären Sie tatsächlich aufgrund eines prägenden und einschneidenden Ereignisses zu Ihrer Ausreise aus dem Heimatland gezwungen worden, dann hätten Sie ein solches konkretes Ereignis auch tatsächlich konkret, detailliert, widerspruchsfrei und richtig datiert umschrieben.

Sie haben keinerlei nachvollziehbare Details (Tatzeitpunkt, Vorfallsörtlichkeiten, Angaben zu behaupteten Personen oder Gruppierung) genannt und ist aufgrund dieser Umstände davon auszugehen, dass Ihnen in Ihrem Heimatland keine asylrelevante Verfolgung droht! Auch bei konkreter Nachfrage bzgl. der Fluchtgründe haben Sie diesbezüglich keine konkreten Angaben gemacht.

Es kann daher in Gesamtbetrachtung des gegenständlichen oberflächlichen Vorbringens, nach Durchführung schriftlicher Einvernahmen, nicht festgestellt werden, dass Ihnen im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität - oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität - droht.

Letztendlich gelangt die erkennende Behörde daher im Rahmen der von Ihnen vorzunehmenden Beweiswürdigung zu einem den Denkgesetzen und den Erfahrungen des Lebens entsprechenden Ergebnis, indem sie aufgrund der getroffenen Feststellungen, insbesondere aber aufgrund des Vorbringens zu den Fluchtgründen unter Hinzuziehung der Recherchen der Staatendokumentation zu dem Schluss kommt, dass Sie mit diesem keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnten."

In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine konkrete, individuell gegen ihn selbst gerichtete Verfolgung nicht glaubhaft dargetan habe, sondern sein Land wegen der dort herrschenden schlechten Lage verlassen habe und es sei nicht feststellbar, dass er im Falle der Abschiebung in eine aussichtslose Situation geraten würde. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, insbesondere des Fremdenwesens, mehr Gewicht einzuräumen sei und ein möglicher Eingriff in seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte sei nicht als unverhältnismäßig anzusehen.

4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, Araber und schiitischer Moslem. Er lebte vor seiner Ausreise in einem Haus seiner Familie in Bagdad. Seine Eltern und Geschwister leben nach wie vor in Bagdad, wobei seine Großmutter, seine Mutter und zwei Brüder noch in diesem Haus wohnhaft sind. Auch Onkel und Tanten leben im Irak. Der Vater ist Polizist und die Mutter befindet sich zur Betreuung eines behinderten Bruders des Beschwerdeführers in Frühpension. Die Eltern des Beschwerdeführers sind geschieden. Der Beschwerdeführer hat elf Jahre die Schule besucht, die Berufe Bäcker und Maler erlernt und als Verkäufer und Maler gearbeitet.

Der Beschwerdeführer verließ ca. Ende Oktober 2015 den Irak und reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 09.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Fluchtgrund, dass er wegen der schlechten Sicherheitslage sein Land verlassen habe, ist glaubhaft. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er und seine beiden in Österreich aufhältigen Onkel wegen der Zugehörigkeit zum XXXXClan bedroht und verfolgt worden seien, ist hingegen nicht glaubhaft. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise einer konkreten, individuell gegen ihn gerichteten Verfolgung aus den von ihm genannten Gründen ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in den Irak der Gefahr einer solchen ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer führt keine Lebensgemeinschaft und hat keine Kinder. Drei Onkel des Beschwerdeführers befinden sich in Österreich, wobei zwei gemeinsam mit dem Beschwerdeführer in das Bundesgebiet eingereist sind. Er teilt sich mit diesen eine Unterkunft. Deren Beschwerden gegen ihre negativen Asylbescheide sind derzeit beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Beim dritten Onkel handelt es sich um einen österreichischen Staatsangehörigen. Der Beschwerdeführer hat eine kroatische Freundin, lebt mit ihr aber nicht zusammen. Der Beschwerdeführer hat auch Freunde in Österreich. Der Beschwerdeführer verbringt Zeit mit seiner Freundin und seinen Freunden, besuchte von August 2016 bis Jänner 2018 das XXXX und geht ins Fitnessstudio sowie in ein Sprachcafé. Er ist seit Juni 2017 zwei Stunden pro Woche in einem Restaurant als Hilfsarbeiter beschäftigt, ansonsten war bzw. ist er nicht berufstätig. Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer besucht(e) Integrations- und Deutschkurse und ist der deutschen Sprache in alltagstauglicher Weise mächtig. Die Ablegung einer Deutschprüfung hat er bislang nicht belegt. Der Beschwerdeführer ist gesund und strafrechtlich unbescholten.

Zur Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen:

Parlamentswahlen

Am 12.5.2018 wurden im Irak Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteilung lag bei 44,5 Prozent - die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist (Spiegel Online 17.5.2018). Auf zweitem Platz liegt, nach ersten Ergebnissen, das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt im Zwischenergebnis nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018).

Obwohl die Wahlkommission die Resultate der Wahl zunächst schon am 14.5.2018 veröffentlichen wollte, liegt bis dato kein offizielles Endergebnis vor (Spiegel Online 17.5.2018). Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herum handle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).

Quellen:

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Neue Züricher Zeitung (15.5.2018): Der Überraschungssieger in der Parlamentswahl öffnet neue Horizonte für den Irak, https://www.nzz.ch/international/irak-ueberraschender-wahlsieg-bei-parlamentswahl-oeffnet-horizonte-ld.1386066, Zugriff 18.5.2018

-

Die Presse (13.5.2018): Irak-Wahl: Niedrigste Beteiligung seit Sturz Saddam Husseins,

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5425941/IrakWahl_Niedrigste-Beteiligung-seit-Sturz-Saddam-Husseins, Zugriff 18.5.2018

-

Reuters (16.5.2018): Iraqi election commission says Kirkuk voting stations under siege, staff inside, https://www.reuters.com/article/us-iraq-election-kirkuk/iraqi-election-commission-says-kirkuk-voting-stations-under-siege-staff-inside-idUSKCN1IH1YA, Zugriff 18.5.2018

-

Der Spiegel Online (17.5.2018): Die Wandlung des "Mullah Atari", http://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-wahl-muqtada-al-sadrs-wandlung-von-hardliner-zum-versoehner-a-1207894.html, Zugriff 18.5.2018

-

The Washington Post (17.5.2018): During wait for Iraqi election results, political blocs scramble for influence, https://www.washingtonpost.com/world/during-wait-for-iraqi-election-results-foreign-states-scramble-for-influence/2018/05/17/a1d111d0-59da-11e8-9889-07bcc1327f4b_story.html?noredirect=on&utm_term=.beca16f25693, Zugriff 18.5.2018

Weitere Entwicklungen im Anschluss an das Kurdenreferendum, weitere Rückeroberungen von IS-Gebiet und Update Sicherheitslage mit Fokus auf Bagdad.

Am 29.10.2017 erklärte Mas'ud Barzani seinen Rücktritt als Präsident der kurdischen Region. Er lehnte in einem Brief an das kurdische Parlament eine Verlängerung seines Mandats über den 1.11.17 hinaus ab (IFK 6.11.2017). Barzani bleibt Vorsitzender der KDP (Kurdistan Democratic Party) und somit weiterhin ein wichtiger politischer Akteur. Die weiter andauernde Lähmung des kurdischen Regionalparlamentes versetzt die beiden Parteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans) weiterhin in die Lage, politische Entscheidungen ohne die Einbeziehung der Partei Goran oder anderer Parteien zu treffen (CR 14.11.2017).

Nach der Offensive der irakischen Armee und der PMF (Popular Mobilization Forces) in die von den Kurden kontrollierten Gebiete, besteht derzeit ein Waffenstillstand, es herrscht jedoch weiterhin Unsicherheit, nicht nur bezüglich der weiteren Vorgehensweise der irakischen Regierung, sondern auch die wirtschaftliche Situation Kurdistans betreffend. Unterdessen gibt es neue Beweise dafür, dass im Zuge der Offensive in den vorwiegend kurdischen Gebieten Plünderungen, Brandstiftungen, Häuserzerstörungen und willkürliche Angriffe offenbar insbesondere von Seiten der PMF (auch von Seiten turkmenischer PMF-Milizen) stattfanden. Tausende haben dabei ihre Häuser, ihre Geschäfte und ihre sonstigen Besitztümer verloren. (AI 24.10.2017; Bas 14.11.2017; HRW 20.10.2017).

Laut den Vereinten Nationen (VN) kam es im Zuge der Offensive der irakischen Regierung zur Vertreibung von zehntausenden Menschen aus den sogenannten "umstrittenen Gebieten". 180.000 Menschen sind (mit Stand 18.11.2017) nach wie vor vertrieben, 172.000 sind zurückgekehrt. Die meisten dieser Vertriebenen sind Kurden, aber auch Mitglieder anderer Minderheiten, einschließlich sunnitischer Araber und Turkmenen. Die meisten Vertriebenen lebten in den Städten Kirkuk, Daquq (Provinz Kirkuk), sowie Tuz Khurmatu (Rudaw 18.11.2017). Aus Furcht vor Repressalien kehren sie derzeit nicht in ihre Heimatgebiete zurück (Reuters 9.11.2017).

Am Abend des 12.11.2017 fand in der Grenzregion zwischen Iran und Irak ein Erdbeben der Stärke 7,3 statt. Im Irak war dabei die an der Grenze zum Iran befindliche Stadt Halabja (im Autonomen Kurdengebiet) am stärksten betroffen. Acht Menschen starben im Irak, mehr als 500 wurden verletzt und hunderte Familien wurden obdachlos. Zumindest drei Gesundheitszentren wurden beschädigt. Verglichen mit dem Iran war der Irak deutlich geringer von dem Erdbeben betroffen (UNFPA 19.11.2017).

Im Zuge der Rückeroberungen von IS-Gebieten (IS: sogenannter Islamischer Staat) werden weiterhin Massengräber gefunden. Zuletzt wurde in der Nähe der Militärbasis al-Bakara etwa drei Kilometer vor der Stadt Hawija ein Grab mit mindestens 400 Toten (mutmaßlichen IS-Opfern) entdeckt (MOI 3.11.2017; Standard 11.11.2017). Umgekehrt treten weitere Berichte von Racheakten von Seiten der Befreier zutage, laut Nahostexpertin Gudrun Harrer scheint der Zyklus der Gewalt mit dem Sieg über den IS nicht unterbrochen (Harrer 24.11.2017). Mehr als 3,1 Millionen Iraker (die überwältigende Mehrheit Sunniten) sind weiterhin Vertriebene. Weitere 2,3 Millionen sind in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt. Für den Wiederaufbau ihrer Städte erhielten die Sunniten nicht viel Hilfe von der Zentralregierung, die sich mehr auf die Bekämpfung/Zurückdrängung des IS und zuletzt der Kurden konzentrieren (NYTimes 26.10.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

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(BBC 3.11.2017)

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(Liveuamap 17.11.2017, Stand 17.11.2017)

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

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(CR 14.11.2017)

Im Folgenden findet sich ein von derselben Quelle erstellter Überblick über die Entwicklung der Zahl der Vorfälle von Kalenderwoche 26 - 44 des Jahres 2017:

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(CR 14.11.2017)

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Bagdad:

Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten "Bagdad-Belt", der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.

Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den 'Popular Mobilization Forces' (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).

Terrorattacken:

Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene ('body-born' oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte ('vehicle-borne' oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen ('under-vehicle-borne' oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).

Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.

Kidnappings und Entführungen:

Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).

Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).

Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).

Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).

All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).

Schießereien mit Handfeuerwaffen:

Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.

Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im 'Bagdad Belt' üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).

Konfessionalismus und Diskriminierung:

Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.

Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).

Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich ineiner Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).

Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:

Irakische Sicherheitskräfte (ISF):

Die ISF werden in Bagdad vom 'Baghdad Operations Command' (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).

Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).

Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selb

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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