TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/14 G311 2203785-1

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Veröffentlicht am 14.11.2018
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Entscheidungsdatum

14.11.2018

Norm

B-VG Art.133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §70 Abs3

Spruch

G311 2203785-1/10E

Schriftliche Ausfertigung des am 14.09.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva WENDLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX,Staatsangehörigkeit: Tschechische Republik, vertreten durch RA Dr. VACARESCU, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.07.2018, Zahl XXXX nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.07.2018, zugestellt am 23.07.2018, wurde über den Beschwerdeführer gemäß § 67 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot verhängt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 70 Abs. 3 FPG wurde dem Beschwerdeführer kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.) und einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seit 24.03.1998 seinen Hauptwohnsitz in Österreich habe. Der ursprüngliche Zweck seines Aufenthaltes im Bundesgebiet sei nicht bekannt. In weiterer Folge wurden seine Beschäftigungszeiten beginnend ab 01.08.2005 angeführt. Er sei seit 24.09.2013 im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels - Bescheinigung Daueraufenthalt. Zu seinem Privat- und Familienleben habe der Beschwerdeführer keine Stellungnahme abgegeben. Die Behörde führte dazu wörtlich wie folgt aus: "Die Behörde geht davon aus, dass Sie in Österreich weder rechtshemmende soziale berufliche noch familiäre Anknüpfungspunkte haben. Aufgrund der jüngsten Gestalt, Ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet, liegt auch keine rechtshemmende Integration vor." Zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes wurde auf eine Verurteilung durch das Landesgericht XXXX und des Oberlandesgerichtes XXXX wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verwiesen. In der rechtlichen Beurteilung wurde dazu ausgeführt, dass das Verhalten des Beschwerdeführers zeige, dass er kein Interesse daran habe, die Gesetze Österreichs zu respektieren. Sein bisheriger Aufenthalt in Österreich beeinträchtige massiv die Grundinteressen der Gesellschaft, nämlich jene der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, der Integrität und körperlichen Unversehrtheit Dritter sowie des sozialen Friedens. Das von ihm gezeigte Verhalten sei erst vor kurzem gesetzt worden und sei aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation mit einer Fortsetzunge zu rechnen. Die durch den Beschwerdeführer beeinträchtigten öffentlichen Interessen seien maßgeblich für das Wohlergehen und - befinden der Bevölkerung und könne der Beschwerdeführer daher als erhebliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit bezeichnet werden. Aufgrund der Missachtung der Rechtsordnung sowie aufgrund seiner Lebenssituation in Österreich sei auch das Tatbestandsmerkmal der Nachhaltigkeit erfüllt.

Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Der Beschwerdeführer sei erstmals im Alter von neun Jahren 1998 gemeinsam mit seiner Mutter in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Der Beschwerdeführer sei seit dreizehn Jahren mit kurzen Unterbrechungen in Österreich beschäftigt. Der Beschwerdeführer sei mit einer tschechischen Staatsangehörigen verheiratet gewesen, sie seien mittlerweile geschieden. Das gemeinsame minderjährige Kind lebe bei der Kindesmutter in Tschechien. Die strafgerichtliche Verurteilung durch das Landesgericht für Strafsachen und das Oberlandesgericht XXXX werde außer Streit gestellt. Der Beschwerdeführer halte sich seit seinem neunten Lebensjahr legal in Österreich auf, er sei hier auch seit 2005 bis zu seinem Haftantritt einer legalen Beschäftigung hier nachgegangen. Dies wäre im Sinne des Art 8 EMRK zu berücksichtigen gewesen. Dem angefochtenen Bescheid lasse sich nicht einmal ansatzweise eine Gefährdungsprognose entnehmen. Die Behörde habe in wesentlichen Punkten jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen.

Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht vom Bundesamt vorgelegt und langten am 20.08.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Dazu legte das Bundesamt eine Stellungnahme vor. Zum Verfahrenablauf sei festzuhalten, dass dieser und die Verfahrensgestaltung der belangten Behörde im Einklang mit der aktuellen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfolgt sei. Zu seinen familiären und privaten Bindungen habe der Beschwerdeführer im Zuge der Beschwerdeerhebung soziale und familäre Bindungen ins Treffen geführt. Er habe sich dabi vor allem seiner Mutter "bedient". Die belangte Behörde habe jedoch festgestellt, dass er zu dieser keine "rechtshemmenden" Bindungen aufweise. Das vom Beschwerdeführer vorgebrachte Verhältnis zu seiner Mutter habe schon deswegen in Abrede gestellt werden müssen, da der Beschwerdeführer aufgrund seiner Straftaten, Haftaufenthalte und "generellen Aufenhalte in Anhaltung" außerhalb des Bundesgebietes ein solches Verhältnis schon dadurch nicht gepflegt habe und aus eigenem heraus nicht gelebt habe. Zum Aufenthaltsverbot wurde ausgeführt, dass aufgrund des rechtswidrigen Handelns des Beschwerdeführers sich eine "subsumierte negative Zukunftsprognose" aufdränge. Im Hinblick auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sehe die belangte Behörde aufgrund des schwer gefährdenden und beeinträchtigenden Fehlverhaltens des Beschwerdeführers ein in der Dauer von 10 Jahren befristetes Aufenthaltsverbot als ausreichend begründet und verhältnismäßig an. Der Beschwerdeführer sei in Tschechien erst vor kurzem rechtskräftig "iSd SMG" verurteilt und aus der Anhaltung entlassen worden. Es werde beantragt, die Beschwerde vollinhaltlich als unbegründet abzuweisen und nunmehr vorgelegte Urkunden und Dokumente iSd Neuerungsverbotes zurückzuweisen.

Mit Schriftssatz vom 05.09.2018 brachte der Beschwerdeführer ergänzend vor, er genieße den verstärkten Schutz nach Artikel 28 Abs. 3 lit.a der Richtlinie 2004/38/EG. Diese Bestimmung sei dahingehend auszulegen, dass im Falle eines Unionsbürgers, der eine Freiheitsstrafe verbüßt und gegen den eine Ausweisungsverfügung ergeht, die Voraussetzung "den Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Aufnahmemitgliedstaat" gehabt zu haben, erfüllt sein kann, sofern eine umfassende Beurteilung der Situation zu dem Schluss führe, dass die Integrationsbande trotz der Haft nicht abgerissen sind. Ein solches Integrationsband liege im Fall des Beschwerdeführers jedenfalls vor. Es wurde dabei auf die Entscheidung des EuGH vom 17.04.2018, C-316/16 u C- 424/16 ua verwiesen. Vorgelegt wurde weiters ein Sozialversicherungsdatenauszug vom 03.08.2018.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.09.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.

Der Rechtsvertreter verwies einleitend auf das bisherige Vorbringen.

Der Beschwerdeführer gab an, er sei ein Jahr später in die Schule gegangen und habe nur die erste Klasse Grundschule in Tschechien besucht. Er sei mit seiner Mutter nach Österreich gekommen, sie habe einen österreichischen Staatsangehörigen geheiratet, der sein Stiefvater sei. Er sei das jüngste von drei Geschwistern und habe mit seiner Mutter mitkommen müssen. Er habe die Volksschule und Hauptschule besucht und abgeschlossen. Danach habe er eine Lehre bei einer Autofirma begonnen und die Berufsschule in Eggenburg besucht. Die Adresse sei die Wohnadresse seiner Mutter und seines Stiefvaters. Er sei dort bis zur Festnahme wohnhaft gewesen.

Sein leiblicher Vater und seine Geschwister würden noch in Tschechien leben. Er telefoniere mit seinem Vater ca. zwei bis drei Mal im Jahr. Mit seiner Schwester habe er selten Kontakt. Sie habe ihn jetzt einmal in Haft besucht. Er lebe derzeit nicht in einer Beziehung, habe aber einen großen Freundeskreis in Österreich.

Über Befragen des Rechtsvertreters gab der Beschwerdeführer an:

Er sehe seinen Stiefvater als seinen richtigen Vater an, dieser habe ihn aufgezogen und habe ihm alles beigebracht, insbesondere die deutsche Sprache.

Er könnte bei seinem vorherigen Arbeitgeber V GmbH (siehe SV-Auszug vom 13.09.2018) zu arbeiten beginnen. Sein Chef stehe voll hinter ihm und zahle auch den Anwalt im gegenständlichen Verfahren.

Er habe einen fünfjährigen Sohn. Dieser sei tschechischer Staatsbürger. Der Beschwerdeführer habe bis zur Festnahme Unterhalt geleistet. Der Sohn habe den Beschwerdeführer einen Tag vor der Festnahme besucht. Der Kontakt sei leider nur lose. Der Sohn lebe in Tschechien bei der Kindesmutter.

Der Beschwerdeführer lebe seit seiner Einreise 1998 durchgehend in Österreich. Er sei maximal während eines Urlaubes oder am Wochenende nicht in Österreich aufhältig gewesen.

Er habe selbst Drogen konsumiert, und zwar gelegentlich Marihuana am Wochenende. Er habe mit dem Drogenhandel seine Sucht finanzieren wollen. Er habe vor der Haft eine Gesprächstherapie besucht, ca. zehn Mal sei er dort gewesen. Jetzt sei er clean. Er habe Marihuana von Tschechien nach Österreich gebracht.

Im Anschluss an die Verhandlung wurde das Erkenntnis verkündet.

Mit Email vom 24.09.2018 beantragte die belangte Behörde die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses. Mit Email vom 04.10.2018 ersuchte die belangte Behörde um "schriftliche Information", wann mit der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses gerechnet werden dürfe. Mit dem Betreff "XXXX, geb.:

XXXX, StA.: Tschechische Republik - IFA XXXX - 3. Urgenz" wurde neuerlich um Mitteilung ersucht, wann mit der schriftlichen Ausfertigung des Erkennntisses gerechnet werden dürfe.

Das erkennende Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der angefochtene Bescheid mit 20.07.2018 datiert, die Beschwerdevorlage beim erkennenden Gericht am 20.08.2018 erfolgte und die öffentliche mündliche Verhandlung samt Verkündung der Entscheidung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 14.09.2018 stattfand. Im Übrigen wird auf § 38 VwGG verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

Der am XXXX geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Tschechischen Republik. Er zog 1998 mit seiner Mutter nach Niederösterreich, die hier einen österreichischen Staatsangehörigen heiratete. Der Beschwerdeführer wuchs bei ihnen auf und besuchte hier die Schule. Er lebt seit März 1998 rechtmäßig in Österreich, und zwar mit seiner Mutter und ihrem Ehegatten im gemeinsamen Haushalt in Niederösterreich. Ihm wurde am 24.09.2013 die Bescheingung des Daueraufenthaltes ausgestellt.

Er war von 01.08.2005 bis 31.07.2008 als Arbeiterlehrling und von 01.08.2008 bis 14.03.2014 als Arbeiter bei einem Autohaus in Niederösterreich beschäftigt. Er bezog von 15.03.2014 bis 06.04.2014, von 09.05.2015 bis 23.07.2015 und von 08.08.2015 bis 12.10.2015 Arbeitslosgengeld. Von 07.04.2014 bis 10.04.2015 sowie von 13.10.2015 bis 18.03.2016 war er als Arbeiter bei N. zur Sozialversicherung gemeldet. Zuletzt war er von 03.07.2017 bis 08.07.2018 bei der V GmbH als Arbeiter beschäftigt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX, Zahl XXXX, vom XXXX.2018, erging über den Beschwerdeführer (J.D.) folgender Schuldspruch:

"J. D. ist schuldig, er hat vorschriftswidrig Suchtgift, in einer die Grenzmenge (§ 28b) übersteigenden Menge

I. im Zeitraum von Anfang 2012 bis XXXX.2017 in H. und D. durch regelmäßige Fahrten mit seinem PKW bzw. mit der Bahn aus der Tschechischen Republik in das österreichische Bundesgebiet eingeführt, und zwar insgesamt 17,8 kg Cannabiskraut, beinhaltend

1.534 Gramm THCA und 117 Gramm Delta-9-THC;

II. von der unter Punkt I. näher bezeichneten Menge Nachgenannten überlassen, und zwar

A) zwischen März 2016 und Oktober 2016 in H. dem abgesondert

verfolgten A. S. insgesamt 7 kg Cannabiskraut, beinhaltend 603 Gramm THCA und 46 Gramm Delta-9-THC, welches er zu einem Grammpreis von EUR 1,80 bis EUR 2,00 in Tschechien erwarb, durch gewinnbringenden Verkauf zu einem Grammpreis von EUR 2,50 bis EUR 3,50;

B) im Zeitraum zwischen Anfang 2012 und Herbst 2016 in L.

1) dem abgesondert verfolgten S.A. unentgeltlich insgesamt 3 kg Cannabiskraut, beinhaltend 259 Gramm THCA und 19,8 Gramm Delta-9-THC; sowie

2) dem abgesondert verfolgten I.G. unentgeltlich insgesamt 3,3 kg Cannabiskraut, beinhaltend 284 Gramm THCA und 22 Gramm Delta-9-THC,

wobei er die Straftat nach Abs 1 zweiter und fünfter Fall jeweils in Bezug auf Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge übersteigende Menge beging.

J. D. hat hiedurch

zu I. das Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter Fall, Abs 4 Z 3 SMG;

zu II. das Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG

begangen und wird hiefür unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach dem Strafsatz des § 28a Abs 4 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von

3 (drei) Jahren

sowie gemäß § 389 Abs 1 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.

Gemäß § 43a Abs 4 StGB wird ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen."

In den Entscheidungsgründen wurde zunächst zur Person des Beschwerdeführers ausgeführt, dass der Beschwerdeführer mit Urteil des Bezirksgerichtes in XXXX, Tschechien, vom XXXX.2017 wegen des Verbrechens der unerlaubten Erzeugung und anderer Verfahren mit Betäubungsmittel und psyhotropen Stoffen und Giften zu einer für eine Probezeit von 18 Monaten bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt wurde.

Der dagegen erhobenen Berufung der Staatsanwaltschaft XXXX wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes XXXX vom XXXX.2018, Zahl XXXX, dahin Folge gegeben, dass die teilweise bedingte Nachsicht der Freiheitsstrafe ausgeschaltet wurde. Begründend wurde ausgeführt, dass einem Milderungsgrund (reumütiges Geständnis) Erschwerungsgründe gegenüberstehen würden, über einen Tatzeitraum von mehr als fünf Jahren knapp 18 kg Cannabiskraut nach Österreich eingeführt worden seien und ihn die Verurteilung in Tschechien nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten habe können.

Der Beschwerdeführer befand sich von XXXX.2017 bis XXXX.2017 in Haft, seit XXXX.07.2018 befindet er sich wiederum in Haft.

Aufgrund der zitierten Urteile des Landesgerichtes XXXX sowie des Oberlandesgerichtes XXXX wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer die in den genannten Urteilen festgestellten strafbaren Handlungen begangen, je das umschriebene Verhalten gesetzt hat und die genannte strafgerichtliche Verurteilung des Bezirksgerichtes Breclav vorliegt.

Der Beschwerdeführer konsumierte seit 2009 regelmäßig Cannabis, er besuchte vor seiner Haft eine Gesprächstherapie und ist im Entscheidungszeitpunkt clean.

Der Beschwerdeführer war mit einer tschechischen Staatsangehörigen verheiratet, er ist nunmehr geschieden. Die Ex-Gattin lebt mit dem gemeinsamen minderjährigen Kind in Tschechien, zum Kind besteht loser Kontakt. Seine beiden Geschwister leben in Tschechien.

Der Beschwerdeführer spricht ausgezeichnet Deutsch.

2. Beweiswürdigung:

Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei:

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität und zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers getroffen wurden, beruhen diese auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen in der gegenständlichen Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.

Die genannten strafgerichtlichen Urteile sind aktenkundig und werden der gegenständlichen Entscheidung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zugrunde gelegt.

Das Bundesverwaltungsgericht nahm Einsicht in das Fremdenregister, das Strafregister, das Zentrale Melderegister und die Sozialversicherungsdaten des Beschwerdeführers.

Dem eingeholten Auszug aus dem Fremdenregister und auch den Feststellungen der belangten Behörde war nicht zu entnehmen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet zu irgendeinem Zeitpunkt rechtswidrig gewesen wäre. Es war daher - in Zusammenschau mit den Melde- und Sozialversicherungsdaten - festzustellen, dass sich der Beschwerdeführer bereits über zwanzig Jahre im Bundesgebiet aufhält.

Die übrigen Feststellungen zur persönlichen Situation des Beschwerdeführers beruhen auf den eigenen Angaben des Beschwerdeführers in der Beschwerde, den von ihm vorgelegten Unterlagen und den entsprechenden Ausführungen in den aktenkundigen Strafurteilen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

§ 53a Abs. 1 und Abs. 2 NAG lauten:

"(1) EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), erwerben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Ihnen ist auf Antrag nach Überprüfung der Aufenthaltsdauer unverzüglich eine Bescheinigung ihres Daueraufenthaltes auszustellen.

(2) Die Kontinuität des Aufenthalts im Bundesgebiet wird nicht unterbrochen von

1. Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr;

2. Abwesenheiten zur Erfüllung militärischer Pflichten oder

3. durch eine einmalige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Entbindung, schwerer Krankheit, eines Studiums, einer Berufsausbildung oder einer beruflichen Entsendung."

§ 66 Abs. 1 FPG lautet:

"(1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt."

§ 67 Abs. 1 FPG in der Fassung des Fremdenrechts-Änderungsgesetzes 2017 (FrÄG 2017), BGBl. I Nr. 145/2017 lautet:

"§ 67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) lauten:

"[...]

(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.

(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie

a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat

gehabt haben oder

b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

[...]"

Der die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegenüber EWR-Bürger regelnde § 86 Abs. 1 FPG idF BGBl. I Nr. 100/2005, der von 01.01.2006 bis 31.12.2009 in Geltung war, sah zwei unterschiedliche Gefährdungsmaßstäbe - als Bezugspunkt für die für jedes Aufenthaltsverbot Voraussetzung bildende Gefahrenprognose - vor. Einerseits (nach dem ersten und zweiten Satz) die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, wobei eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr auf Grund eines persönlichen Verhaltens des betreffenden Fremden vorliegen musste, und andererseits (nach dem fünften Satz) - wenn der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte - darüber hinausgehend eine nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet.

Der nunmehr in Geltung befindliche § 67 Abs. 1 FPG fünfter Satz kommt schon dann zur Anwendung, wenn der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige einen zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Die in § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG noch enthaltene Wendung "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" findet sich in der nunmehrigen Bestimmung des § 67 Abs. 1 FPG nicht mehr, sodass eine solche Einschränkung seither nicht (mehr) Platz zu greifen hat (vgl VwGH 24.03.2015, Ro 2014/21/0079 mwN).

§ 67 Abs. 1 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 enthält somit zwei Stufen für die Gefährdungsprognose, nämlich einerseits (nach dem ersten und zweiten Satz) die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, wobei eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr auf Grund eines persönlichen Verhaltens vorliegen muss, und andererseits (nach dem fünften Satz) die nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen mit mindestens zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. im Fall von Minderjährigen (VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181; 15.09.2016, Ra 2016/21/0262).

Der Beschwerdeführer hält sich seit März 1998 und damit seit über 20 Jahren im Bundesgebiet auf, er war von XXXX.2017 bis XXXX.2017 in Haft. In weiterer Folge befindet er sich seit XXXX.07.2018 in Haft.

Weder dem Spruch noch der Bescheidbegründung des angefochtenen Bescheides lässt sich entnehmen, welchen Gefährdungsmaßstab die belangte Behörde bei der Beurteilung des gegenständlichen Aufenthaltsverbotes herangezogen hat. So wird einerseits in der rechtlichen Beurteilung ausgeführt, dass der Beschwerdeführer wegen der durch ihn beeinträchtigten öffentlichen Interessen als erhebliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit bezeichnet werden kann. Aufgrund der Missachtung der Rechtsordnung sowie aufgrund der Lebensituation des Beschwerdeführers sei auch das Tatbestandsmerkmal der Nachhaltigkeit erfüllt (Seite 13 des angefochtenen Bescheides). An anderer Stelle hingegen heißt es, dass das persönliche Verhalten des Beschwerdeführers eine gegenwärtige, erhebliche und schwerwiegende Gefahr für die Grundinteressen der Gesellschaft darstelle (Seite 16 des angefochtenen Bescheides).

Für das erkennende Gericht waren bei der rechtlichen Beurteilung folgende Erwägungen maßgebend:

In einem Verfahren betreffend Aufenthaltsverbot ist bei der Frage nach dem auf einen Fremden anzuwendenden Gefährdungsmaßstab das zu Art. 28 Abs. 3 lit. a der Rl 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ergangene Urteil des EuGH vom 16.01.2014, Rs C-400/12, zu berücksichtigen, weil § 67 Abs. 1 FrPolG 2005 insgesamt der Umsetzung von Art. 27 und 28 dieser Rl - § 67 Abs. 1 fünfter Satz FrPolG 2005 im Speziellen der Umsetzung ihres Art. 28 Abs. 3 lit. a - dient. Der zum erhöhten Gefährdungsmaßstab nach Art. 28 Abs. 3lit. a der genannten RL bzw. dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FrPolG 2005 führende zehnjährige Aufenthalt im Bundesgebiet muss demnach grundsätzlich ununterbrochen sein. Es können einzelne Abwesenheiten des Fremden unter Berücksichtigung von Gesamtdauer, Häufigkeit und der Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, Österreich zu verlassen, auf eine Verlagerung seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen schließen lassen. Auch der Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen ist grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthaltes iSd Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug mehrere Jahre lang (kontinuierlich) im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Dies ist - bei einer umfassenden Beurteilung - im Rahmen der Prüfung zu berücksichtigen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind VwGH 24.03.2015, Ro 2014/21/0079, mwN).

Der Beschwerdeführer hat in seiner Beschwerdeergänzung zutreffend auf die Entscheidung des EuGH vom 17.04.2018, C-316/16 u C- 424/16 verwiesen. Darin führt der EuGH wie folgt aus:

"63 Mit seinen zusammen zu prüfenden ersten drei Fragen möchte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 gestellte Anforderung, den "Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat" gehabt zu haben, dahin auszulegen ist, dass - und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen - sie von einem Unionsbürger erfüllt werden kann, der in jungem Alter in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, gekommen ist und dort 20 Jahre lang gelebt hat, bevor er dort zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, die zu dem Zeitpunkt, in dem eine Ausweisungsverfügung gegen ihn ergeht, im Vollzug begriffen ist.

64 Insoweit trifft zwar erstens zu, dass die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 einen besonderen Schutz für diejenigen Personen vorsehen, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben, doch ist das entscheidende Kriterium für die Gewährung des durch Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 verbürgten verstärkten Schutzes nichtsdestoweniger, ob sich der Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat über ein Recht auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 und Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie verfügt, wie von besagtem Art. 28 Abs. 3 gefordert, in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisungsverfügung in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, Rn. 31, und vom 16. Januar 2014, G., C-400/12, EU:C:2014:9, Rn. 23).

65 Daraus folgt insbesondere, dass der für die Gewährung des verstärkten Schutzes gemäß Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 erforderliche Aufenthalt von zehn Jahren vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung der betreffenden Person an zurückzurechnen ist (Urteil vom 16. Januar 2014, G., C-400/12, EU:C:2014:9, Rn. 24).

66 Zweitens ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dieser Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2014, G., C-400/12, EU:C:2014:9, Rn. 27).

67 In dieser Hinsicht ist jedoch auch darauf hinzuweisen, dass Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 so zwar den Genuss des darin vorgesehenen verstärkten Schutzes vor Ausweisung von der Anwesenheit des Betroffenen im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung abhängig macht, sich aber daraus nichts zu der Frage ergibt, welche Umstände eine Unterbrechung dieser Aufenthaltsdauer von zehn Jahren bewirken können, die für den Erwerb des Rechts auf verstärkten Ausweisungsschutz erforderlich ist (Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, Rn. 29).

68 Der Gerichtshof hat so entschieden, dass hinsichtlich der Frage, inwieweit Abwesenheiten vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats in dem in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraum den Betroffenen daran hindern, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen ist, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt (Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, Rn. 32).

69 Dafür haben die mit der Anwendung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 betrauten nationalen Behörden alle in jedem Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen. Zu prüfen ist nämlich, ob die fraglichen Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen in einen anderen Staat verlagert hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, Rn. 33)

70 Was die Frage betrifft, ob gegebenenfalls Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe als solche und unabhängig von Zeiten der Abwesenheit vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ebenfalls zu einem Abreißen des Bandes zu diesem Staat und zu einer Diskontinuität des Aufenthalts dort führen können, hat der Gerichtshof entschieden, dass zwar solche Zeiträume grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 unterbrechen. Für die Zwecke der Feststellung, ob sie damit zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat dergestalt geführt haben, dass der Betroffene nicht mehr in den Genuss des durch diese Bestimmung verbürgten verstärkten Schutzes kommen kann, ist aber gleichwohl eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt. Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen, wozu gegebenenfalls der Umstand zählt, dass der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor seiner Inhaftierung seinen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2014, G., C-400/12, EU:C:2014:9, Rn. 33 bis 38).

71 Insbesondere bei einem Unionsbürger, der früher, noch vor der Begehung einer seine Inhaftierung begründenden Straftat, bereits die Voraussetzung eines ununterbrochenen Aufenthalts von zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat erfüllte, kann nämlich der Umstand, dass er von den Behörden dieses Staates in Haft genommen wurde, nicht als geeignet angesehen werden, ohne Weiteres seine zuvor zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande abreißen zu lassen sowie die Kontinuität seines Aufenthalts in dessen Hoheitsgebiet im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 zu unterbrechen und ihn damit um den verstärkten Ausweisungsschutz zu bringen, der durch diese Bestimmung verbürgt ist. Ein solches Verständnis hätte auch zur Folge, dass dieser Bestimmung weitgehend ihre praktische Wirksamkeit genommen würde, da eine Ausweisung zumeist gerade wegen des Verhaltens des Betroffenen verfügt werden wird, das zu seiner Verurteilung und zum Freiheitsentzug geführt hat.

72 Im Rahmen der oben in Rn. 70 angesprochenen umfassenden Beurteilung, die hier vom vorlegenden Gericht vorzunehmen sein wird, wird dieses, was die Integrationsbande betrifft, die B in der Zeit des Aufenthalts vor seiner Inhaftierung zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpft hat, zu berücksichtigen haben, dass, je fester diese Integrationsbande zu dem besagten Staat insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind - in einem Maße beispielsweise, dass sie zu einer echten Verwurzelung in der Gesellschaft dieses Staates geführt haben, wie sie vom vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren festgestellt worden ist -, umso geringer die Wahrscheinlichkeit sein wird, dass eine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 geführt haben kann.

73 Was die anderen für die Zwecke dieser umfassenden Beurteilung relevanten Anhaltspunkte anbelangt, so können sie, wie vom Generalanwalt in den Nrn. 123 bis 125 seiner Schlussanträge ausgeführt, zum einen die Art der die fragliche Haft begründenden Straftat sowie die Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, und zum anderen alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Bezug auf das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs umfassen.

74 Während nämlich die Art der Straftat und die Umstände ihrer Begehung ermessen lassen, in welchem Maß sich der Betroffene gegebenenfalls der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats entfremdet hat, kann sein Verhalten während der Haft wiederum dazu beitragen, dass eine solche Entfremdung verstärkt wird, oder aber im Gegenteil dazu, dass im Hinblick auf die baldige Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zuvor zu diesem geknüpfte Integrationsbande aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden.

75 In letzterer Hinsicht ist auch zu berücksichtigen, dass, wie vom Gerichtshof bereits festgestellt, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist, nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt (Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, Rn. 50).

76 Zu den Fragen, die das vorlegende Gericht im Zusammenhang damit aufwirft, dass die Berücksichtigung des Haftzeitraums, um festzustellen, ob die Kontinuität des zehnjährigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat vor der Ausweisung dadurch unterbrochen worden sei, je nach dem Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung zu beliebigen oder der Gleichheit abträglichen Ergebnissen führen könne, sind folgende Klarstellungen geboten.

77 In manchen Mitgliedstaaten kann zwar eine Ausweisung als Strafe oder als Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe verfügt werden. Diese Möglichkeit ist in Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich vorgesehen. In einem solchen Fall kann die künftige Freiheitsstrafe logischerweise nicht berücksichtigt werden, wenn es um die Beurteilung geht, ob sich der Bürger in den letzten zehn Jahren vor dem Ergehen der Ausweisungsverfügung ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat.

78 Das kann somit z. B. zu dem Ergebnis führen, dass ein Unionsbürger, der zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen ihn eine freiheitsentziehende Maßnahme zusammen mit einer Ausweisungsverfügung als Nebenstrafe oder Strafe ergeht, bereits einen ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat vorweisen kann, in den Genuss des verstärkten Ausweisungsschutzes kommt, der in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 vorgesehen ist.

79 Umgekehrt stellt sich in Bezug auf einen Bürger, dessen Ausweisung wie im Ausgangsverfahren nach seiner Inhaftierung verfügt wird, die Frage, ob die Haft bewirkt, dass die Kontinuität seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat unterbrochen wird und er um den Genuss des verstärkten Schutzes gebracht wird.

80 Insoweit ist jedoch zu betonen, dass bei einem Unionsbürger, der bei Haftantritt bereits einen zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat vorweisen kann, der Umstand, dass die Ausweisung während oder am Ende des Haftzeitraums verfügt wird, und die Tatsache, dass der Haftzeitraum so in den Zeitraum der letzten zehn Jahre vor Ergehen der Ausweisungsverfügung fällt, nicht ohne Weiteres eine Diskontinuität dieses Zehnjahreszeitraums zur Folge haben, aufgrund deren dem Betroffenen der verstärkte Schutz des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 verloren ginge.

81 Wie sich nämlich aus den Rn. 66 bis 75 des vorliegenden Urteils ergibt, ändert sich, wenn die Entscheidung über die Ausweisung während oder am Ende des Haftzeitraums ergeht, nichts daran, dass nach Maßgabe der in diesen Randnummern gemachten Ausführungen eine umfassende Beurteilung der Situation des betroffenen Bürgers vorzunehmen ist, um festzustellen, ob er in den Genuss dieses verstärkten Schutzes kommen kann.

82 In den vorstehend in den Rn. 77 bis 81 angesprochenen Fallgestaltungen hängt also die Gewährung oder Nichtgewährung des in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen verstärkten Schutzes weiterhin von der Dauer des Aufenthalts und vom Grad der Integration des betroffenen Bürgers im Aufnahmemitgliedstaat ab.

83 Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen in der Rechtssache C-316/16 zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass im Fall eines Unionsbürgers, der eine Freiheitsstrafe verbüßt und gegen den eine Ausweisungsverfügung ergeht, die Voraussetzung dieser Bestimmung, den "Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat" gehabt zu haben, erfüllt sein kann, sofern eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu dem Schluss führt, dass die Integrationsbande, die ihn mit dem Aufnahmemitgliedstaat verbinden, trotz der Haft nicht abgerissen sind. Zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs.

Zur vierten Frage in der Rechtssache C-316/16

84 Mit seiner vierten Frage möchte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Wesentlichen wissen, zu welchem Zeitpunkt zu beurteilen ist, ob die Voraussetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38, den "Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat" gehabt zu haben, erfüllt ist.

85 Nach dieser Bestimmung "darf eine Ausweisung nicht verfügt werden" gegen einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt "in den letzten zehn Jahren" im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, es sei denn, es liegen zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit vor.

86 Aus diesem Wortlaut ergibt sich, dass unter "den letzten zehn Jahren" die zehn Jahre vor der Ausweisungsverfügung zu verstehen sind, so dass die Voraussetzung des ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalts zum Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung zu prüfen ist.

87 Wie oben in Rn. 65 in Erinnerung gerufen, hat der Gerichtshof im Übrigen bereits klargestellt, dass der Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren, von dem die Gewährung des verstärkten Schutzes gemäß Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 abhängt, von dem Zeitpunkt an zurückzurechnen ist, zu dem die Verfügung der Ausweisung der betreffenden Person ergeht.

88 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Frage, ob eine Person die Voraussetzung erfüllt, ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisungsverfügung im Aufnahmemitgliedstaat gehabt zu haben, und damit in den Genuss des verstärkten Schutzes gemäß Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 kommen kann, zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem die Ausweisungsverfügung anfangs ergeht.

89 Es ist jedoch klarzustellen, dass diese Auslegung nicht der - anderen - Frage vorgreift, zu welchem Zeitpunkt zu beurteilen ist, ob tatsächlich "Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, "schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie oder "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie gegeben sind, die eine Ausweisung rechtfertigen können.

90 Insoweit obliegt es zwar der Behörde, die die Ausweisungsverfügung anfangs erlässt, diese Beurteilung mit Erlass der Verfügung vorzunehmen, und zwar unter Beachtung der materiell-rechtlichen Vorgaben der Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38.

91 Dies schließt jedoch nicht aus, dass es sich, wenn sich der konkrete Vollzug dieser Verfügung für eine gewisse Zeit verzögert, als notwendig erweisen kann, erneut und nach dem aktuellen Stand zu beurteilen, ob weiterhin, je nachdem, worum es geht, "Gründe der

öffentlichen Ordnung oder Sicherheit", "schwerwiegende Gründe der

öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" oder "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" gegeben sind.

92 Es ist nämlich insbesondere darauf hinzuweisen, dass Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 für jede Ausweisungsverfügung allgemein die Voraussetzung aufstellt, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Mai 2012, I, C-348/09, EU:C:2012:300, Rn. 30, und vom 13. Juli 2017, E, C-193/16, EU:C:2017:542, Rn. 23).

93 Ferner müssen die Mitgliedstaaten, wenn eine Ausweisungsverfügung als Strafe oder als Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe ergeht, aber mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollzogen wird, nach Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht, und beurteilen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist (Urteil vom 22. Mai 2012, I, C-348/09, EU:C:2012:300, Rn. 31).

94 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs allgemeiner, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen haben, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung bedeuten können, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen soll. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Ausweisungsverfügung und der Beurteilung dieser Verfügung durch das zuständige Gericht liegt (vgl. entsprechend Urteile vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C-482/01 und C-493/01, EU:C:2004:262, Rn. 82, und vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C-371/08, EU:C:2011:809, Rn. 84).

95 Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C-316/16 zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob eine Person die Voraussetzung dieser Bestimmung, den "Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat" gehabt zu haben, erfüllt, zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem die ursprüngliche Ausweisungsverfügung ergeht."

Der Beschwerdeführer hält sich seit März 1998 rechtmäßig im Bundesgebiet auf, er befand sich bis zum Zeitpunkt der Erlassung der ursprünglichen Ausweisungentscheidung - der gegenständlich angefochtene Bescheid wurde am 23.07.2018 erlassen - von XXXX.2017 bis XXXX.2017 sowie ab XXXX.07.2018, somit 17 Tage in Haft.

Vor dem Hintergrund der Rz 70 und 71 der Entscheidung des EUGH 17.04.2018, C-316/16 u C- 424/16 ist festzuhalten, dass diese Haftzeiten zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 nicht zu unterbrechen vermögen. Dies einerseits weil die Haftzeit mit 17 Tagen als besonders kurz und die Dauer des rechtsmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet als lang zu bezeichnen ist. Andererseits hat der Beschwerdeführer durch seinen Schulbesuch in Österreich, seine langjährigen legalen Beschäftigungszeiten und seine hier aufhältige Mutter sehr starke Integrationsbande zu Österreich geknüpft.

Somit ist gegenständlich die Erlassung des Aufenthaltsverbots nach den Kriterien des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG zu überprüfen. Voraussetzung für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes ist demnach ein persönliches Verhalten des Beschwerdeführers, aufgrund dessen davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.

Mit der Frage, was unter dem Begriff "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie zu verstehen ist, hat sich der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache Tsakouridis, Zahl: C-145/09, ausführlich auseinandergesetzt. Der griechische Staatsangehörige war wegen bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln in acht Fällen zu einer Haftstrafe von 6 Jahren und sechs Monaten gerichtlich verurteilt und vom Regierungspräsidium Stuttgart mit einem Aufenthaltsverbot belegt worden. Im Instanzenzug wurde dieser Fall vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, wobei eine der an den EuGH gerichteten Fragen die Auslegung des Begriffs "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 (Freizügigkeitsrichtlinie) betraf.

Der EuGH äußerte sich dazu in den RZ 40ff des Urteils vom 23.11.2010 wie folgt:

"[...]

40 Aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 28 der Richtlinie 2004/38, die in den Randnrn. 24 bis 28 des vorliegenden Urteils dargelegt worden sind, geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber, indem er jede Ausweisungsmaßnahme in den in Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Fällen vom Vorliegen "zwingender Gründe" der öffentlichen Sicherheit abhängig gemacht hat, einem Begriff, der erheblich enger ist als der der "schwerwiegenden Gründe" im Sinne von Abs. 2 dieses Artikels, die auf diesen Abs. 3 gestützten Maßnahmen ganz offensichtlich entsprechend der Ankündigung im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie auf "außergewöhnliche Umstände" begrenzen wollte.

41 Der Ausdruck "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" setzt nämlich nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist, der im Gebrauch des Ausdrucks "zwingende Gründe" zum Ausdruck kommt.

42 Auch der Begriff "öffentliche Sicherheit" in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 ist in diesem Kontext auszulegen.

43 Hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit hat der Gerichtshof entschieden, dass sie sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst (vgl. u. a. Urteile vom 26. Oktober 1999, Sirdar, C 273/97, Slg. 1999, I 7403, Randnr. 17, vom 11. Januar 2000, Kreil, C 285/98, Slg. 2000, I 69, Randnr. 17, vom 13. Juli 2000, Albore, C 423/98, Slg. 2000, I 5965, Randnr. 18, und vom 11. März 2003, Dory, C 186/01, Slg. 2003, I 2479, Randnr. 32).

44 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 1984, Campus Oil u. a., 72/83, Slg. 1984, 2727, Randnrn. 34 und 35, vom 17. Oktober 1995, Werner, C 70/94, Slg. 1995, I 3189, Randnr. 27, Albore, Randnr. 22, und vom 25. Oktober 2001, Kommission/Griechenland, C 398/98, Slg. 2001, I 7915, Randnr. 29).

45 Daraus folgt jedoch nicht, dass Ziele wie die Bekämpfung der mit bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität zwingend von diesem Begriff ausgenommen wären.

[...]

49 Demzufolge muss eine Ausweisungsmaßnahme auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden (vgl. u. a. Urteil Metock u. a., Randnr. 74) und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 gerechtfertigt werden, wenn eine solche Maßnahme angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist, vorausgesetzt, dass dieses Ziel unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann.

50 Bei der Anwendung der Richtlinie 2004/38 ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die gegebenenfalls zu der Zeit zu beurteilen ist, zu der die Ausweisungsverfügung ergeht (vgl. u. a. Urteil vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C 482/01 und C 493/01, Slg. 2004, I 5257, Randnrn. 77 bis 79), und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, Slg. 1977, 1999, Randnr. 29), gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist - die, wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt -, zu gefährden.

51 Die verhängte Strafe ist als ein Umstand dieser Gesamtheit von Faktoren zu berücksichtigen. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, wie es in der nationalen Regelung vorgesehen ist, ohne dass die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebenen Umstände berücksichtigt werden, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

52 Im Rahmen der entsprechenden Beurteilung ist den Grundrechten Rechnung zu tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, da Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer innerstaatlichen Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, nur dann herangezogen werden können, wenn die fragliche Maßnahme diesen Rechten Rechnung trägt (vgl. u. a. Urteil Orfanopoulos und Oliveri, Randnrn. 97 bis 99), insbesondere dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (vgl. u. a. Urteil vom 5. Oktober 2010, McB., C 400/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 53, sowie Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [Große Kammer] vom 23. Juni 2008, Maslov/Österreich, Recueil des arrêts et décisions 2008, Nrn. 61 ff.).

53 Um zu beurteilen, ob der in Aussicht genommene Eingriff im Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck steht, hier dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, sind insbesondere die Art und die Schwere der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der Zuwiderhandlung vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufnahmemitgliedstaat zu berücksichtigen. Im Fall eines Unionsbürgers, der die meiste oder die gesamte Zeit seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat verbracht hat, müssten sehr stichhaltige Gründe vorgebracht werden, um die Ausweisungsmaßnahme zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Maslov/Österreich, Nrn. 71 bis 75).

54 Jedenfalls fällt, da der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat zum Schutz der öffentlichen Ordnung die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen kann, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (vgl. Urteile vom 19. Januar 1999, Calfa, C 348/96, Slg. 1999, I 11, Randnr. 22, sowie Orfanopoulos und Oliveri, Randnr. 67), der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln erst recht unter den Begriff der "öffentlichen Ordnung" im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.

55 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller genannten Umstände zu prüfen, ob das Verhalten von Herrn Tsakouridis unter den Ausdruck "schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 oder den Ausdruck "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" im Sinne von Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie fällt und ob mit der in Aussicht genommenen Abschiebung die genannten Voraussetzungen beachtet werden.

56 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit dieser Vorschrift gewährte Schutz zusteht, dahin gehend auszulegen ist, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht, ist diese Vors

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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