TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/25 L521 2183917-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.09.2018
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Entscheidungsdatum

25.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L521 2183917-1/41E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen die Spruchpunkte IV., V. und VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2017, Zl. 1100777302-152061882, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 27.02.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat: "Gemäß § 55 Abs. 1 und 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 27.12.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Tirol am 28.12.2015 gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger von Syrien zu sein. Er sei am XXXX geboren, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und Moslem. Er sei verheiratet. Seine Ehegattin und die zwei gemeinsamen Kinder würden sich bereits im Bundesgebiet befinden.

Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, seine Ehegattin habe eine bessere Zukunft für die gemeinsamen Kinder angestrebt. Aus Liebe zu seiner Ehegattin sei er ihr schließlich nachgereist. Im Fall einer Rückkehr fürchte er, von den syrischen Behörden hingerichtet zu werden, da in Syrien willkürlich Hinrichtungen durchgeführt würden.

2. Am 06.10.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in kurdischer Sprache erstmals niederschriftlich vor der zur Entscheidung berufenen Organwalterin einvernommen.

Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben und den anwesenden Dolmetscher gut zu verstehen. Hinsichtlich seiner Staatsangehörigkeit korrigiere er, dass er keine Dokumente vorweisen könne, da er zwar aus der Stadt XXXX in der syrischen Provinz al-Hasaka stamme, jedoch staatenlos sei.

Zum Ausreisegrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass vor den Milizen des Islamischen Staates geflohen sei. Er habe nicht in seiner Heimatstadt weiterleben können, da er sich entweder den Milizen des Islamischen Staates, den syrischen Streitkräften oder den kurdischen Volksverteidigungseinheiten hätte anschließen müssen. Vor der Ausreise sei diesbezüglich allerdings niemand konkret an ihn herangetreten. Freunde von ihm mit einem syrischen Pass seien jedoch eingezogen worden.

3. Am 05.12.2016 wurde der Beschwerdeführer neuerliche vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in kurdischer Sprache niederschriftlich vor der zur Entscheidung berufenen Organwalterin und im Beisein eines gewillkürten Vertreters einvernommen.

Eingangs legte der Beschwerdeführer dar, sich bislang hinsichtlich seiner Staatsangehörigkeit unrichtig verantwortet zu haben. Er sei tatsächlich Staatsangehöriger der Türkei und habe bislang seine wahre Identität aus Angst vor einer Abschiebung in die Türkei verheimlicht. Er selbst habe keine Schwierigkeiten in der Türkei und sei nur aufgrund seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern geflüchtet.

Er sei in Istanbul geboren, dort würde sich nach wie vor seine Familie aufhalten und eine Wohnung in Istanbul besitzen. Im Familienbesitz sei ferner ein Haus in XXXX. Er selbst habe nach dem Schulbesuch als Schneiter und als Taxifahrer gearbeitet und damit TL 900,00 bis 1.500,00 ins Verdienen gebracht.

Die Türkei habe er verlassen, da seine Ehefrau ausgereist sei. Die gemeinsame Tochter sei krank gewesen und er habe seine Ehefrau nicht standesamtlich heiraten können, da sie keine Papiere aus Syrien beibringen habe können. An welcher Krankheit seine Tochter leide wisse er nicht, sie habe aber zwei rote Flecken auf dem Oberschenkel. Er selbst habe in der Türkei keine Schwierigkeiten mit Sicherheitsbehörden oder Gerichten, nur einmal im Jahr 2008 oder 2007 sei er von der Polizei aufgrund einer Verwechslung angegriffen worden.

4. Am 19.12.2016 übermittelte der gewillkürte Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zur Einvernahme und den ausgefolgten Berichten zur Lage im Herkunftsstaat. Über Aufforderung brachte der Beschwerdeführer außerdem einen türkischen Führerschein, einen Auszug aus dem Familienregister und seinen türkischen Nüfus im Original in Vorlage.

5. Nachdem mehrere Monate seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl keine weiteren Aktivitäten gesetzt wurden, wurde der Beschwerdeführer mit Note vom 10.11.2017 dazu aufgefordert, sich zu seinen Aktivitäten und Integrationsfortschritten im Bundesgebiet seit der Einvernahme am 05.12.2016 schriftlich zu äußern. Am 27.11.2017 langte die diesbezügliche Äußerung des Beschwerdeführers ein.

6. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG 2005 bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 1 Z. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

7. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.12.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

8. Gegen den dem rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers am 08.01.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der nunmehr bevollmächtigten rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. festzustellen, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei auf Dauer unzulässig ist und ihm einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung der bereits im Verfahren erster Instanz dargelegten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt habe die Entscheidung auf unzureichende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat gestützt und ferner die gebotenen Ermittlungen zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers im Bundesgebiet unterlassen. Ausgehend davon enthalte der angefochtene Bescheid keine Feststellungen zur Frage des Bestehens eines Familienlebens. Er würde derzeit zwar von der Familie getrennt leben und es stelle sich das Verhältnis zu seiner Ehefrau als schwierig dar, jedoch pflege er Kontakt mit den gemeinsamen Kindern und wolle sich and er Obsorge wesentliche beteiligen. Eine Rückkehrentscheidung wäre daher mit einem gravierenden Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben verbunden.

Hinsichtlich des Begehrens auf internationalen Schutz habe der Beschwerdeführer "angedeutet", aus einer oppositionellen Familie zu stammen und dass diese deshalb wiederkehrend "vom türkischen Staat verfolgt" worden sei. Das belangte Bundesamt habe in diesem Zusammenhang Nachfragen zu entscheidungsrelevanten Umständen unterlassen. Im Fall einer Rückkehr drohe ihm Verfolgung aufgrund seiner Nähe zur Partiya Karkerên Kurdistanê.

9. Die Beschwerdevorlage langte - nachdem seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zunächst der Verfahrensakt einer anderen Person vorgelegt wurde - am 26.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

10. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.01.2018 wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt, da am 21.11.2017 ein weiteres Kind des Beschwerdeführers und seiner Ehegattin geboren wurde und im angefochtenen Bescheid keine Berücksichtigung dieses Umstandes erfolgte.

11. Zur Vorbereitung der für den 27.02.2018 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer mit Note vom 06.02.2018 länderkundliche Informationen zur Lage im Herkunftsstaat zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Eine solche Stellungnahme lange innerhalb der eingeräumten Frist nicht ein.

12. Am 27.02.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die türkische Sprache und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation sowie seine persönliche Situation in Österreich umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der bereits vor der Verhandlung übermittelten aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Ferner wurde die Ehegattin des Beschwerdeführers als Zeugin einvernommen.

Nach Schluss der Verhandlung wurde in der Sache des Beschwerdeführers ein Teilerkenntnis mündlich verkündet und seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen. Ein Antrag gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG auf schriftliche Ausfertigung des Teilerkenntnisses wurde innerhalb der dafür vorgesehenen Frist nicht gestellt und am 21.03.2018 das Teilerkenntnis in gekürzter Form ausgefertigt.

13. Mit Beschluss vom 13.04.2018, wurde XXXX, allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige, Fachgebiet Psychologie, zur Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung von Befund und Gutachten zur Frage der Auswirkungen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Kindeswohl beauftragt.

Das diesbezügliche Gutachten langte am 13.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

14. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.07.2018 wurden das Gutachten der XXXX sowie aktualisierte länderkundliche Informationen zur Lage im Herkunftsstaat dem Beschwerdeführer sowie dem belangten Bundesamt zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Eine Stellungnahme wurde nur vom belangten Bundesamt abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX, ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Istanbul geboren und besuchte dort die Grundschule. Der Beschwerdeführer erlernte den Beruf des Schneiders und arbeitete als solcher bis zum Jahr 2012. In den Jahren 2013 und 2014 leistete er den Wehrdienst ab und ging anschließend einer Beschäftigung als Chauffeur und Taxilenker nach.

Der Beschwerdeführer leidet an Schuppenflechte, ansonsten ist er gesund.

In der Türkei leben die Eltern in einer im Eigentum der Familie stehenden Wohnung. Der Beschwerdeführer verfügt ferner über zwei Brüder und vier Schwestern, die ebenfalls in Istanbul leben. Der Vater des Beschwerdeführers arbeitet als Kraftfahrer, seine Mutter führt den Haushalt. Die in der Türkei aufhältigen Geschwister des Beschwerdeführers sind in der Textilbranche tätig. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie des Beschwerdeführers sind durchschnittlich und ermöglichen ein gutes Leben in der Türkei. In der Provinz XXXX verfügt die Familie des Beschwerdeführers über ein Haus im Eigentum. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Mutter in regelmäßigem Kontakt.

Der Beschwerdeführer ehelichte an einem nicht feststellbaren Tag des Jahrs 2012 die syrische Staatsangehörige XXXX, geboren am XXXX, nach islamischem Ritus. Eine in der Türkei oder in Syrien staatlich anerkannte Ehe ist der Beschwerdeführer nicht eingegangen. Die Ehegattin des Beschwerdeführers XXXX lebt derzeit in Innsbruck, ihr wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2017 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt. Der Beschwerdeführer lebt spätestens seit dem 07.11.2017 von XXXX getrennt. Der Grund der Trennung kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer hat mit XXXX drei gemeinsame Kinder, nämlich seine Tochter XXXX, geb. XXXX in Istanbul, seine Tochter XXXX, geb. XXXX im Bundesgebiet und seinen Sohn XXXX, geb. XXXX ebenfalls im Bundesgebiet. Die Kinder des Beschwerdeführers sind Staatsangehörige von Syrien, ihnen wurde jeweils rechtskräftig gemäß § 3 iVm § 34 Abs. 2 AsylG der Status von Asylberechtigten als Familienangehörige der XXXX zuerkannt.

1.2. An einen nicht feststellbaren Tag im November 2015 verließ der Beschwerdeführer die Türkei auf dem Landweg in die Türkei und reiste in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 27.12.2015 den verfahrensgegenständlichen Asylantrag stellte. Der Beschwerdeführer gab sich dabei als Staatsangehöriger von Syrien mit dem Namen XXXX aus.

Der Beschwerdeführer zunächst mit seiner Ehegattin und den Kindern durchgängig an verschiedenen gemeinsamen Wohnadressen im Bundesgebiet gemeldet, zuletzt in 6444 Längenfeld bis zum 07.11.2017. Danach verzog XXXX mit den gemeinsamen Kindern nach Innsbruck, während der Beschwerdeführer zunächst in 6103 Reith bei Seefeld wohnhaft war, da der Beschwerdeführer und XXXX ihre Beziehung aus nicht feststellbaren Gründen beendeten. Zuletzt verzog der Beschwerdeführer wieder nach Innsbruck, wo er seit dem 26.06.2018 eine Meldeadresse in der Jahnstraße 17 unterhält. Ein gemeinsamer Wohnsitz mit seinen Familienangehörigen im Bundesgebiet besteht nicht.

In Österreich sind - von der Ehegattin und den Kindern des Beschwerdeführers abgesehen - an weiteren Verwandten des Beschwerdeführers eine Cousine in Innsbruck aufhältig, ferner hat sein Bruder XXXX, geb. XXXX, am 06.12.2016 internationalen Schutz in Österreich begehrt. Zu seiner Cousine unterhält der Beschwerdeführer gelegentlich Kontakt, zu seinem Bruder Mehmet besteht regelmäßiger Kontakt, wobei kein gemeinsamer Wohnsitz besteht und auch kein relevantes Abhängigkeitsverhältnis feststellbar ist.

Der Asylantrag von XXXX, geb. XXXX, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2017 in vollem Umfang abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen. XXXX hat dagegen rechtzeitig Beschwerde erhoben, das diesbezügliche Beschwerdeverfahren ist derzeit beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Die Obsorge betreffend XXXX kommt dem Jugendwohlfahrtsträger zu.

Zu den Kindern besteht in unregelmäßigem Ausmaß Kontakt in Form von Besuchen des Beschwerdeführers. Die Besuche finden im Beisein der Kindesmutter XXXX statt. Der Beschwerdeführer bringt sich wenig bis gar nicht in Pflege und Erziehung seiner Kinder ein. Die Wohnung der Kindesmutter XXXX betritt der Beschwerdeführer nicht, da ihm das aus seiner Sicht nicht gestattet ist. Kontakte zur Ehegattin, die über die gemeinsamen Aktivitäten mit den Kindern hinausgehen, können nicht festgestellt werden.

Aufgrund der bereits aufgetretenen ständigen Beziehungsabbrüche - bedingt unter anderem durch Alkoholexzesse des Beschwerdeführers - haben die Kinder des Beschwerdeführers bereits erhebliche psychosoziale Beeinträchtigungen erlitten. Eine klare Orientierung an den Kindeseltern ist ihnen nicht möglich und schadet die derzeitige Systemform der Familie den minderjährigen Kindern in psychischer und auch entwicklungspsychologischer Hinsicht und ist als schädlich für das Kindeswohl zu beurteilen. Im Fall eines Fortbestehens der bisherigen elterlichen Verhaltensweisen und Konflikte haben die Kinder keine ausreichende Möglichkeit, entwicklungspsychologische bekannte und notwendige Entwicklungsphasen im Sinn einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung zu durchlaufen. Im Fall eines Verbleibes des Vaters im Bundesgebiet kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erwartet werden, dass er seine Rolle als Vater aktiv und wahrnimmt und sich in konstruktive und für das Kindeswohl bedeutsamer Weise der Pflege und Erziehung seiner Kinder widmet.

Der Beschwerdeführer erfüllt die Kriterien der allgemeinen Erziehungsfähigkeit nicht, die Bindung seiner Kinder zu ihm ist unsicher und ambivalent. Die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei hat keine negativen Auswirkungen auf das Kindeswohl, da sich der Beschwerdeführer bereits jetzt nicht regelmäßig in Pflege und Erziehung seiner Kinder einbringt. Die Kontakte des Beschwerdeführers zu seinen Kindern werden sich unabhängig von seinem Aufenthaltsort als unregelmäßig, sporadisch und willkürlich darstellen. Eine telefonische oder digitale Kommunikation mit den Kindern ist deshalb fallbezogen nicht nur möglich, sondern auch zumutbar und im Hinblick auf das Kindeswohl nicht nachteilig.

Eine Trennung der Eltern ist als für die psychosoziale und die gesunde Persönlichkeitsentwicklung der Kinder als besser anzusehen, als der gegenwärtige Zustand einer krankmachenden und von emotionalen Abhängigkeiten gekennzeichneten On-Off-Beziehung des Beschwerdeführers mit der Kindesmutter XXXX (wobei zuletzt - wie bereits erwähnt - eine dauerhafte Trennung der Kindeseltern schon erfolgt ist).

Der Beschwerdeführer leistet für seine Kinder keine Unterhaltszahlungen.

Die Kindesmutter XXXX wird bei Erziehung und Pflege ihrer Kinder von ihrer Mutter und ihren Geschwistern unterstützt, die Genannten halten sich als Asylberechtigte ebenfalls rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Sie ist grundsätzlich ausreichend erziehungsfähig, wird jedoch langfristig Unterstützung bei der altersadäquaten Förderung und Erziehung der Kinder benötigen.

1.3. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 27.12.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Er ist nicht legal erwerbstätig und hat auch keine Beschäftigung in Aussicht, verrichtet jedoch Remunerationstätigkeiten für eine Gemeinde in einem nicht feststellbaren Ausmaß.

Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse besucht, jedoch keine Prüfungen abgeschlossen. Er verfügt über nur rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache.

Es liegen im gegenständlichen Fall keine Anhaltspunkte zum Bestehen eines aktuellen Familienlebens des Beschwerdeführers im Bundesgebiet vor, welches ihm die Stellung eines begünstigten Drittstaatsangehörigen im Sinne der Stillhalteklausel ermöglichen würde bzw. dass die Bestimmungen des FRG 1997 für begünstigte Drittstaatsangehörige bzw. des ARB 1/80 zur Anwendung gelangen würden.

1.4. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat im November 2015 einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat als vermeintlicher Unterstützer der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) gerichtlich oder polizeilich gesucht wird oder er aus diesem Grund oder aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung oder willkürlichem Freiheitsentzug durch staatliche Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre.

1.5. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit angelernten Kenntnissen der Schneiderei. Er verfügt über Berufserfahrung als Schneider und als Kraftfahrer im Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer verfügt im Fall der Rückkehr über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat. Er verfügt dort insbesondere über familiäre Anknüpfungspunkte, eine Wohnmöglichkeit bei seinen Verwandten und eine hinreichende Absicherung in seinen Grundbedürfnissen. Dem Beschwerdeführer ist ferner die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Der Beschwerdeführer verfügt über ein türkisches Ausweisdokument (Nüfus) im Original.

1.6. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.7. Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Neueste Ereignisse - Kurzinformationen

KI vom 26.6.2018, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Trotz des Verlustes der absoluten Mehrheit errang die AKP durch ein Wahlbündnis unter dem Namen "Volksbündnis" mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die 11,1% und 49 Sitze erreichte, die Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Die religiös-konservative Saadet-Partei, die dritte Partei nebst CHP und MHP im oppositionellen "Bündnis der Nation", erhielt nur 1,3% und blieb ohne Mandat. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018).

Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu seinen Gunsten und der AKP widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt. Während alle Kandidaten eine aufgeladene Rhetorik gegen die Mitbewerber verwendeten, bezeichnete der amtierende Präsident immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die CHP, Saadet-Partei und die IYI-Partei (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

KI vom 18.4.2018, Bericht der Europäischen Kommission zur Türkei

Die Europäische Kommission (EK) veröffentlichte am 17.4.2018 ihren Länderbericht zur Türkei. Darin anerkennt laut Kommission die EU zwar, dass die Türkei angesichts der Putschversuches rasch und angemessen handeln musste, gleichzeitig zeigt sich die EU angesichts des umfassenden und kollektiven Charakters bzw. die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen besorgt, die seit dem Putschversuch ergriffen wurden. Hierzu gehören etwa die weit verbreiteten Entlassungen, Verhaftungen und Festnahmen. Die Türkei sollte den Ausnahmezustand unverzüglich aufheben. Gravierende Mängel betreffen laut Bericht die bisher 31 Notstandsdekrete. Sie wurden nicht einer sorgfältigen und wirksamen Kontrolle durch das Parlament unterzogen, wodurch sie der gerichtlichen Überprüfung entzogen sind. Keines der Notstandsdekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes. Diese Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte, einschließlich der Meinungs-und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte, eingeschränkt. Sie haben zudem wichtige bestehende Rechtsakte geändert, die auch nach der Aufhebung des Ausnahmezustands nach Meinung der EK ihre Wirkung behalten werden. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten, einschließlich Menschenrechtsverteidigern, und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten, was zu einer raschen Einengung der Grundrechte und -freiheiten geführt hat. Das türkische Justizsystem ist von weiteren gravierenden Rückschlägen, insbesondere im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz, geprägt. Die Verfassungsänderungen bezüglich des Rates der Richter und Staatsanwälte (CJP) haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Die CJP setzte die großangelegte Suspendierung und Versetzung von Richtern und Staatsanwälten fort. Auch in den Bereichen Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, Verfahrens-und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. In mehreren glaubwürdigen Berichten von Menschenrechtsorganisationen, so die EK, wird behauptet, dass die Aufhebung wichtiger Schutzmaßnahmen durch die Notverordnungen die Gefahr der Straffreiheit für die Täter solcher Verbrechen erhöht und zu einer Zunahme der Fälle von Folter und Misshandlung in Haft geführt hat. Diesbezügliche Klagen bergen angeblich das Risiko von Repressalien. Die Notstandsdekrete brachten zusätzliche Einschränkungen der Verfahrensrechte, einschließlich der Rechte der Verteidigung, mit sich. Die Ernennung von Treuhändern als Ersatz für kommunale Führungskräfte und gewählte Vertreter, hauptsächlich in Gemeinden mit kurdischer Mehrheit, führte zu einer erheblichen Schwächung der lokalen Demokratie. Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren. Die Situation der Binnenvertriebenen hat sich infolge der Gewalt im Südosten nur unwesentlich verbessert. Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen hat neue Unterkünfte erhalten (EC 17.4.2018). In einer Reaktion auf den Bericht teilte das türkische Außenministerium mit, dass die EK Unwillens sei, die Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen das Land konfrontiert ist, weshalb die Kommission nicht in der Lage sei, objektiv und ausgewogen zu sein (MFA 18.4.2018).

KI vom 12.2.2018, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage

In einer Resolution zur Menschenrechtslage in der Türkei erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär derzeit als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Das EP ist zutiefst beunruhigt darüber, dass sich die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei stetig verschlechtert und dass es der Justiz an Unabhängigkeit mangelt. Das EP verurteilt, dass Justiz und Verwaltung Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen machen, um Zehntausende zu verfolgen und fordert die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen. Das EP fordert, dass in der Türkei der Ausnahmezustand aufgehoben und die Notstandsdekrete zurückgenommen werden, und die türkische Regierung im Sinne der Rechtsstaatlichkeit allen Personen, die restriktiven Maßnahmen ausgesetzt waren, die Gelegenheit gibt, geeignete und wirksame Rechtsbehelfe einzulegen, wobei hierbei die Unschuldsvermutung ein Grundprinzip ist. Das EP fordert die Türkei auf, die "Untersuchungskommission zu Notstandsverfahren" so rasch wie möglich zu reformieren, damit diese zu einer soliden und unabhängigen Kommission wird, die in der Lage ist, alle Fälle einzeln zu behandeln, die überaus große Anzahl von Anträgen, die sie erhält, wirksam zu bearbeiten und sicherzustellen, dass die juristische Überprüfung nicht unangemessen verzögert wird. Die Entscheidungen der Kommission sind öffentlich zugänglich zu machen. Das EP bekräftigt, dass die allgemein gefassten türkischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung nicht dafür genutzt werden sollten, Bürger und die Medien dafür zu bestrafen, dass sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben und verurteilt in diesem Zusammenhang, dass mindestens 148 wissenschaftliche Mitarbeiter öffentlicher und privater Universitäten in Istanbul, die die Petition "Akademiker für den Frieden" unterzeichnet hatten, verhaftet und vor Gericht gestellt wurden. Das EP verurteilt ebenso die jüngsten Festnahmen von Journalisten, Aktivisten, Ärzten und gewöhnlichen Bürgern, die sich kritisch über den türkischen Militäreinsatz in Afrin äußerten und ist zutiefst beunruhigt über die humanitären Folgen des Militäreinsatzes. Das EP zeigt sich zutiefst beunruhigt über Berichte, wonach Häftlinge misshandelt und gefoltert worden sind, und fordert die türkischen Staatsorgane auf, diese Vorwürfe sorgfältig zu prüfen. Das EP fordert erneut die Veröffentlichung des Berichts des Ausschusses zur Verhütung von Folter des Europarates ("CPT-Bericht"). Das EP verurteilt den Beschluss des türkischen Parlaments auf das Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben, wodurch der Weg für die kürzlich erfolgte Festnahme von zehn Mitgliedern der Opposition - darunter die beiden Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) - bereitet und sechs Mitgliedern der Opposition das Mandat aberkannt wurde. Es verurteilt die Inhaftierung von 68 kurdischen Bürgermeistern und die willkürliche Absetzung gewählter Kommunalvertreter, wodurch die demokratische Struktur der Türkei weiter ausgehöhlt wird. Das EP fordert nachdrücklich die sofortige und bedingungslose Freilassung all derjenigen, die ohne Vorliegen irgendwelcher Beweise in Gewahrsam gehalten werden. Das EP ist zutiefst beunruhigt über die Missachtung der Religionsfreiheit, die sich etwa in der zunehmenden Diskriminierung von Christen und sonstigen religiösen Minderheiten äußert. Das EP hegt angesichts der Entscheidung des Istanbuler Strafgerichts, die beiden Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay nicht aus der Haft zu entlassen, obwohl das Verfassungsgericht ihre Freilassung mit der Begründung angeordnet hatte, in der Haft seien ihre Rechte verletzt worden, schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Funktionsweise des Justizsystems in der Türkei (EP 8.2.2018). Das türkische Außenministerium wies die Resolution des Europäischen Parlaments zurück und vermeldete, dass die Resolution weit davon entfernt sei, die gegenwärtigen Bedingungen zu verstehen, mit denen die Türkei konfrontiert ist. Die Türkei würde die Resolution als "null und nichtig" betrachten (HDN 9.2.2018).

KI vom 29.1.2018, Festnahmen wegen Kritik an der türkischen Militäroperation in Syrien

Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG kritisiert haben, die Ankara als Bedrohung für die Grenzsicherheit sieht. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erlässt direkt Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilen, wird eine Untersuchung eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin-Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige werden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (AA 27.1.2018). Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Harlem Désir, forderte am 26.1.2018 die türkischen Behörden auf, die Terrorismusanklagen gegen Journalisten fallen zu lassen und diese freizulassen. Désir äußerte auch seine Besorgnis über die Anweisungen für die Berichterstattung über die Militäraktionen in der Region Afrin, die Redakteuren und Reportern bei einer Pressekonferenz seitens des Premierministers Binali Yildirim, des stellvertretenden Premierministers Bekir Bozdag und Verteidigungsministers Nurettin Canikli erteilt wurden. Désir erinnerte daran, dass Journalisten nicht zum Inhalt instruiert werden sollten und dass die Pressefreiheit jederzeit geachtet werden muss. Es sei die Aufgabe eines Journalisten, unterschiedliche Ansichten zu präsentieren und die Öffentlichkeit zu informieren, auch wenn der Inhalt Kritik enthält (OSCE 26.1.2018).

KI vom 11.1.2018, Notstandsdekret Nr.696 - Straffreiheit von Zivilpersonen bei Gewalttaten zur Putschverhinderung, Verlängerung des Ausnahmezustandes

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht. Das Notstandsdekret befasst sich unter anderem mit der Straffreiheit von Zivilisten, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Konkret heißt es unter Artikel 121, dass das Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt wird, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Das aktuelle Dekret Nr.696 löste jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Es stellt alle Misshandlungen der Putschnacht und alle weiteren Folterhandlungen, die im Zusammenhang mit der Putschnacht stehen, von der Strafverfolgung frei. Kritiker sprechen von einer Generalamnestie und befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste, da im Dekret nicht präzisiert sei, für welchen Zeitraum diese "Straffreiheit" gelten solle. Da der Begriff des "Terrors" in der Türkei so weitgefasst und vage sei, könne ein Bürger, der einen umstürzlerischen Geist wittert und eigenmächtig zur Tat schreitet, nun vor Gericht als Widerstandskämpfer durchgehen. Rechtsanwälte und Juristen, die sich zum Dekret positioniert haben, erklärten, dass vor allem der Zusatz "in diesem Zusammenhang nachfolgende Ereignisse" problematisch sei (FNS 31.12.2017). Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017). Der Europarat prüfe laut Direktor für Kommunikation, Daniel Holtgen, derzeit die jüngsten Notstandsverordnungen (nebst Dekret 696 auch Dekret 695) der türkischen Regierung. Das Gremium überwache, ob die neuesten Notstandsverordnungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar seien (HDN 28.12.2017). Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde (Anadolu 8.1.2018). Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016. Während des Ausnahmezustandes sind die Grundrechte eingeschränkt und die Notstandsdekrete sind nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar (Standard 8.1.2018).

KI vom 29.11.2017, Stand der Verhaftungen

Das türkische Innenministerium teilte am 27.11.2017 mit, dass im November 2.589 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen wurden, wodurch sich die Gesamtzahl der im Zeitraum Oktober-November inhaftierten Personen auf 5.747 erhöht hat. Innenminister Süleyman Soylu veranschlagte am 16.11.2017 die Gesamtzahl der Inhaftierten mit 48.739. Soylu sagte auch, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden. Die türkischen Behörden glauben, dass ByLock ein Kommunikationsmittel unter den Anhängern der Gülen-Gruppe ist (TM 27.11.2017). Die regierungskritische Website, Turkey Purge, zählte allerdings bereits am 3.11.2017 rund 61.250 Inhaftierungen nebst rund 129.000 Verhaftungen sowie 146.700 Entlassungen seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 (TP 3.11.2017).

Ein Staatsanwalt in Istanbul hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am 29.11.2017 in einer landesweiten Operation Haftbefehle gegen 360 mutmaßliche Gülen-Mitglieder in den Streitkräften erlassen (Anadolu 29.11.2017).

KI vom 31.8.2017, Geheimdienst unter Kontrolle des Staatspräsidenten, Verlängerung der maximalen Untersuchungshaft

Mit dem Dekret 694, das am 25.8.2017 in Kraft trat, wurde der Geheimdienst MIT, der bisher dem Ministerpräsidenten unterstand, dem Präsidenten unterstellt. Auch wurde eine neue Institution namens Nationales Geheimdienstkoordinierungskomitee (MIKK) ins Leben gerufen, das vom Präsidenten geleitet wird. Der Geheimdienst erhält erstmals das Recht, gegen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte nach Belieben zu ermitteln. Laut dem Dekret muss der Präsident künftig Ermittlungen gegen den Geheimdienstchef genehmigen (Focus 25.8.2017; vgl. AM 30.8.2017). Der Geheimdienst kann überdies zu jederzeit seine Mitarbeiter entlassen. Hierzu war bislang eine komplexe Prozedur von Nöten (AM 30.8.2017)

Per Dekret wurde gleichzeitig die maximale Untersuchungshaft von fünf auf sieben Jahre ausgeweitet. Das gilt für Beschuldigte, denen die Unterstützung von Terrororganisationen, Spionage oder eine Beteiligung an dem Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen werden. Staatspräsident Erdogan ermächtigte sich überdies, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AL 30.8.2017)

KI vom 9.8.2017, Beschwerden an die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund

70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017).

KI vom 19.7.2017, Verlängerung des Ausnahmezustandes

Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden (TS 17.7.2017, vgl. FAZ 17.7.2017).

KI vom 19.7.2017, Stand der Massenverhaftungen und Entlassungen wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung

Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato

50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund

8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen (HDN 13.7.2017, bianet 13.7.2017). Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen (HDN 15.7.2017). Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund

145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen (TP 19.7.2017).

In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden (Zeit 17.7.2017).

KI vom 19.4.2017, Verfassungsreferendum:

Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechtsnationalistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsieht (HDN 16.4.2017).

Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte in einer Stellungnahme am 17.4.2017 sowohl die Kampagne als auch die Mängel des Referendums. Das Referendum sei unter ungleichen Wettbewerbsbedingungen von statten gegangen. Der Staat habe nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hätten negative Auswirkungen gehabt (OSCE/PACE 17.4.2017). Cezar Florin Preda, der Leiter der PACE-Delegation sagte, dass das Referendum nicht die Standards des Europarates erfüllte und die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht adäquat für die Durchführung eines genuinen demokratischen Prozesses waren (PACE 17.4.2017). Laut OSZE wurden im Vorfeld des Referendums Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützer des Putschversuchens vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Noch während des Referendums entschied die Oberste Wahlbehörde überraschend, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Die Beobachtungsmission der OSZE und des Europarates bezeichneten dies als Verstoß gegen das Wahlgesetz, wodurch Schutzvorkehrungen gegen Wahlbetrug beseitigt wurden (Zeit 17.4.2017; vgl. PACE 17.7.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, wonach 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet wurden. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen. Der Vize-Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan bezeichnete das Referendum als "organisierten Diebstahl" und kündigte an, den Fall vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, so nötig (AM 18.7.2017). Die EU-Kommission hat die türkische Regierung aufgefordert, die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen (Zeit 18.4.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen, denn laut Michael Georg Link, Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stand fest, dass die Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellte (FAZ 19.4.2017). Daraufhin kündigte die Oberste Wahlkommission eine Prüfung der Vorwürfe an (Spiegel 19.4.2017).

KI vom 22.2.2017, Verurteilung von Parlamentariern der pro-kurdischen HDP

Am 20.2.2017 hat die Demokratische Partei der Völker (HDP) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) eine Beschwerde wegen der andauernden Inhaftierung ihrer beiden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag eingereicht. Die HDP begründete dies u.a. mit dem Umstand, dass das Verfassungsgericht seit 95 Tagen keine Untersuchungen durchgeführt habe, und dadurch die beiden Parlamentarier ihren legislativen Aufgaben nicht nachkommen können (HDN 20.2.2017).

Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir fordert seit Jänner 2017 bis zu 142 Jahre Haft für Demirtas. Ihm werden unter anderem die Leitung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und Terrorpropaganda vorgeworfen (TS 17.1.2017). Ein Gericht im osttürkischen Dogubeyazit befand inzwischen am 21.2.2017 Selahattin Demirtas der "Herabwürdigung der türkischen Nation, des türkischen Staates und seiner Institutionen " schuldig und verurteilte ihn zu fünf Monaten Haft. Zudem wurde am 21.2.2017 Figen Yüksekdag ihr Parlamentsmandat aberkannt. Grund ist das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts, das eine vorherige Verurteilung der Politikerin zu einer zehnmonatigen Haftstrafe wegen Terrorpropaganda bestätigt hatte (AM 21.2.2017; vgl. Zeit 21.2.2017). Idris Baluken, ein weiterer HDP-Abgeordneter, der eng mit den damaligen Friedensgesprächen zwischen der Regierung und dem inhaftierten PKK-Führer, Abdullah Öcalan, engagiert war, wurde nach Beanstandungen eines Appellationsgerichts erneut verhaftet (AM 21.2.2017).

2. Politische Lage

Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Die Türkei ist laut Verfassung eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche die Menschenrechte achtet und sich dem Nationalismus Atatürks verbunden fühlt (bpb 11.8.2014). Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident (IFES 2016a). Recep Tayyip Erdogan, der zuvor zwölf Jahre lang Premierminister war, gewann am 10.8.2014 die erstmalige direkte Präsidentschaftswahl, bei der auch zum ersten Mal im Ausland lebende türkische Staatsbürger an nationalen Wahlen teilnahmen (bpb 11.8.2014; vgl. BBC 8.12.2015; vgl. Presse 10.8.2014).

Nach einer Unterredung mit Staatspräsident Erdogan kündigte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am 5.5.2016 seinen Rücktritt als Partei- und Regierungschef an. Davutoglu galt zuletzt als Erdogans Widersacher auf dem Weg zu einem Umbau der Türkei zur Präsidialrepublik (WZ 5.5.2016; vgl. SD 5.5.2016). Die Spannungen zwischen Davutoglu und seiner Partei erreichten am 29.4.2016 einen Höhepunkt, als das Zentrale Exekutivkomitee der AKP beschloss, Davutoglu die Befugnis zur Ernennung der lokalen Parteiführer zu entziehen (HDN 5.5.2016). Neuer Ministerpräsident wurde Ende Mai Binali Yildirim, der sich durch eine besondere, selbstbekundete Loyalität zu Staatspräsident Erdogan auszeichnet (NZZ 29.5.2016).

Der Ministerpräsident und die auf seinen Vorschlag hin vom Staatspräsidenten ernannten Minister bzw. Staatsminister bilden den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Überdies ernennt der Staatspräsident 14 von 17 Mitglieder des Verfassungsgerichtes für zwölf Jahre. In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt. Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht in 85 Wahlkreisen. Im Unterschied zu unabhängigen KandidatInnen gilt für politische Parteien landesweit eine Zehn-Prozent-Hürde (OSCE 18.8.2015).

2015 fanden zweimal Parlamentswahlen statt. Die Wahlen vom 7.6.2015 veränderten die bisherigen Machtverhältnisse in der Legislative. Die seit 2002 alleinregierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verlor zehn Prozent der Wählerstimmen und ihre bisherige absolute Mehrheit. Dies war auch auf den Einzug der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) zurückzuführen, die deutlich die nötige Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffte (AM 8.6.2015; vgl. HDN 9.6.2015). Der Wahlkampf war überschattet von zahlreichen Attacken auf Parteilokale und physischen Übergriffen auch mit Todesopfern. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisierte überdies den Druck auf regierungskritische Medien sowie die unausgewogene Berichterstattung, insbesondere des staatlichen Fernsehens zugunsten der regierenden AKP. Überdies hat Staatspräsident Erdogan im Wahlkampf eine aktive Rolle zugunsten seiner eigenen Partei eingenommen, obwohl die Verfassung den Staatspräsidenten zur Neutralität verpflichtet (OSCE 8.6.2015).

Die Parlamentswahlen vom 1.11.2015, die als Folge der gescheiterten Regierungsbildung abgehalten wurden, endeten mit einem unerwartet deutlichen Wahlsieg der seit 2002 alleinregierenden AKP. Die AKP gewann fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen, was einen Zuwachs von rund neun Prozent im Vergleich zu den Juni-Wahlen bedeutete. Da die pro-kurdische HDP, zwar unter Verlusten, die nötige Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament schaffte, verfehlte die AKP die Verfassungsmehrheit, um das von ihrem Vorsitzenden und gegenwärtigen Staatspräsident, Recep Tayyip Erdogan, angestrebte Präsidialsystem zu errichten (Guardian 2.11.2015; vgl. Standard 2.11.2015).

Im 550-köpfigen Parlament sind vier Parteien vertreten: die islamisch-konservative AKP mit 49,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 Mandaten (Juni 2015: 258), die sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) mit 25,3 Prozent und 134 Sitzen (bislang 132), die rechts-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 11,9 Prozent und 40 Sitzen (bislang 80) sowie die pro-kurdische HDP mit 10,8 Prozent und 59 (bislang 80) Mandaten (IFES 2016b).

Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten (OSCE/ODHIR 23.10.2015; vgl. OSCE/ODHIR 2.11.2015).

Laut dem Bericht der Europäischen Kommission vom November 2016 sind Fortschritte in der Anpassung des Gesetzesrahmens an die Europäischen Standards ausgeblieben. Weiterhin bedarf es einer umfassenden Reform des parlamentarischen Regelwerkes, um die Inklusion die Transparenz und die Qualität der Gesetzgebung sowie eine effektive Aufsicht der Exekutive zu verbessern. Die parlamentarische Aufsicht über die Exekutive blieb schwach. Wann immer das Parlament seine Instrumente der Befragung oder der Untersuchungsausschüsse anwandte, blieben weiterführende Maßnahmen der Regierung unzureichend. Die Fähigkeit des Parlaments seine Schlüsselfunktionen, nämlich die Gesetzgebung und Aufsicht der Exekutive, auszuüben, blieb bis zum 15.7.2016 von politischer Konfrontation überschattet. Die Gesetzgebung wurde oft ohne ausreichende Debatte im Parlament und ohne Konsultation der Beteiligten vorbereitet und verabschiedet. Nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und seiner Ausweitung war die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Es gab weder Fortschritte bei der Reform der parlamentarischen Regeln und Verfahren noch hinsichtlich der Wahl- und Parteiengesetzgebung nach Europäischen Standards. Der im Dezember 2013 zum Stillstand gekommene Verfassungsreformprozess wurde im Februar 2016 wiederbelebt. Allerdings brachen die Diskussionen im Vermittlungsausschuss des Parlaments bald zusammen, da es zur Blockade wegen des von der regierenden AKP vorgeschlagenen Pr

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