Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Jänner 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Schriftführerin Pelikan in der Strafsache gegen Grigori S***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 2, 148 zweiter Fall StGB, über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 6. April 2018, GZ 93 Hv 6/18k-56, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Teils in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde und teils aus deren Anlass wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der rechtlichen Unterstellung der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Taten auch nach §§ 147 Abs 1 Z 1, 148 zweiter Fall StGB, demzufolge auch im Strafausspruch, weiters in der Entscheidung über den Verfall aufgehoben und die Strafsache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Mit ihrer Berufung wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Grigori S***** des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 2, 148 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.
Danach hat er von 2008 bis 2015 in W***** mit dem Vorsatz, sich durch das Verhalten der Getäuschten unrechtmäßig zu bereichern, ab der dritten Tat gewerbsmäßig (§ 70 StGB), Verantwortliche der W***** (kurz: W*****) durch Übermittlung inhaltlich falscher Beitragsmeldungen, in denen im Vergleich zu den tatsächlichen Tätigkeiten in den Betrieben weniger Dienstnehmer und geringere Stundenzahlen angegeben waren (US 4), sohin durch Täuschung über Tatsachen unter Benützung falscher Beweismittel, zur Abstandnahme von der Beitragseinhebung in gesetzlicher Höhe (US 5) verleitet, wodurch die W***** in einem insgesamt 5.000 Euro, nicht jedoch 300.000 Euro übersteigenden Betrag am Vermögen geschädigt wurde, und zwar
1./ im Jahr 2008 von der Einhebung weiterer 14.388,69 Euro;
2./ im Jahr 2009 von der Einhebung weiterer 16.184,77 Euro;
3./ im Jahr 2010 von der Einhebung weiterer 17.081,63 Euro;
4./ im Jahr 2011 von der Einhebung weiterer 21.449,97 Euro;
5./ im Jahr 2012 von der Einhebung weiterer 24.801,56 Euro;
6./ im Jahr 2013 von der Einhebung weiterer 25.429,04 Euro;
7./ im Jahr 2014 von der Einhebung weiterer 33.865,42 Euro;
8./ im Jahr 2015 von der Einhebung weiterer 11.898,59 Euro.
Das Erstgericht wies den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verfall des durch die Begehung der strafbaren Handlungen erlangten Geldbetrags nach § 20 Abs 1 StGB ab, weil der Angeklagte „keinen Vermögenswert im Wortsinne von 'etwas bekommen'“ erlangt, sondern sich „Zahlungen aufgrund gesetzlicher Pflicht“ erspart habe (US 3, 10 f).
Rechtliche Beurteilung
Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft.
Aus deren Anlass überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem unbekämpften Schuldspruch nicht geltend gemachte Nichtigkeit (Z 10) zum Nachteil des Angeklagten anhaftet, die von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO):
Nach den Feststellungen übersandte der Angeklagte „über seinen Steuerberater den Verantwortlichen der W***** regelmäßig und rechtzeitig die persönlichen Daten und Stundenlisten seiner Dienstnehmer in schriftlicher Form“. In diesen Listen waren jedoch „weniger Dienstnehmer und zugehörige Stundenzahlen angegeben, als die Dienstnehmer tatsächlich in den Betrieben des Angeklagten tätig waren. Aufgrund dieser Vorgehensweise verlangten die Zuständigen der W***** nur jene Beträge vom Angeklagten, welche sich aus den von diesem übermittelten schriftlichen Informationen gesetzlich und rechnerisch ergaben und unterließen es deswegen, weitere Beträge bei ihm geltend zu machen bzw. einzufordern“ (US 4 f).
Die in den Feststellungen nicht näher beschriebenen Listen qualifizierte das Erstgericht als „falsches Beweismittel“ im Sinn des § 147 Abs 1 Z 1 (richtig:) fünfter Fall StGB (US 8).
Als solches kommt eine echte, inhaltlich unrichtige Urkunde („Lugurkunde“) aber nur in Betracht, wenn ihr ein eigener Beweiswert zukommt, der über die unwahren Sachverhaltsbehauptungen des Täuschenden hinausgeht (RIS-Justiz RS0103663 [T5 bis T7, T9, T13 bis T17]; Kirchbacher in WK2 StGB § 147 Rz 36; vgl auch RIS-Justiz RS0117739). Dieses Kriterium ist bei unrichtigen Beitragsnachweisen, welche (gleich einer mündlichen Lüge) nur die unwahren Sachverhaltsbehauptungen des Dienstgebers gegenüber der W***** umfassen, nicht erfüllt.
Das Erstgericht hat daher die vom Schuldspruch erfassten Taten auf Grundlage der getroffenen Feststellungen zu Unrecht (auch) § 147 Abs 1 Z 1 StGB unterstellt, weshalb diese Subsumtion ebenso wie jene nach § 148 zweiter Fall StGB, die unter dem Aspekt der Verwendung falscher Beweismittel angenommen wurde (US 6), aufzuheben war. Daraus folgt auch die Kassation des Strafausspruchs.
Im zweiten Rechtsgang wird zu prüfen sein, ob die Auflistungen des Angeklagten dem Steuerberater lediglich als Eingabehilfe gedient haben (vgl §§ 34, 41 ASVG in den zu den Tatzeiten jeweils geltenden Fassungen), oder diese dem Krankenversicherungsträger allenfalls zusätzlich oder nachträglich über Aufforderung vorgelegt wurden. Sollten tatsächlich übermittelte Monatslisten (vgl ON 2 S 51 ff) gefälschte Unterschriften aufweisen, wäre eine Unterstellung nach § 147 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB möglich, enthalten sie (echte) Bestätigungen der Falscherklärungen durch Dritte, wäre der fünfte Fall leg cit anzunehmen. Die Qualifikation nach § 148 zweiter Fall StGB käme wiederum auch (vgl Jerabek/Ropper in WK2 StGB § 70 Rz 13/5; RIS-Justiz RS0130965, RS0131765) in Betracht, wenn durch einzelne Taten (vgl zu den Beitragszeiträumen § 44 Abs 2 ASVG in den jeweils geltenden Fassungen) ein 5.000 Euro übersteigender Schaden herbeigeführt wurde.
Der gegen die Entscheidung über den Verfall gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde kommt Berechtigung zu:
Zutreffend zeigt die Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) auf, dass das Schöffengericht den Ausspruch eines Verfalls nach § 20 Abs 3 StGB zu Unrecht von vornherein abgelehnt hat.
Der Verfall nach § 20 Abs 1 StGB bezieht sich auf Vermögenswerte, die für die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung oder durch sie erlangt wurden, und erstreckt sich nach Abs 2 leg cit auch auf Nutzungen und Ersatzwerte. Der Anknüpfungstatbestand der Maßnahme, nämlich der Begriff „Vermögenswerte“, umfasst alle wirtschaftlichen Vorteile, die in Zahlen ausgedrückt werden können. Durch mit Strafe bedrohte Handlungen erlangte geldwerte Dienstleistungen sind vom Begriff „Vermögenswerte“ daher ebenso erfasst wie ersparte Aufwendungen oder Nutzungen von Gebrauchsvorteilen (vgl EBRV 918 BlgNR 24. GP 7; 14 Os 29/16w mwN). Die Anordnung des insoweit nicht gegenstandsbezogenen Verfalls kann in diesem Anwendungsbereich nur auf § 20 Abs 3 StGB gestützt werden, dessen Bezugnahme auf Abs 1 nach diesem Begriffsverständnis auch mit Blick auf das strafrechtliche Analogieverbot (§ 1 StGB) unproblematisch ist (vgl hingegen Fuchs/Tipold in WK2 StGB § 20 Rz 17).
Diese Interpretation entspricht auch dem Gebot zu unionsrechtskonformer Auslegung (RIS-Justiz RS0075866, RS0125352), denn die im StGB vorgesehenen vermögensrechtlichen Anordnungen dienen nicht zuletzt der Umsetzung internationaler und unionsrechtlicher Vorgaben (EBRV 918 BlgNR 24. GP 6), etwa des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen von Straftaten (ABl 2005 L 68), dessen Art 1 unter dem Begriff „Ertrag“ (denkbar weit) jeden wirtschaftlichen Vorteil, der durch Straftaten erlangt wird, versteht. Eine andere vermögensrechtliche Anordnung als der Verfall kommt (nach dem StGB) für die Umsetzung dieser Vorgabe nicht in Betracht. „Vermögenswerte“ sind daher als Überbegriff von „Erträgen“ und „Vermögensgegenständen“ im Sinn des Rahmenbeschlusses zu verstehen (zum Ganzen 14 Os 29/16w).
Die vom Erstgericht geäußerten Bedenken, wonach bei dieser Interpretation „die Anwendung der Bestimmungen des Verfalls praktisch keiner Grenzziehung mehr unterworfen“ wäre, weil nahezu „jede Tathandlung einen Vorteil für den Angeklagten bedeutet und nahezu jeder Vorteil in Geld oder zumindest in einem wirtschaftlichen Vorteil ausgedrückt werden kann“, erweisen sich als unbegründet, weil § 20 StGB – der erste Fall des § 20 Abs 1 StGB steht hier nicht in Rede (vgl 14 Os 117/18i) – (nur) durch die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung erlangte Vermögenswerte erfasst. Damit ist klargestellt, dass die Ersparnis der Aufwendungen deliktsspezifisch-umittelbare und nicht bloß gelegentliche Folge der mit Strafe bedrohten Handlung sein muss (vgl Fuchs/Tipold in WK² StGB § 20 Rz 12).
Dem Beschwerdestandpunkt der Staatsanwaltschaft folgend hat das Erstgericht demnach den Ausspruch des Verfalls nach § 20 Abs 3 StGB zu Unrecht von vornherein abgelehnt, weshalb mit Kassation der Entscheidung über den Verfall vorzugehen war.
Im zweiten Rechtsgang wird zu beachten sein, dass Sozialversicherungsbeiträge, deren Einforderung vorliegend die W***** in den Jahren 2011 bis 2015 täuschungsbedingt unterließ (US 4 f), nach dem zuvor Gesagten als „ersparte Aufwendungen“ von § 20 StGB erfasste Vermögenswerte sind, die der Angeklagte durch die Tatbegehung erlangt hat. Für die in den Jahren 2011 bis 2015 begangenen Taten (vorliegend zu nach Tatzeiträumen pauschal zusammengefassten gleichartigen Verbrechensmengen) wäre daher nach § 20 Abs 3 StGB der Verfall eines Geldbetrags von 117.444,58 Euro auszusprechen, sofern nicht die (noch zu prüfenden) Voraussetzungen des § 20a Abs 2 Z 3 StGB vorliegen.
Bei vermögensrechtlichen Anordnungen hinsichtlich der in den Jahren 2008 bis 2010 begangenen Taten ist wiederum für jede Tat (vorliegend für jede gleichartige Verbrechensmenge) fallbezogen ein Günstigkeitsvergleich vorzunehmen (RIS-Justiz RS0119545). Denn den Verfall in der Fassung des strafrechtlichen Kompetenzpakets (kurz: sKp [BGBl I 2010/108]) gibt es erst seit 1. Jänner 2011. Für den Zeitraum davor sah das Gesetz als vergleichbare vermögensrechtliche Maßnahme die Abschöpfung der (nur) nach dem Nettoprinzip zu ermittelnden (unrechtmäßigen) Bereicherung vor. Abgesehen vom Ausschluss der Abschöpfung, sofern die Bereicherung durch andere rechtliche Maßnahmen beseitigt wird (§ 20a Abs 1 StGB idF BGBl I 2004/136) war von dieser nach § 20a Abs 2 Z 3 StGB (idF BGBl I 2004/136) abzusehen, wenn sie das Fortkommen des Bereicherten unverhältnismäßig erschwert oder ihn unbillig hart getroffen hätte.
Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO und bezieht sich nicht auf die amtswegige Maßnahme (Lendl, WK-StPO § 390a Rz 12).
Textnummer
E124072European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0140OS00120.18F.0129.000Im RIS seit
19.02.2019Zuletzt aktualisiert am
20.10.2020