TE Bvwg Beschluss 2018/10/10 G314 2206980-1

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Veröffentlicht am 10.10.2018
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Entscheidungsdatum

10.10.2018

Norm

AsylG 2005 §55 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

G314 2206980-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER im Verfahren über die für XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Bosnien und Herzegowina, vom Rechtsanwalt Mag. Slaviša ŽEŽELJ, LL.M., eingebrachte Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 27.08.2018, Zl. XXXX, betreffend die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG:

A) Die Beschwerde wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang und Feststellungen:

Beim 25-jährigen XXXX (im Folgenden als Beschwerdeführer, kurz BF, bezeichnet) bestehen eine kongenitale Nebennierenhyperplasie (durch 21-Hydroxylase-Mangel, klassische Form, mit Salzverlust), damit einhergehend Intersexualität, sowie eine Intelligenzminderung. Er benötigt eine lebenslange Hormonersatztherapie mit Hydrocortison und Mineralcorticoiden sowie regelmäßige medizinische Kontrolle und Betreuung. Aufgrund seiner geistigen Behinderung ist er dauerhaft und vollständig unfähig zu einem selbständigen Leben und Arbeiten. Er kann sprechen, aber weder lesen noch schreiben. Er besuchte in seinem Herkunftsstaat, wo er bis 2016 lebte und von seiner Stiefmutter XXXX betreut wurde, fünf Jahre lang die Grundschule; eine weitere Beschulung erfolgte aufgrund seiner reduzierten intellektuellen Kapazität nicht, ebensowenig eine Erwerbstätigkeit.

Der BF reiste im September 2016 in das Bundesgebiet ein, wo er seither in XXXX in einem gemeinsamen Haushalt mit seinem in Österreich daueraufenthaltsberechtigten Vater XXXX sowie seiner Stiefmutter und seinen 1997 und 1999 geborenen Geschwistern, die jeweils über befristete Aufenthaltstitel ("Rot-Weiß-Rot - Karte plus") verfügen, lebt.

Mit Schriftsatz vom 10.11.2016 beantragten die Rechtsanwälte Dr.in Julia ECKER, Mag. Wilfried EMBACHER und Dr. Thomas NEUGSCHWENDTNER als Vertreter des BF unter Berufung auf die ihnen erteilte Vollmacht die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs 2 AsylG für ihn.

Dieser Antrag wurde nach der Einvernahme des BF, seines Vaters und seiner Stiefmutter vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und nach der Vorlage diverser Urkunden mit dem oben angeführten Bescheid abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurden gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.), die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina festgestellt (Spruchpunkt III.) und eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt IV.). Die Prozessfähigkeit des BF wird in dem Bescheid nicht thematisiert. Adressat des Bescheids ist der BF, vertreten durch die Rechtsanwälte ECKER, EMBACHER und NEUGSCHWENDTNER. Letzteren wurde der Bescheid am 31.08.2018 zugestellt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vom Rechtsanwalt Mag. Slaviša ŽEŽELJ, LL.M., als Vertreter des BF unter Berufung auf die ihm erteilte Vollmacht eingebrachte Beschwerde, mit der primär die Aufhebung des angefochtenen Bescheids beantragt wird. Hilfsweise werden ein (offenbar irrtümlich auf die Gewährung von Asyl gerichteter) Abänderungsantrag sowie ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass der BF nicht selbsterhaltungsfähig sei und in Österreich durch seinen Vater und seine Stiefmutter versorgt würde. Da beide in Österreich erwerbstätig seien (die Stiefmutter der BF im Ausmaß von drei Wochenstunden), könnten sie den BF nicht mehr in seinem Herkunftsstaat betreuen. Dort gebe es für den arbeitsunfähigen BF keine (kostenlose) medizinische Versorgung. Aus sozialmedizinischer Sicht sei sein Verbleib in Österreich geboten. In Bosnien und Herzegowina sei ein Verfahren "über die Besachwalterung des BF" anhängig.

Wegen seiner geistigen Behinderung ist der BF nicht in der Lage, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung sowie der sich aus ihm ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich - durch aktive Verfahrenshandlungen oder Unterlassungen - den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten. Es gibt niemanden, der befugt ist, den BF zu vertreten und für ihn rechtsgeschäftlich zu handeln.

Die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vorgelegt, wo sie am 04.10.2018 einlangten. Im Vorlagebericht beantragt das BFA die Abweisung der Beschwerde als unbegründet.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich ohne entscheidungswesentliche Widersprüche aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten.

Die Identität des BF geht aus seinem Reisepass hervor. Auch seine Geburtsurkunde wurde vorgelegt.

Die gesundheitlichen Probleme des BF werden anhand der vorgelegten medizinischen Unterlagen festgestellt. Der im Befund des XXXX-Krankenhauses vom 21.06.2017 diagnostizierte Pseudohermaphroditismus ist eine Form der Intersexualität und steht mit "Extripation der Gebärmutter und Keimdrüsen" laut dem Schreiben des Fonds für Renten- und Invaliditätsversicherung der Republika Srpska vom 26.09.2011 und dem "Entlastungsschreiben" des Instituts für Gesundheitsschutz von Mutter und Kind Serbiens vom 19.11.2004 in Einklang. Intersexualität kann mit der beim BF bestehenden Nebennierenhyperplasie einhergehen (vgl https://de.wikipedia.org/wiki/Klassische_21-OHD_CAH, Zugriff am 05.10.2018).

Die vom BF benötigte medizinische Behandlung ergibt sich aus dem Befund des XXXX-Krankenhauses vom 21.06.2017. Seine Arbeitsunfähigkeit und fehlende Selbsterhaltungsfähigkeit gehen aus dem Schreiben des Fonds für Renten- und Invaliditätsversicherung der Republika Srpska vom 26.09.2011 hervor. Da es sich um einen Dauerzustand handelt, ist nicht davon auszugehen, dass seither eine entscheidungswesentliche Veränderung eingetreten ist, zumal dies auch durch die Darstellung des Vaters und der Stiefmutter des BF untermauert wird. Anhaltspunkte für die Beschwerdebehauptung, der BF sei zu 60 % behindert, lassen sich den derzeit vorliegenden Beweismitteln dagegen nicht entnehmen.

Die Feststellung, dass der BF weder schreiben noch lesen kann, basiert auf seinen Angaben bei der Einvernahme am 27.03.2017, ebenso die Feststellungen zum Schulbesuch in seinem Herkunftsstaat. Die Feststellungen zum Aufenthalt und zur Versorgung des BF dort bis 2016 beruhen auf den Angaben seiner Stiefmutter bei dieser Vernehmung.

Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet seit 2016 ergibt sich aus seinem Vorbringen, das im Einklang mit den Grenzkontrollstempeln in seinem Reisepass und der Hauptwohnsitzmeldung laut dem Zentralen Melderegister steht. An seiner Meldeadresse sind auch sein Vater, seine Stiefmutter und seine Geschwister, deren Aufenthaltstitel im Fremdenregister dokumentiert sind und zum Teil auch vorgelegt wurden, mit Hauptwohnsitz gemeldet, sodass von einem gemeinsamen Haushalt auszugehen ist, was angesichts des Betreuungsbedarfs des BF auch naheliegend ist.

Die beim BF bestehende geistige Behinderung führt zu der Feststellung, dass er nicht in der Lage ist, die Bedeutung und Tragweite des Verfahrens zu erkennen und zu verstehen und dieser Einsicht gemäß zu handeln, und demnach prozessunfähig ist. Laut dem Schreiben des Fonds für Renten- und Invaliditätsversicherung der Republika Srpska vom 26.09.2011 besteht beim BF ein IQ von 62, was beim Erwachsenen etwa dem Intelligenzalter eines neun- bis zwölfjährigen Kindes entspricht (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Intelligenzminderung, Zugriff am 05.10.2018), was gegen seine Prozessfähigkeit spricht. Dies wird weiter dadurch belegt, dass nach dem Beschwerdevorbringen ein Verfahren zur Bestellung eines Vertreters für den BF ("Besachwalterung") anhängig ist und dass er bei der Einvernahme vor dem BFA die Frage, ob er verstünde, was seine Eltern wollten, verneinte. Der Umstand, dass dem Vater und der Stiefmutter des BF im Anschluss an dessen Einvernahme mitgeteilt wurde, dass eine Vollmacht für den BF benötigt würde, spricht dafür, dass das BFA das Problem der Vertretung des BF bereits damals erkannte. Die verlangte Vollmacht ist jedoch nicht aktenkundig.

Die Feststellung, dass keine für den BF vertretungsbefugte Person vorhanden ist, beruht darauf, dass dazu keine schriftlichen Unterlagen oder Dokumente vorgelegt wurden. Der Vater und die Stiefmutter des BF erklärten zwar gegenüber dem BFA am 27.03.2017, seine Sachwalter zu sein; ein Beschluss darüber sei ihnen aber unbekannt. Da in der Beschwerde auf das anhängige, aber noch nicht abgeschlossene Verfahren "zur Besachwalterung des BF" hingewiesen wird, ist davon auszugehen, dass bislang noch kein Vertreter für ihn bestellt wurde.

Rechtliche Beurteilung

Die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, durch eigene Handlungen oder durch die eines gewillkürten Vertreters prozessuale Rechte und Pflichten zu begründen und rechtswirksame Verfahrenshandlungen zu setzen. Sie richtet sich gemäß § 9 AVG nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts, sofern die Verwaltungsvorschriften keine besonderen Regelungen enthalten. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiellrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Hiefür ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens sowie der sich aus ihm ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was neben den von ihr gesetzten aktiven Verfahrenshandlungen auch Unterlassungen erfasst (VwGH 20.12.2016, Ra 2015/01/0162).

Gemäß § 11 AVG kann die Behörde die Betrauung einer Person mit der Obsorge oder die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters oder Kurators beim zuständigen Gericht (§ 109 JN) veranlassen, wenn von Amts wegen oder auf Antrag gegen einen schutzberechtigten Beteiligten, der eines gesetzlichen Vertreters entbehrt, eine Amtshandlung vorgenommen werden soll und es die Wichtigkeit der Sache erfordert.

Das Fehlen der Prozessfähigkeit ist als Vorfrage in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen (VwGH 20.12.2016, Ra 2015/01/0162). Mangelnde Prozessfähigkeit führt zur Unwirksamkeit verfahrensrechtlicher Akte der Behörde, zB von Zustellungen. Eine prozessunfähige Person kann keine wirksamen Verfahrenshandlungen setzen (Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10 Rz 130 ff).

Die Zustellung eines Bescheids ist ein Verfahrensakt, der rechtswirksam nur gegen Prozessfähige gesetzt werden kann. Eine an eine prozessunfähige Person vorgenommene Zustellung löst keine Rechtswirkungen aus. Die Behörde hat in diesem Fall den gesetzlichen oder bestellten Vertreter oder einen Kurator als Empfänger festzulegen. Erst mit der rechtmäßigen Zustellung gilt der zugestellte Akt als "erlassen" (Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10 Rz 198). Wird ein Bescheid an eine handlungsunfähige Person zugestellt, ist die Erlassung des Bescheids unwirksam (VwGH 30.08.2007, 2006/19/0480).

Diese Grundsätze sind gemäß § 17 VwGVG iVm §§ 9, 11 AVG auch vom BVwG anzuwenden, das die Frage der Prozessfähigkeit im Hinblick auf die Zulässigkeit der Beschwerde als Vorfrage (§ 38 AVG) selbständig zu beurteilen hat (VwGH 20.12.2016, Ra 2015/01/0162).

Bei der geistigen Behinderung des BF handelt es sich um einen Dauerzustand. Da er deshalb nicht in der Lage ist, prozessualen Vorgängen adäquat zu folgen und sich den Anforderungen des Verfahrens entsprechend zu verhalten, fehlt ihm die Prozessfähigkeit, und zwar auch schon während des Verfahrens vor dem BFA und bei der Antragstellung. Mangels ausreichender Handlungsfähigkeit konnte er den für ihn einschreitenden Rechtsanwälten keine wirksame Vollmacht erteilen.

Der BF ist volljährig, sodass eine gesetzliche Vertretung im Rahmen der Obsorge nicht in Betracht kommt. Es gibt auch keine Anhaltspunkte für das Bestehen einer Vorsorgevollmacht oder einer Erwachsenenvertretung.

Da der prozessunfähige BF somit keinen Vertreter hat, sind verfahrensrechtliche Akte der Behörde unwirksam. Insbesondere konnte der angefochtene Bescheid ihm nicht wirksam zugestellt werden. Da der Bescheid mangels Zustellung noch gar nicht erlassen wurde, ist dagegen auch keine Beschwerde möglich. Die vorliegende Beschwerde ist daher aufgrund der Prozessunfähigkeit des BF als unzulässig zurückzuweisen.

Das BFA wird bei einer Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 11 AVG für eine gehörige Vertretung des BF zu sorgen und in der Folge das Verfahren mit einer für ihn vertretungsbefugten Person zu führen haben. Dabei wird allenfalls auch die Genehmigung des ursprünglichen Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung zu prüfen sein.

Sollte demnach eine inhaltliche Befassung mit dem Antrag des BF erforderlich sein, wird insbesondere zu klären sein, welche medizinischen Behandlungen und welche Betreuungs- und Versorgungsleistungen er benötigt und ob diese in seinem Heimatstaat vorhanden und für ihn (allenfalls mit finanzieller Unterstützung seines Vaters) auch tatsächlich zugänglich sind sowie ob und wie seine Versorgung und Betreuung dort in Zukunft bewerkstelligt werden können. Dabei wird auch auf die Beschwerdebehauptung, aufgrund seiner 60 %igen Behinderung habe er keinen (kostenlosen) Zugang zur medizinischen Versorgung in Bosnien und Herzegowina, einzugehen sein. Wenn für den BF keine Aussicht besteht, sich in seinem Heimatstaat (oder einem anderen Land außerhalb Österreichs) der für ihn notwendigen medizinischen Behandlung unterziehen zu können, kann das - abhängig von den dann zu erwartenden Folgen - eine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich darstellen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob durch die Rückkehr in den Herkunftsstaat wegen der dort herrschenden Verhältnisse eine maßgebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands, zB die deutliche Verschlimmerung psychischer Probleme, eintreten wird (vgl VwGH 21.02.2017, Ro 2016/18/0005).

Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfällt eine mündliche Verhandlung aufgrund der Zurückweisung der Beschwerde.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Rechtsfragen von über den Einzelfall hinausgehender grundsätzlicher Bedeutung iSd Art 133 Abs 4 B-VG nicht zu lösen waren.

Schlagworte

gesundheitliche Beeinträchtigung, Prozessfähigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:G314.2206980.1.00

Zuletzt aktualisiert am

15.02.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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