Entscheidungsdatum
04.12.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2199369-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian Schmaus, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2018, Zahl 1096038506-151830934, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.10.2018 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben am 20.11.2015 irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.
1.2. In seiner Erstbefragung am 22.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Burgenland, Competence Center (CC) Eisenstadt, gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und verheiratet. Er habe fünf Söhne und drei Töchter und stamme aus einem Dorf im Distrikt Gardez, Provinz Paktia, Afghanistan, und habe auch ca. 15 Jahre lang in Pakistan gelebt. Er habe zuletzt für das afghanische Bildungsministerium gearbeitet.
Seine Heimat habe er am 20.10.2015 per PKW Richtung Pakistan verlassen und sei schlepperunterstützt über bekannte und unbekannte Länder schließlich bis nach Wien gelangt, wo er gegenständlichen Asylantrag gestellt habe.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er von 2004 bis 2015 [in Afghanistan] für Regierungseinrichtungen und ausländische Firmen gearbeitet habe und deshalb von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei. Auf ihn sei auch geschossen worden, sein Onkel sei dabei ums Leben gekommen. Er sei auch schriftlich mit dem Tod bedroht worden.
1.3. Eine Vertrauensperson (mit Vertretungsvollmacht für den BF) fragte am 05.07.2017 per E-Mail beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) an, wann mit einer Ladung des BF zur Einvernahme zu rechnen sei.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 01.12.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben (nur die Namen seiner Kinder seien falsch protokolliert worden, er gab sie an) und legte seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) im Original sowie eine Übersetzung ihres Inhaltes ins Deutsche vor.
Er sei in der Provinz Paktia, Distrikt XXXX geboren, habe im Jahr 2000 geheiratet, 2001 in Pakistan die Schule abgeschlossen und sei dann nach Afghanistan gegangen (Gardez), wo er studiert habe. Nach Abschluss seines Studiums habe er gearbeitet, wozu er konkrete Angaben zu Organisation und Zeit machte (2006 für eine Stadtverwaltung in Paktia, 2006 bis 2008 für einen Handynetzbetreiber, 2008 für eine ausländische NOG bei der dänischen Botschaft, Verteilen von Schulbüchern, 2008 bis 2011 für IOM, 2012 in Paktia für ein Friedenskomitee, 2012 bis 2013 für das Landwirtschaftsministerium, Projekt USAD der USA, 2013 bis 2015 für das Wirtschafts- und Planungsministerium der NGO bei der dänischen Botschaft - Erstellen von Plänen für das Bildungsministerium; 2014 Wahlbeobachter für die UN bei den Präsidentschaftswahlen).
In Österreich sei er im afghanischen Kulturverein in der Verwaltung aktiv (wofür er Belege vorlegte) und habe viele österreichische Freunde.
Der BF legte Belege für seine angegebenen Lebensumstände (Heiratsurkunde, Geburtsbestätigung eines Krankenhauses) vor.
Zu seinem Fluchtvorbringen befragt führte der BF seine Angaben bei der Erstbefragung ausführlich weiter aus. Die Taliban hätten ihn erstmals im Jahr 2010 telefonisch bedroht, weswegen er gezwungen gewesen sei, seine Familie aus seinem Heimatdorf in die Stadt Gardez zu übersiedeln, wo er ein Haus gebaut habe. Der BF schilderte detailliert einen Vorfall im Juli 2010, als sein Onkel, der bei ihm zu Besuch gewesen sei, mit dem Auto des BF gefahren und auf der Straße von Taliban erschossen worden sei. Er sei offensichtlich für den BF gehalten worden. Am 30.05.2011 habe er einen Drohbrief der Taliban vor die Haustüre geworfen bekommen.
Er habe aber seine Arbeit nicht aufgegeben, weil er weiter für die Demokratie in Afghanistan habe arbeiten wollen. Er habe daher seinen Aufenthaltsort und seine Arbeit immer wieder gewechselt.
Am 24.05.2015 habe er einen weiteren Drohbrief erhalten, mit der Ankündigung, dass er getötet würde, wenn er nicht die Seiten wechsle und für die Taliban arbeite und spioniere. Am 15.06.2015 habe er einen Anruf einer anonymen Nummer bekommen, wobei er gefragt worden sei, wie er sich entschieden habe. Er habe nicht geantwortet, wütend das Handy gegen die Wand geschmissen und seine Familie sei sehr traurig gewesen.
Am 12.08.2015 sei er auf der Fahrt zu einem Bekannten von vermummten Männern auf zwei Motorrädern verfolgt worden, die auf ihn geschossen hätten. Er habe ihnen glücklich mit Hilfe von ihm unbekannten Menschen entkommen können. Dann sei er nach Hause gefahren und habe seiner Mutter und seiner Frau alles erzählt und sie hätten gemeinsam entschieden, dass er das Land verlasse.
Seit 20.10.2015 habe seine Familie zweimal den Wohnort gewechselt.
Zum Beleg für sein Vorbringen legte der BF zwei Drohbriefe, jeweils mit englischer Übersetzung, vor.
Laut Niederschrift wurde sodann die Einvernahme "aufgrund gesundheitlicher Beschwerden des Leiters der Amtshandlung abgebrochen und an einem späteren Zeitpunkt fortgeführt".
1.5. Mit E-Mail seiner Vertrauensperson vom 27.12.2017 legte der BF weitere Unterlagen zu seinem Vorbringen vor (Deutschkurs-Diplom B1, Kursbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Zeugnis über seine gemeinnützige Tätigkeit beim Wiener Tourismusverband; Identifikationskarten aus Afghanistan - IOM, Bildungsministerium, UNAMA, österreichischer Führerschein; Lebenslauf aktuell auf Deutsch; Liste von Kontaktpersonen, die mit dem BF in Afghanistan zusammengearbeitet hätten und als Zeugen seiner Situation und Bedrohung kontaktiert werden könnten).
1.6. Bei seiner fortgesetzten Einvernahme am 04.01.2018 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu und seiner Vertrauensperson, vor demselben Einvernahmeleiter, ergänzte der BF sein Vorbringen damit, dass er in Kabul zwei Monate lang versucht habe, einen legalen Weg zu seiner Ausreise zu finden, er sei auch bei UNHCR gewesen, habe dies aber nicht geschafft. Er habe in verschiedenen Hotels geschlafen und schließlich seine Heimat verlassen.
Den zuletzt seine Flucht auslösenden Vorfall am 12.08.2015 schilderte der BF detailliert unter Angabe vieler Begleitumstände und beantwortete die zahlreichen an ihn gestellten Fragen.
Laut Niederschrift wurden dem BF Länderfeststellungen der Staatendokumentation vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation vom 21.12.2017, zur Kenntnis gebracht. Die Vertreterin des BF beantragte eine Stellungnahmefrist zu den Länderinformationen, wozu sich in der Niederschrift keine Äußerung des BFA findet.
1.7. Mit Schreiben vom 16.01.2018 brachte der BF eine Stellungnahme zu der vom BFA bei der Einvernahme geäußerten Einschätzung der Unglaubwürdigkeit seiner Person bzw. der Unglaubhaftigkeit seines Vorbringens ein, setzte sich damit im Einzelnen auseinander, verwies auf den EASO-Bericht und die UNHCR-Richtlinien und legte weitere Beweismittel für sein Vorbringen (E-Mail Schriftverkehr mit UN-Mitarbeitern sowie mit IOM-Mitarbeitern in Afghanistan) vor.
Mit E-Mail vom 24.01.2018 gab die damalige Vertreterin des BF dessen neue Wohnadresse - samt vorgelegtem Meldezettel - bekannt.
Im Verwaltungsakt liegt ein Schreiben des Magistrates der Stadt Wien vom 29.01.2018 an das BFA ein, wonach der BF am 21.01.2018 das Gewerbe "Güterbeförderung mit KFZ [...]" an einem Standort in 1030 Wien angemeldet hat.
Mit Schreiben vom 05.02.2018 gab der nunmehrige anwaltliche Vertreter des BF seine Vollmacht bekannt und legte am 23.04.2018 weitere Belege zur Integration des BF betreffend sein Beförderungsgewerbe vor.
1.8. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 16.05.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 22.11.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF "2 Wochen" [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Zum Fluchtvorbringen des BF führte das BFA beweiswürdigend aus:
"Ihrem Vorbringen zum behaupteten Fluchtgrund war zur Gänze jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen, umso mehr Ihre Ausführungen dazu in höchstem Maße vage, widersprüchlich und zudem in keiner Weise plausibel gehalten waren." In weiterer Folge wurden auf mehreren Seiten vorgebliche Widersprüche oder Unstimmigkeiten in den Aussagen des BF angeführt.
1.9. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines anwaltlichen Vertreters vom 12.06.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Verletzung erheblicher Verfahrensvorschriften sowie mangelhafter Beweiswürdigung, Verletzung des Rechts auf Parteiengehör und Verstoßes gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Bescheidbegründung ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF sein Fluchtvorbringen äußerst ausführlich und genau erstattet und mit einer Vielzahl von Bescheinigungsmitteln belegt habe. Unter Anführung einiger Angaben - unter Auseinandersetzung mit der Beurteilung des BFA - wurde dargelegt, dass das Vorbringen stimmig und nachvollziehbar gewesen sei.
Die Einvernahme vor dem BFA sei - vor dem Abbruch durch den Einvernahmeleiter wegen dessen Erkrankung - ungeduldig, gehetzt und in weiten Teilen unhöflich geführt worden. Der Einvernahmeleiter habe untersagt, dass der BF Deutsch spreche, und habe die Annahme eines Konvolutes von Beweismitteln verweigert, was dazu geführt habe, dass nicht alle Unterlagen hätten vorgelegt werden können. Weitere Aussagen und weiteres Verhalten des Einvernahmeleiters wurden detailliert angeführt. Die Behörde sei damit ihrer Pflicht, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu ermitteln, nicht nachgekommen.
Beigelegt war der Beschwerde eine Fülle von Beweismitteln, die teilweise schon vor dem BFA vorgelegt worden waren.
1.10. Das BVwG veranlasste von Amts wegen die Übersetzung einiger vorgelegter Schriftstücke (Drohbriefe sowie Anerkennungsschreiben und Bestätigungen amtlicher Institutionen in Afghanistan).
1.11. Das BVwG führte am 15.10.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF in Begleitung einer Vertrauensperson und seines anwaltlichen Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI: [Richter] Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Paschtu. Ich spreche darüber hinaus Dari, Urdu und Englisch.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Paschtu.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja, heute bin ich gesund.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein, nach meiner Ankunft in Österreich konnte ich etwa fünf bis sechs Monate nicht gut schlafen. Dann habe ich Medikamente (Schlafmittel) eingenommen, und derzeit geht es mir besser.
[...]
Der BF hat bisher eine Tazkira (Personaldokument) im Original und Übersetzung, eine Heiratsurkunde und ein "certificate of live birth" (einer Krankenanstalt) sowie eine Vielzahl an Belegen zu seinem Vorbringen (Bestätigungen der Tätigkeit für Regierungseinrichtungen und für ausländische Organisationen sowie Drohbriefe der Taliban), sowie zu Aktivitäten in Österreich (Mitgliedschaftsbestätigung in einem afghanischen Kulturverein, Deutschkursbestätigungen B1 bzw. B2, mehrere Empfehlungsschreiben, Kursbesuche, Zeugnis über Tätigkeiten beim Wiener Tourismusverband, Gewerbeberechtigung Güterbeförderung u.v.a.m.) vorgelegt, die dem Verwaltungsakt bzw. dem Gerichtsakt (amtliche Übersetzung war veranlasst worden) einliegen und auf die er verweist.
Weiters legt der BFV [Vertreter des BF] vor eine Zusammenstellung der bereits im Akt befindlichen Fotos mit jeweiligen Erklärung des Inhaltes der Bilder, sowie weiters Bilder und Belege betreffend die Integration des BF in Österreich (die in Kopie zum Akt genommen werden).
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Paschtune.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin sunnitischer Moslem.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin verheiratet und habe acht Kinder, fünf Söhne und drei Töchter.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF: In Paktia, im Dorf XXXX , unser Dorf liegt zwischen den Dörfern XXXX . Meine Mutter, meine Frau und meine Kinder leben noch dort.
Angemerkt wird, dass der RI dem BF einen Kartenausschnitt des Distrikts Gardez vorlegt, in dem dieser eine Nachbarortschaft seines Heimatortes anzeichnet.
RI: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?
BF: Nein, aber ich war bei politischen Wahlen Wahlbeobachter für UNAMA im Jahr 2004. Ich habe mitgewirkt am Training der die Wahl Durchführenden im Jahr 2004 und im Jahr 2005 (Parlaments- und Distriktwahlen). Ich habe mehrmals an Demonstrationen gegen die Taliban, wenn sie Menschen getötet haben, teilgenommen. Die Demonstrationen haben im Jahr 2010 begonnen und fanden jeden zweiten oder dritten Monat statt. Es gab sehr viele Vorfälle dort, und nach den Vorfällen gab es auch sehr viele Demonstationen gegen die Taliban.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?
BF: Ja, ich habe sehr viele Empfehlungsbriefe vorgelegt, im Wiener Tourismusverband habe ich ca. zwei Jahre gearbeitet. Ich habe dort ca. 149 Kollegen und Kolleginnen, und zu den meisten habe ich meistens noch immer Kontakt. Frau XXXX unterstützt mich seit meiner Ankunft in Österreich. Als ich nach Österreich kam, habe ich im 13. Bezirk gewohnt, sie hat uns freiwillig dort geholfen.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Ja, ich übe sechs Tage in der Woche mein Gewerbe Güterbeförderung aus. Ich beziehe keine Leistungen aus der Grundversorgung seit Februar 2018 und bin selbsterhaltungsfähig.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?
BF: Ich bin selbständig und habe keine Zeit, weil ich sechs Tage in der Woche arbeite. In einem afghanischen Verein bin ich aber Schriftführer. Wir veranstalten kulturelle Aktivitäten und laden dazu auch Österreicher ein. Ungebildete Afghanen kommen nach Österreich und wir möchten sie weiterbilden, weil sie nicht gut Deutsch lernen können, dann versuchen wir ihnen beizubringen die Grammatik der Sprache. Wir bringen ihnen auch bei ein Zusammenleben hier in Österreich, wie sie sich den Menschen hier in Österreich gegenüber verhalten sollen. Es gibt viele Module, in denen wir die Gesetze [in] Österreich unterrichten.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ich habe telefonischen Kontakt zu meiner Mutter, meiner Frau und auch zu meinen Kindern. Ein- bis zweimal in der Woche, ich habe nicht sehr viel Zeit, weil ich arbeite.
RI: Wie geht es Ihrer Frau?
BF: Es geht ihnen gut, aber sie machen sich Sorgen um mich. Sie machen sich auch Sorgen um sich, meine Kinder gehen zur Schule, und meine Frau hat auch Angst um unsere Kinder.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?
BF: Ja, ich habe wahrheitsgemäße Angaben gemacht.
RI: Wissen Sie, was ist das islamische Emirat?
BF: Ja, das ist der Name von der Partei der Taliban bzw. der Talibanbewegung. Die Taliban haben der Partei diesen Namen gegeben.
RI ersucht D, das Datum aus dem Drohbrief der Taliban vom 25.05.2015 in Paschtu zu lesen. D: 06.08.1436.
Das Datum wird in der Verhandlung mit Hilfe eines Kalenderrechners im Internet überprüft. Es stimmt überein mit dem islamischem Kalender.
RI: Sie haben den ersten Drohbrief im Jahr 2011 bekommen, warum sind Sie dann bis zum Jahr 2015 geblieben?
BF: Ich war politisch tätig und wollte nicht mein Volk im Elend zurücklassen. Ich habe mehrmals meinen Job gewechselt. Ich habe meinen Weg gewechselt und bin andere Wege gegangen, und ich habe auch meine Fahrzeuge gewechselt. Ich wollte, dass wir Demokratie in Afghanistan haben und eine stabile Regierung. Ich wollte, dass in Afghanistan Frieden herrscht und jeder in Frieden lebt. Die ausländischen NGO-Firmen brauchen solche fleißige Menschen wie mich, sie wollen Afghanistan helfen. Es gab Gerüchte, dass es Gespräche gibt zwischen der Regierung, Hezb-e-Islami, den Taliban und dem Haqqani-Netzwerk. Leider haben die Gespräche fehlgeschlagen, es brachte auch keinen Frieden.
RI: Wann haben Sie in Ihrem Dorf gelebt?
BF: Ich habe im Distrikt XXXX (Provinz Paktia) in den Jahren 2005 bis 2010 gelebt. Aber meine Arbeitsstelle war in der Stadt Gardez (Hauptstadt der Provinz Paktia). Diese Stadt liegt ca. 86 km entfernt von unserem Dorf.
RI: Wie ist es genau passiert, wie Ihr Onkel getötet worden ist?
BF schildert den Vorfall so wie bei seiner Einvernahme am 01.12.2017 vor dem BFA.
BF: Die Taliban wollten mich töten und haben irrtümlich meinen Onkel getötet, weil sie ihn durch die getönten Schreiben nicht erkannt haben. Ich habe noch immer Schuldgefühle, weil mein Onkel meinetwegen gestorben ist.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Im Falle einer Rückkehr würden mich die Taliban finden, ich kann nicht sagen, wie lange es dauern würde, bis sie mich finden, ein oder zwei Monate. Die Taliban haben mich bedroht, sie haben mir Drohbriefe geschickt. Es gibt sehr viele Fotos von mir in Facebook und auch von meinen politischen Aktivitäten gegen die Taliban. Ich würde umgebracht werden, wenn man einmal ins Visier der Taliban gerät, dann ist es so, als wenn man auf eine "blacklist" kommt. Die Taliban verfügen über ein gutes Netzwerk überall in Afghanistan. Sie haben auch sehr starke geheimdienstliche Aktivitäten und zwar in jeder Provinz, fast in jedem Dorf. Die Taliban kontrollieren ca. 70 % der Gebiete der Afghanistans.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
BFV: Sie haben gesagt, dass Sie auf Facebook auch politische Ereignisse kommentieren, was sagen Sie dazu?
BF: Ich habe z.B. Angriffe von Taliban kommentiert, weiters habe ich Taliban-Taten verurteilt, wenn sie gegen Menschen und die Menschlichkeit gerichtet waren. Ich verurteile die Taten von den Taliban, indem sie Kinder umbringen, Schulen zerstören, usw.
BFV: Wie würde sich im theoretischen Fall der Rückkehr nach Afghanistan Ihr mehrjähriger Aufenthalt in Europa auswirken?
BF: Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde ich als Spion der westlichen Länder bezeichnet werden. Die Taliban haben auch Zugang zu Medien und zu sozialen Netzwerken. Es gibt sehr viele Fotos von mir.
BFV: Bloß der Vollständigkeitshalber wird angemerkt, dass der BF auch einen Zeugen in Deutschland ausfindig gemacht hat, welcher mit ihm in Afghanistan - ebenso für internationale Organisationen - im selben Gebäudekomplex tätig war.
BFV legt vor ein Blatt mit den Personaldaten und Anschriften von zwei afghanischen Flüchtlingen, von denen der eine der oben genannte Kollege und der andere ein in der Türkei kennengelernter Flüchtling ist. Dieses Blatt wird in Kopie zum Akt genommen.
BFV: Wir werden versuchen, binnen drei Wochen eine zeugenschaftliche Aussage des Erstgenannten nachzubringen. [...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte schriftlich die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.12. Mit Schreiben seines Vertreters vom 31.10.2018 legte der BF - wie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung zugesagt - eine schriftliche Erklärung vom 28.10.2018 (in englischer Sprache) eines in Deutschland lebenden Kollegen des BF bei IOM vor, in der dieser das Vorbringen des BF bestätigte. Beigelegt waren Identitätsurkunden betreffend diesen Kollegen (Reisepass, Aufenthaltstitel in Deutschland).
Auch diese Eingabe wurde dem BFA übermittelt, es hat auch dazu nicht Stellung genommen.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 22.11.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 01.12.2017 und (fortgesetzt) am 04.01.2018, die vom BF zahlreich vorgelegten Bescheinigungsmittel sowie die Beschwerde vom 12.06.2018
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Seiten 25 bis 71 des angefochtenen Bescheides im unnummerierten Verwaltungsakt)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 15.10.2018 sowie Einsichtnahme in die in der Verhandlung vorgelegten Bescheinigungsmittel sowie in die vom BVwG amtlich veranlassten Übersetzungen der vom BF mit der Beschwerde vorgelegten Bescheinigungsmittel
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Paktia (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 11.09.2018) sowie
o Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009 zum Vorbringen des BF, er habe für Einrichtungen der afghanischen Regierung bzw. für ausländische Organisationen gearbeitet
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari, Urdu, Englisch und Deutsch (B2).
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF wurde in einem Ort in der Provinz Paktia geboren, lebte 15 Jahre lang in Pakistan, wo er die Schule im Jahr 2001 abschloss, und studierte dann bis 2004 in Gardez (Provinz Paktia) Lehramt für Mathematik.
Der BF heiratete im Jahr 2000 und hat fünf Söhne und drei Töchter.
Ab 2004 arbeitete der BF für diverse Ämter, private Unternehmen und mehrfach für ausländische NGOs, zum Teil in Zusammenarbeit mit amtlichen Stellen - etwa von 23.12.2008 bis 30.11.2011 für IOM und zuletzt von 21.02.2013 bis 31.05.2015 mit einer NGO in der dänischen Botschaft in Zusammenarbeit mit dem Wirtschafts- und Planungsministerium Afghanistans.
Im Jahr 2004 war der BF Wahlbeobachter für die UN bei den Präsidentschaftswahlen.
3.1.3. Der BF hatte gesundheitliche Probleme (Schlafstörungen).
Seit Februar 2018 bezieht er keine Leistungen der Grundversorgung mehr und ist sechs Tage in der Woche selbständig erwerbstätig (Gewerbe Güterbeförderung).
Er ist Schriftführer in einem afghanischen Kulturverein in Österreich, der Kurse betreffend Gesellschaft, Recht, Sprache u.a.m. für Landsleute zu deren Unterstützung bei ihrem Leben in Österreich anbietet.
3.1.4. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF hat sein Vorbringen, dass er als Mitarbeiter von Regierungseinrichtungen sowie von ausländischen NGOs in Afghanistan von den Taliban wegen unterstellter feindlicher politischer bzw. religiöser Gesinnung verfolgt werde, glaubhaft gemacht.
So hat er glaubhaft angegeben, dass sein Onkel im Jahr 2011 wegen einer offenbaren Verwechslung mit dem BF im Auto des BF erschossen worden ist, und dass der BF im Jahr 2015 von Vermummten auf zwei Motorrädern verfolgt worden ist, die auch auf ihn geschossen haben.
Er hat mehrere Drohungen schriftlich und per Telefon erhalten.
3.2.2. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre oder nach denen ein Ausschluss des BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hätte.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 29.10.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
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Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
[...]
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
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Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung:
Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.05.2018; vgl. DW 06.05.2018, AJ 06.05.2018, Tolonews 06.05.2018, Tolonews 29.04.2018, Tolonews 220.4.2018).
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Zivilist/innen
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Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verle