TE Bvwg Erkenntnis 2018/12/28 W147 2160752-1

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Veröffentlicht am 28.12.2018
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Entscheidungsdatum

28.12.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §53 Abs3 Z6

Spruch

W147 2160752-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. am XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. Mai 2017, Zl:

13-811557001 - 170259362, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20. September 2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 iVm § 7 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, § 8 Abs. 1 Z 2, AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation sowie § 57 AsylG 2005 BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, und § 46 Fremdenpolizeigesetz (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, § 52 Abs. 9 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, § 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1 und Z 6 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste spätestens am 25. Dezember 2011 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und brachte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Im Rahmen ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26. Dezember 2011 gab die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihr Bruder von den Behörden des Herkunftslandes inhaftiert und getötet worden sei. Sodann hätten die Behörden einen weiteren Bruder verfolgt, welcher jedoch geflohen sei. Als die Behörden des Herkunftsstaates der Mutter der Beschwerdeführerin mit der Ermordung der Töchter gedroht hätten, sei die Beschwerdeführerin geflohen und sei sie mit schlepperunterstützter Hilfe nach Österreich gereist. Auf Nachfrage führte die Beschwerdeführerin aus, dass ihr Bruder von den Behörden des Herkunftslandes gesucht worden sei, weil dieser gegen "russische" Behörden gekämpft habe. Bei einer Rückkehr in das Heimatland befürchte die Beschwerdeführerin, als Terroristin dargestellt und getötet zu werden.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die Beschwerdeführerin am 25. Juni 2012 vor dem Bundesasylamt im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen und gab eingangs an, sie sei psychisch und physisch zu einer Einvernahme in der Lage. Zu ihren Fluchtgründen führte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen aus, dass am 21. November 2011 das Haus der Familie von bewaffneten Männern überfallen worden sei. Männer hätten sich nach dem Verbleib ihres Bruders "Magomed" erkundigt. Da weder die Mutter noch die Schwestern der Beschwerdeführerin über den Aufenthalt des Bruders Bescheid gewusst hätten, hätten die bewaffneten Männer alle auf die Straße gezerrt und der Beschwerdeführerin eine Pistole an den Kopf gehalten. Schließlich habe man die Beschwerdeführerin als Geisel nehmen wollen und ihr mit Misshandlungen gedroht. Auf Flehen der Mutter der Beschwerdeführerin hätten die bewaffneten Männer von einer Geiselnahme unter Drohungen von Misshandlungen abgesehen. Daraufhin sei die Beschwerdeführerin auf Drängen ihrer Mutter geflohen, mit der sie auch heute noch in regelmäßigem Kontakt stehe. Bei einer Rückkehr in das Heimatland befürchte die Beschwerdeführerin umgebracht zu werden. In Einem wurden der Beschwerdeführerin aktuelle Länderberichte über die Lage in der Russischen Föderation mit der Möglichkeit zur Stellungnahme ausgehändigt und brachte die Beschwerdeführerin ein Konvolut diverser ärztlicher Berichte in Vorlage.

3. Mit am 26. Juni 2012 beim Bundesasylamt einlangendem Schreiben nahm die Beschwerdeführerin zu den Länderberichten fristgerecht Stellung.

4. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. Juli 2012, 11 15.570 - BAI, wurde der Beschwerdeführerin der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Begründend wurde zusammengefasst festgehalten, dass die Beschwerdeführerin einer asylrelevanten Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt sei.

5. Aufgrund eines Antrages beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhielt die Beschwerdeführerin am 19. April 2014 einen Konventionsreisepass mit der Nummer XXXX, mit einer Gültigkeit bis 13. Juli 2016 ausgestellt.

6. Am XXXX wurde der Sohn der Beschwerdeführerin, Beschwerdeführer W147 2160966-1, geboren, und stellte die Beschwerdeführerin als dessen gesetzliche Vertretung am 14. August 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem Sohn der Beschwerdeführer wurde der Status des Asylberechtigten mit Bescheid vom 3. September 2013, Zahl

13.12.121 - BAI, zuerkannt.

7. in Folge eines weiteren Antrages beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wurde der Beschwerdeführerin am 19. April 2016 ein Konventionspass mit der Nummer XXXX, mit einer Gültigkeit bis 18. April 2021, ausgestellt.

8. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX, XXXX, wurde die Beschwerdeführerin wegen Diebstahls (§ 127 StGB) zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen á € 4,00, sohin einer Gesamtgeldstrafe von €

200,00 (im Falle einer Uneinbringlichkeit 25 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt und wurde die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

9. Anlässlich einer Personenkontrolle am Flughafen XXXX am 4. Juni 2016 gab die Beschwerdeführerin bei einer Einreisekontrolle von einem Flug von Istanbul nach Wien kommend an, dass sie sich seit 25. November 2015 im Ausland befunden habe, da es ihrer Mutter nicht gut gehe. Deswegen sei die Beschwerdeführerin mit ihrem Kind über Istanbul nach Moskau und von dort weiter nach Tschetschenien gereist. Im Weiteren wurde festgestellt, dass der Konventionsreisepass der Beschwerdeführerin zahlreiche Ein- und Ausreisestempel aufweist und brachte die Beschwerdeführerin zugleich einen russischen Reisepass in Vorlage, demnach sich die Beschwerdeführerin seit dem 25. November 2015 im Ausland befunden habe.

10. Am XXXX brachte die Beschwerdeführerin eine Tochter zur Welt, Beschwerdeführerin W147 2160753-1, und stellte die Beschwerdeführerin als deren gesetzliche Vertretung am 21. Februar 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens.

11. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl leitete von Amts wegen ein Verfahren auf Aberkennung des Status der Asylberechtigten ein. Zu Beginn der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 28. März 2017 gab die Beschwerdeführerin zunächst an, dass sie seit Jahren an Anämie leide und legte die Beschwerdeführerin einen Arztbericht vor. Wegen dieser Krankheit sei die Beschwerdeführerin auch schon im Heimatland behandelt worden und erhalte sie Thrombosespritzen gegen die Erkrankung. Zu dem russischen Reisepass befragt, antwortete die Beschwerdeführerin, dass ihr dieser Reisepass gestohlen worden sei. Zu der Häufigkeit der Reisen in die Russische Föderation befragt, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie seit ihrer Einreise nach Österreich zwei Mal in die Russische Föderation, jedoch nicht nach Tschetschenien, gereist sei, da es ihrer Mutter schlecht gegangen sei. Auf Aufforderung, dass die Beschwerdeführerin die genauen Zeiträume ihrer Reisen in die Russische Föderation bekannt geben solle, führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie Ende Januar vor zwei Jahren das erste Mal für eine Woche, aufgrund ihrer Schwester, welche letztlich verstorben sei, in die Russische Föderation gereist sei. Das zweite Mal sei die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben im Mai oder Juni 2016 für circa zehn Tage in der Russischen Föderation gereist.

Auf Vorhalt der belangten Behörde, dass sich im Reisepass der Beschwerdeführerin mehrere Stempel befinden würden, und sie sich mindestens im Zeitraum vom 25. November 2015 bis zum 24. Juni 2016 in der Russischen Föderation aufgehalten habe, antwortete die Beschwerdeführerin, dass sie mehrmals in Weißrussland und der Türkei gewesen sei, da ihr Ehemann noch kein Visum gehabt habe.

Auf weiteren Vorhalt, dass die Beschwerdeführerin bei Beamten der Grenzpolizei ausgesagt habe, dass sie via Istanbul/Türkei nach Moskau/"Russland" und dann weiter nach Tschetschenien gereist sei, um dort ihre kranke Mutter zu besuchen, und aus dem Reisepass ein Aufenthalt ab dem 25. November 2015 ersichtlich sei, rechtfertigte sich die Beschwerdeführerin, dass sie nicht nach Tschetschenien gereist sei, sondern wäre sie nach Moskau geflogen. Außerdem sei sie nicht sechs Monate im Ausland gewesen, und wenn überhaupt, dann habe sie sich in Weißrussland, der Ukraine und in der Türkei aufgehalten.

Auf weiteren Vorhalt, dass die Angaben der Beschwerdeführerin tatsachenwidrig seien, zumal sich die Beschwerdeführerin ihren russischen Reisepass am 25. September 2015 in Tschetschenien habe ausstellen lassen, gab die Beschwerdeführerin an, dass jemand ihr den Reisepass habe ausstellen lassen und ihn ihr gebracht habe. Der Vater ihrer Kinder würde sich noch in Tschetschenien aufhalten.

Über Vorhalt, wonach die Beschwerdeführerin durch mehrmalige Anwesenheit in der Russischen Föderation und durch Ausstellen eines Reisepasses klar zu erkennen gegeben habe, dass ihr im Herkunftsstaat keine Gefahr drohe und ihr daher aufgrund der Unterschutzstellung unter den Heimatstaat die Asylberechtigung abzuerkennen sei, antwortete die Beschwerdeführerin, sie habe keine Probleme mit den Behörden des Herkunftsstaates, sondern mit Banditen gehabt.

12. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. Juli 2012, 11 15.570 - BAI, zuerkannte Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.).

Unter Spruchpunkt II. wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt.

Unter Spruchpunkt III. wurde der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG zulässig ist.

Mit Spruchpunkt IV. wurde die Frist zur freiwilligen Ausreise mit 2 Wochen festgesetzt.

Nach allgemeinen Feststellungen zur Lage in der Russischen Föderation und nach Wiedergabe des Verfahrensganges hielt die belangte Behörde fest, dass jene Gründe, die zur Anerkennung als Flüchtling geführt hätten, nicht mehr vorliegen würden. Die Beschwerdeführerin habe sich einen russischen Reisepass ausstellen lassen, sei in den Jahren 2014, 2015 und 2016 nachweislich in die Russische Föderation gereist. Am 25. September 2015 habe sich die Beschwerdeführerin einen russischen Reisepass ausstellen lassen und habe die Beschwerdeführerin bei ihrer Einreise nach Österreich am 4. Juni 2016 angegeben, dass sie seit dem 25. November 2015 in Tschetschenien aufhältig gewesen wäre.

Nicht festgestellt werde könne, dass die Beschwerdeführerin nach einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat in eine bedrohliche Situation geraten würde. Es sei auch die medizinische Versorgung der Beschwerdeführerin gesichert.

In Österreich aufhältig seien die zwei minderjährigen Kinder der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin sei seit ihrer Einreise nach Österreich im Jahr 2011 nicht erwerbstätig, stehe auch in keinem Ausbildungsverhältnis und spreche kein Deutsch. Weitere Integrationsmerkmale seien nicht feststellbar gewesen.

In ihrer rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin sei mehrmals freiwillig in ihr Heimatland gereist, habe sich einen russischen Reisepass ausstellen lassen, sich dadurch wieder unter den Schutz ihres Herkunftsstaates gestellt. Da im konkreten Fall seit Zuerkennung des Status der Asylberechtigten weniger als fünf Jahre vergangen seien, sei der Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 AsylG abzuerkennen gewesen.

Die Beschwerdeführerin habe im Rahmen der Einvernahme auch keinerlei Gründe geltend gemacht, die die Gewährung subsidiären Schutzes erforderlich erscheinen lassen.

Bei einer Zusammenschau aller bekannten Umstände würden im Falle der Beschwerdeführerin auch keine Umstände überwiegen, die nicht für eine Rückkehr in ihren Herkunftsstaat sprechen.

13. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom 18. Mai 2017 wurde der Beschwerdeführerin für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die "ARGE-Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/ 3. Stock, 1170 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

14. Mit Schriftsatz vom 12. Juni 2017 wurde fristgerecht Beschwerde im Familienverfahren gegen den genannten Bescheid erhoben und die erstinstanzliche Erledigung wegen Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger Feststellungen und unrichtiger richtiger Beurteilung in vollem Umfang angefochten.

15. Ein Vollmachtswechsel samt Ankündigung einer Beschwerdeergänzung langte am 26. April 2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

16. Die Beschwerdeergänzung langte am 14. Juni 2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

17. Am 20. September 2018 fand, nachdem die Beschwerdeführerin einem für den 27. März 2018 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung unentschuldigt nicht erschien ist, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache sowie ihres Rechtsvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher die Beschwerdeführerin zu ihren Verwandten in Tschetschenien, ihrem Tagesablauf in Österreich, zu ihren Krankheiten und zu ihren Reisebewegungen in die Russische Föderation bzw. Tschetschenien befragt wurde.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, den Ergebnissen der mündlichen Beschwerdeverhandlung und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Folgendes festgestellt:

Die Beschwerdeführerin, deren Identität feststeht, ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig sowie muslimischen Glaubens. Die Beschwerdeführerin ist Mutter der minderjährigen Beschwerdeführer W147 2160966-1 und W147 2160753-1.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. Juli 2012, Zahl 11 15.570 - BAI, wurde der Beschwerdeführerin der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Im Jahr 2015 reiste die Beschwerdeführerin nachweislich in die Russischen Föderation, wo ihr am 25. September 2015 ein Auslandsreisepass der Russischen Föderation ausgestellt wurde, und hielt sich die Beschwerdeführerin zumindest vom 10. April 2016 bis zum 3. Juni 2016, sohin knapp zwei Monate, in Tschetschenien auf.

Am 4. Juni 2016 meldete die Grenzpolizei nach einer Routinekontrolle der Beschwerdeführerin am Flughafen XXXX, dass in deren russischem Auslandreisepass zwei Ausreisen aus der Russischen Föderation am 25. November 2015, 3. Juni 2016 und eine Einreise am 10. April 2016 verzeichnet sind. Die Beschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem minderjährigen Sohn.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin nach einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefe, in ihrem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden. Eine Wiedereinreise in die Russische Föderation kann ohne Gefährdung ihrer Person erfolgen.

Die Beschwerdeführerin ist Mutter zweier minderjähriger Kinder. Eine asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit alleine kann infolge der zahlreichen, über Wochen dauernden Aufenthalte in der Russischen Föderation nicht erkannt werden.

Die Beschwerdeführerin hielt laufend (telefonischen) Kontakt zu ihrer Familie und steht im ständigen Kontakt zu ihrem "Ehemann" und Vater der gemeinsamen Kinder, der in Tschetschenien lebt. Die Familienangehörigen der Beschwerdeführerin leben unter gesicherten sozialen Verhältnissen und sind keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Sie hat ein gutes Verhältnis zu ihren Familienangehörigen.

Die Beschwerdeführerin ist bis auf eine Blutanämie und Schmerzen im Bein, wegen der die Beschwerdeführerin schon im Heimatland in Behandlung war und eine für kurze Zeit aufgetretene Dermatitis im Gesicht, gesund und arbeitsfähig. In Österreich hat die Beschwerdeführerin keinerlei Ausbildungen abgeschlossen. In der Russischen Föderation hat die Beschwerdeführerin die Schule besucht und verfügt ihr nach traditionellem Ritus verheirateter "Ehemann" im Heimatland über eine Wohnmöglichkeit. Auch leben die Mutter, zwei Brüder und eine Schwester der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat. Eine weitere Schwester lebt in Italien. Die Angehörigen der Beschwerdeführerin beziehen im Herkunftsland staatliche Unterstützungsleistungen und ist die Mutter der Beschwerdeführerin Eigentümerin eines Hauses. Ein Onkel der Beschwerdeführerin lebt in Moskau. Die Beschwerdeführerin beherrscht Russisch, Tschetschenisch und ein wenig Deutsch. Bis 2011 lebte sie in der Russischen Föderation, wurde dort sozialisiert und ist mit den örtlichen Gepflogenheiten vertraut. Die Beschwerdeführerin war in Österreich nie erwerbstätig, sondern bezog staatliche Unterstützungsleistungen. Sie ist weder ehrenamtlich noch sozial engagiert, ihr soziales Umfeld beschränkt sich auf ihre zwei Kinder in Österreich und ihre Familie im Herkunftsstaat.

1.2. Hinsichtlich der relevanten Situation in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, wird zunächst prinzipiell auf die im Akt einliegenden und der Beschwerdeführerin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgehaltenen Länderfeststellungen verwiesen.

Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:

0. "Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-

Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

-

Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

0.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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