TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/27 W184 2192001-1

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Veröffentlicht am 27.11.2018
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Entscheidungsdatum

27.11.2018

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §4a
AsylG 2005 §57
B-VG Art.133 Abs4
FPG §61

Spruch

W184 2192001-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.02.2018, Zl. 17-1174583304/171311001, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 4a, 10, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen. Es wird festgestellt, dass die Anordnung zur Außerlandesbringung zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides rechtmäßig war.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei, eine weibliche Staatsangehörige Afghanistans, brachte nach der Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 22.11.2017 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass die beschwerdeführende Partei bereits am 20.10.2017 in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.

Am 22.11.2017 wurde die beschwerdeführende Partei durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen, wobei diese angab, dass sie in Österreich neben ihren zwei mitgereisten Schwestern noch einen Bruder habe. Sie hätten ihren Wohnort vor 21 Monaten in Richtung Pakistan und den Iran verlassen und seien anschließend über die Türkei nach Griechenland gelangt, wo sie von der örtlichen Polizei registriert worden seien. Anschließend hätten sie sich über Mazedonien und Serbien in das österreichische Bundesgebiet begeben. Sie hätten in keinem Land um Asyl angesucht oder ein Visum erhalten.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl richtete am 05.12.2017 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-Verordnung gestütztes Wiederaufnahmegesuch mit dem Hinweis auf den EURODAC-Treffer an Ungarn. Mit Schreiben vom 11.12.2017 teilte die ungarische Dublin-Behörde mit, dass die beschwerdeführende Partei am 20.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe und ihr am 15.11.2017 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten eingeräumt worden sei.

Am 16.01.2018 wurde die beschwerdeführende Partei vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, dass sie in Österreich einen Bruder habe, zu dem eine enge Beziehung bestehe. Sie telefoniere jeden Tag mit ihrem Bruder, und obwohl dieser ihr und ihren Schwestern monatlich etwa 200,- Euro gebe, würden sie sich nach wie vor in der Grundversorgung befinden. In Afghanistan hätten sie ebenfalls jeden Tag telefonischen Kontakt mit dem in Österreich lebenden Bruder gehabt. Sie habe in der Erstbefragung aus Angst nicht erwähnt, dass sie durch Ungarn durchgereist sei, und wolle nunmehr wegen des Aufenthaltes ihres Bruders in Österreich bleiben.

In einer Stellungnahme vom 15.01.2018 wurde vom bevollmächtigten Vertreter der beschwerdeführenden Partei im Wesentlichen ausgeführt, dass das Länderinformationsblatt mangelhaft sei und nicht den aktuellsten Stand der ungarischen Rechts- und Sachlage wiedergebe. Ungarn verstoße mit seinem Asylgesetz gegen internationale und europarechtliche Verpflichtungen. Es sei von der europäischen Kommission bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet worden.

Mit Schriftsatz vom 24.01.2018 wurde vom bevollmächtigten Vertreter der beschwerdeführenden Partei eine Arbeitsbestätigung des Bruders der beschwerdeführenden Partei vom 22.01.2018 übermittelt.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 31.01.2018 wurde vom bevollmächtigten Vertreter der beschwerdeführenden Partei zusammenfassend erneut betont, dass Ungarn seinen internationalen und europarechtlichen Verpflichtungen nicht gerecht werde und sich weit unter den vorgegebenen Mindeststandards befinde. Es würden grundlegende Defizite sowohl hinsichtlich des Zuganges zum Asylverfahrens als auch in Bezug auf dessen Ausgestaltung und im Hinblick auf die Aufnahmebedigungen während des Asylverfahrens bestehen, sodass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinn des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK drohe.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde zu Spruchpunkt I. der Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass sich die beschwerdeführende Partei nach Ungarn zurückzubegeben habe und dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Zu Spruchpunkt II. wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG die Außerlandesbringung nach § 61 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass demzufolge die Abschiebung nach Ungarn gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

Dieser Bescheid legt in seiner Begründung insbesondere auch ausführlich die Lage für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte in Ungarn dar. Im Einzelnen lauten die Länderfeststellungen folgendermaßen:

"Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte erhalten in Ungarn ihre Aufenthaltsberechtigung in Form eines ungarischen Ausweises, befristet für drei Jahre. Die Ausstellung dieses Ausweises dauert mindestens einen Monat. Schutzberechtigte dürfen nach der Entscheidung noch für 30 Tage in der Unterbringung bleiben. Wenn sie zum Zeitpunkt, da sie die Unterkunft verlassen müssen, noch keinen Ausweis haben, kann das zu Problemen bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft führen. Bei der Erneuerung des Ausweises nach drei Jahren wird geprüft, ob die Gründe für den Schutzstatus noch bestehen.

Geduldete können in der Gemeinschaftsunterkunft Balassagyarmat untergebracht werden.

...

AIDA - Asylum Information Database (2.2017): Hungarian Helsinki Committee / European Council on Refugees and Exiles: National Country Report Hungary ...

Im Jahr 2016 wurden alle Formen der Integrationsunterstützung für Schutzberechtigte in Ungarn abgeschafft, etwa bezüglich Wohnung, Spracherwerb, usw. NGOs berichten von extremen Integrationsschwierigkeiten für Schutzberechtigte nach dem Auszug aus den Unterbringungsstrukturen für Asylwerber. Wenn sie sich die Wohnungsmieten nicht leisten können, ist Obdachlosigkeit oftmals ein Problem.

...

ECRE - European Council on Refugees and Exiles (31.3.2017): Asylum in Hungary. Damaged beyond repair? ...

Kostenlose Unterkunft wird nur von der Zivilgesellschaft und Kirchen angeboten, hauptsächlich in Budapest, aber ihre Kapazitäten sind begrenzt. Die Schutzberechtigten müssen sich also privat unterbringen, wenn sie nicht obdachlos werden wollen. Die Mieten sind aber hoch und Vermieter wollen oft nicht an Flüchtlinge vermieten.

Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben in Ungarn Zugang zum Arbeitsmarkt zu denselben Bedingungen wie ungarische Staatsbürger, mit Ausnahme von Stellen, die eine ungarische Staatsbürgerschaft erfordern. Zur Beschäftigung Schutzberechtigter gibt es aber keine Statistiken. Die Sprachbarriere gilt hier als das größte Zugangshindernis. Zielgruppenspezifische staatliche Unterstützung bei der Arbeitssuche gibt es nicht, nur die allen offenstehenden Leistungen der Arbeitsämter. Die NGO Menedek verfügt daher über ein Mentoringprogramm für arbeitssuchende Schutzberechtigte. Flüchtlinge arbeiten meist im Billiglohnsektor und werden tendenziell schlechter behandelt als ungarische Mitarbeiter.

Unbegleitete Minderjährige mit Schutztitel haben ein Recht auf Bildung. Sie fallen auch unter das ungarische System der Kindeswohlfahrt nach denselben Regeln wie ungarische Kinder. Im Kinderheim in Fot betreibt die NGO Menedek ein Schulungsprogramm für die dort untergebrachten Minderjährigen. Das Zentrum und die Vormunde unterstützen die Betroffenen aktiv bei der Schuleinschreibung. Einige Schulen in Budapest haben spezielle Programme mit Fokus auf deren Bedürfnisse, aber diese Plätze sind begrenzt. Minderjährige in Berufsausbildung haben oft Probleme mit der Sprachbarriere, aber die NGO Menedek bietet auch hier Vorbereitungsklassen an. Unbegleitete Minderjährige mit Schutztitel kommen nach dem 18. Geburtstag für weitere Leistungen infrage und können ihr Recht auf Bildung behalten, bis sie 24 werden.

Seit Inkrafttreten des Dekrets 113/2016 am 1.6.2016 haben anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte für sechs Monate ab Statuszuerkennung (früher: ein Jahr) dieselben Rechte betreffend medizinische Versorgung wie Asylwerber. Ansonsten haben gemäß ungarischem Health Care Act Schutzberechtigte dieselben Rechte auf medizinische Versorgung wie ungarische Bürger. In der Praxis begegnen Schutzberechtigte denselben Problemen beim Zugang zu medizinischer Versorgung wie Asylwerber - insbesondere die Sprachbarriere, aber auch mangelndes Wissen des medizinischen Personals über die Rechte von Flüchtlingen.

...

AIDA - Asylum Information Database (2.2017): Hungarian Helsinki Committee / European Council on Refugees and Exiles: National Country Report Hungary ..."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Mitteilung der ungarischen Behörde, wonach der beschwerdeführenden Partei subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei, nicht ausreichend sei. Es handle sich um eine ausländische Urkunde, für die keinesfalls die Richtigkeitsvermutung spreche. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Schreiben einer Asylbehörde an eine ausländische Behörde den Tatsachen entspreche. Im Bescheid fehle jegliche Beweiswürdigung zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei. Die Gewährung von subsidiärem Schutz ohne einen entsprechenden Antrag stelle einen absolut nichtigen Verwaltungsakt dar. Da über den angeblichen Antrag nie schriftlich entschieden worden sei, habe die beschwerdeführende Partei auch nicht die Möglichkeit eines wirksamen Rechtsbehelfs gehabt. Die im Bescheid zitierten Feststellungen zur Lage in Ungarn würden sich in keiner Weise auf die am 28.03.2017 in Kraft getretenen Veränderungen beziehen. Daraus ergebe sich, dass die vom Verfassungsgerichtshof georteten wesentlichen Veränderungen der Sachlage in Ungarn von der Behörde bisher in keiner Weise berücksichtigt worden seien. Auch wenn sich die zitierte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes fallbezogen vorrangig auf die Lage von noch im Asylverfahren befindlichen Personen beziehe, sei vor dem Hintergrund der veralteten Länderfeststellungen nicht erkennbar, wie sich aktuell konkret die Lage von subsidiär Schutzberechtigten in Ungarn darstelle bzw. ob sich auch für diese Personen entscheidungswesentliche Verschlechterungen ergeben hätten. Zwar verweise die Behörde in diesem Zusammenhang darauf, dass im März 2016 ein Paket von Änderungen im ungarischen Asylgesetz präsentiert worden sei, dessen Ziel Verschärfungen bei der Versorgung unter anderem von Schutzberechtigten betroffen habe. Die Änderungen seien nach diesen Ausführungen am 01.04.2016 in Kraft getreten und ab 01.06.2016 umzusetzen. Es finde sich jedoch keine Darstellung der Auswirkungen auf die Betroffenen im Hinblick auf die Änderungen vom März 2017. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl werde sich daher im fortgesetzten Verfahren auf der Grundlage zeitnaher, die aktuellen Entwicklungen berücksichtigender Berichte mit der Lage auch von subsidiär Schutzberechtigten in Ungarn auseinanderzusetzen und ausgehend davon die Frage zu kären haben, ob in Ungarn aktuell für diese Personengruppe bzw. konkret für die beschwerdeführende Partei eine Situation vorherrsche, die einen Selbsteintritt (sic!) Österreichs zur Vermeidung einer Grundrechtsverletzung nach Art. 3 EMRK geboten erscheinen lasse. Weiters sei durch den Bescheid das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK verletzt worden. Die beschwerdeführende Partei habe bereits in der Einvernahme die mentale und finanzielle Unterstützung durch den Bruder hervorgehoben. Auch würden die beschwerdeführende Partei und ihre Schwestern planen, bei ihrem Bruder Unterkunft zu nehmen. Aus diesem Grund sei jedenfalls ein Überwiegen der persönlichen Interessen der beschwerdeführenden Partei am Verbleiben in Österreich zu sehen. Dies lasse den Selbsteintritt (sic!) Österreichs zur Vermeidung einer Grundrechtsverletzung nach Art. 8 EMRK geboten erscheinen.

Die beschwerdeführende Partei wurde am 22.05.2018 und zum zweiten Mal am 01.08.2018 nach Ungarn überstellt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die beschwerdeführende Partei reiste im Oktober 2017 illegal in Ungarn ein und stellte dort einen Antrag auf internationalen Schutz, woraufhin ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und sie dort Schutz vor Verfolgung fand. Zuletzt begab sich die beschwerdeführende Partei in das österreichische Bundesgebiet und brachte am 22.11.2017 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

Zur Lage im Mitgliedstaat Ungarn schließt sich das Bundesverwaltungsgericht den Feststellungen des angefochtenen Bescheides an.

Zum Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt, dass diese an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet.

Ein erwachsener Bruder der beschwerdeführenden Partei lebt seit 2002 in Österreich. Der Bruder unterstützt zwar die beschwerdeführende Partei durch Geldleistungen, diese befand sich jedoch bis zu ihrer Abschiebung weiterhin in der Grundversorgung. Irgendwelche Merkmale der Abhängigkeit zwischen der beschwerdeführenden Partei und dem angegebenen Verwandten können nicht festgestellt werden. Weitere beachtliche familiäre, private oder berufliche Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet bestehen nicht. Es liegen insbesondere noch keine konkreten Schritte zur Integration in die österreichische Gesellschaft vor, wie etwa ausreichende Sprachkenntnisse oder eine ausreichende Erwerbstätigkeit.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

2. Beweiswürdigung:

Die festgestellten Tatsachen ergeben sich aus dem Akt des Bundesamtes, insbesondere den Niederschriften.

Die Schutzgewährung in Ungarn ist aus der Mitteilung der ungarischen Behörde ersichtlich.

Die Gesamtsituation des Asylwesens im zuständigen Mitgliedstaat ergibt sich aus den umfangreichen und durch aktuelle Quellen belegten Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides, die auf alle entscheidungswesentlichen Fragen eingehen.

Der Gesundheitszustand sowie das Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Partei ergeben sich aus deren eigenen Angaben. Ein Vorbringen über etwaige Schritte der beschwerdeführenden Partei zur Integration in die österreichische Gesellschaft wurde nicht erstattet.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde:

Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 56/2018 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:

"§ 4a Ein Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn dem Fremden in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und er dort Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, in welchen Staat sich der Fremde zurück zu begeben hat.

...

§ 10 (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,

...

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

...

§ 57 (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

...

§ 58 (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

..."

§ 9 Abs. 1 und 2 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idF BGBl. I Nr. 56/2018 lautet:

"§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."

§ 61 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) idF BGBl. I Nr. 56/2018 lautet:

"§ 61 (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG oder

2. ...

(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.

(3) Wenn die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung aus Gründen, die in der Person des Drittstaatsangehörigen liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.

(4) Die Anordnung zur Außerlandesbringung tritt außer Kraft, wenn das Asylverfahren gemäß § 28 AsylG 2005 zugelassen wird."

Zur Frage der Unzulässigkeit des gegenständlichen Asylantrages schließt sich das Bundesverwaltungsgericht der Beurteilung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl an:

Die beschwerdeführende Partei erhielt in Ungarn den Status einer subsidiär Schutzberechtigten und fand dort Schutz vor Verfolgung. Falls die Befristung des Schutzes abgelaufen ist, wird dieser auf Antrag verlängert, sofern die Voraussetzungen weiterhin vorliegen.

Zu einer möglichen Verletzung von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK wurde im vorliegenden Fall Folgendes erwogen:

Gemäß Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK haben die Vertragsstaaten der EMRK aufgrund eines allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsatzes - vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen einschließlich der EMRK - das Recht, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu regeln. Jedoch kann die Ausweisung eines Fremden durch einen Vertragsstaat ein Problem nach Art. 3 EMRK aufwerfen und damit die Verantwortlichkeit dieses Staates nach der EMRK auslösen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Abschiebung mit einer realen Gefahr rechnen muss, im Zielstaat einer dem Art. 3 widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. Unter diesen Umständen beinhaltet Art. 3 die Verpflichtung, die betreffende Person nicht in diesen Staat abzuschieben (z. B. EGMR, Große Kammer, 27.05.2008, 26565/05, N., Rn. 30; Große Kammer, 28.02.2008, 37201/06, Saadi, Rn. 124-125).

Es ist auch ständige Rechtsprechung des EGMR, dass die verbotene Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen. Die Festsetzung dieses Mindestmaßes ist naturgemäß relativ; es hängt von allen Umständen des Einzelfalles ab, wie etwa der Dauer der verbotenen Behandlung, ihren physischen oder psychischen Auswirkungen und in manchen Fällen vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers, etc. Das Leid, das sich aus einer natürlich auftretenden Krankheit ergibt, kann von Art. 3 EMRK erfasst sein, wenn es durch eine Behandlung - seien es Haftbedingungen, eine Ausweisung oder sonstige Maßnahmen - verschlimmert wird, für welche die Behörden verantwortlich gemacht werden können (z. B. EGMR, Große Kammer, 27.05.2008, 26565/05, N., Rn. 29; Große Kammer, 28.02.2008, 37201/06, Saadi, Rn. 134).

Die allgemeinen Ausführungen der beschwerdeführenden Partei sind letztlich nicht geeignet, Bedenken hinsichtlich der Schutzgewährung in Ungarn zu wecken. Wie im angefochtenen Bescheid ausführlich und unter Heranziehung zahlreicher aktueller Berichte dargelegt wurde, ist in Ungarn insbesondere auch die Versorgung von Schutzberechtigten grundsätzlich gewährleistet. Kostenlose Unterkunft wird von der Zivilgesellschaft und Kirchen angeboten. Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben in Ungarn aber auch Zugang zum Arbeitsmarkt zu denselben Bedingungen wie ungarische Staatsbürger. Die beschwerdeführende Partei ist arbeitsfähig.

Nach den Länderberichten zu Ungarn kann letztlich nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ein Schutzberechtigter im Fall einer Überstellung nach Ungarn konkret Gefahr liefe, dort einer gegen das Folterverbot des Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden.

Jedenfalls hat die beschwerdeführende Partei die Möglichkeit, etwaige konkret drohende oder eingetretene Verletzungen in ihren Rechten, etwa durch eine unmenschliche Behandlung im Sinn des Art. 3 EMRK, bei den zuständigen Behörden in Ungarn und letztlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, insbesondere auch durch Beantragung einer vorläufigen Maßnahme gemäß Art. 39 EGMR-VerfO, geltend zu machen.

Zu einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC wurde erwogen:

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Der Schutzbereich des Familienlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK wird als autonomer Rechtsbegriff der EMRK in der ständigen Rechtsprechung des EGMR im Bereich des Ausländerrechts - im Unterschied zum Familienbegriff in den übrigen Rechtsmaterien - auf die Kernfamilie beschränkt, also auf die Beziehungen zwischen Ehegatten sowie zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern. Andere Beziehungen, etwa zwischen Eltern und ihrem erwachsenen Kind, fallen nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR nur dann unter den Schutz des Familienlebens, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (EGMR 30.06.2015, 39350/13, A.S., Rn. 49; 23.04.2015, 38030/12, Khan, Rn. 38; 18.11.2014, 5049/12, Senchishak, Rn. 55; 20.12.2011, 6222/10, A. H. Khan, Rn. 32; 12.01.2010, 47486/06, A. W. Khan, Rn. 32; 17.02.2009, 27319/07, Onur, Rn. 43-45; 09.10.2003, Große Kammer, 48321/99, Slivenko, Rn. 97; 10.07.2003, 53441/99, Benhebba, Rn. 36; 07.11.2000, 31519/96, Kwakye-Nti und Dufie; gelegentlich stellt der EGMR auf das Kriterium ab, ob der junge Erwachsene bereits eine eigene Familie gegründet hat, z. B. EGMR 23.09.2010, 25672/07, Bousarra, Rn. 38; vgl. Philip Czech, Das Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung ds EGMR, EuGRZ 2017, 231; vgl. auch Rudolf Feik, Recht auf Familienleben, in: Gregor Heißl [Hg.], Handbuch Menschenrechte, 2009, S. 187, Rn. 9/22). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (z. B. VfGH 09.03.2016, E 22/2016; 20.02.2014, U 2689/2013; 12.06.2013, U 485/2012;

06.06.2013, U 682/2013; 09.06.2006, B 1277/04) und des Verwaltungsgerichtshofes (z. B. VwGH 05.12.2017, 2017/20/0431, Rn. 10; 30.05.2017, Ra 2017/19/0143; 16.02.2017, Ra 2017/01/0024;

08.09.2016, Ra 2015/20/0296, Rn. 21; 02.08.2016, Ra 2016/20/0152, Rn. 7; 15.12.2015, Ra 2015/19/0149; 09.09.2014, 2013/22/0246;

16.11.2012, 2012/21/0065).

Die Rechtsfrage, ob zwischen den Beteiligten tatsächlich noch ein Familienleben im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK besteht, kann jedoch in gewissen Fällen letztlich dahingestellt bleiben, weil etwa Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die wegen des Fehlens von über die üblichen Bindungen hinausgehenden Merkmalen der Abhängigkeit nicht mehr unter den Begriff des Familienlebens fallen, unter den Begriff des ebenfalls von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens zu subsumieren sind und daher auch einen gewissen Schutz genießen, wobei allerdings bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK das Gewicht eines Privatlebens typischerweise geringer anzusetzen sein wird als das eines Familienlebens (EGMR 09.10.2003, Große Kammer, 48321/99, Slivenko, Rn. 97; 12.01.2010, 47486/06, A. W. Khan, Rn. 31 ff).

Das Privatleben ist ein weiter Begriff und einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich. So schützt Art. 8 EMRK auch ein Recht auf Identität und persönliche Entwicklung und das Recht, Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Außenwelt zu schaffen und zu entwickeln, und kann auch Handlungen beruflichen oder geschäftlichen Charakters einschließen. Es gibt daher einen Bereich der Interaktion einer Person mit anderen, selbst in einem öffentlichen Zusammenhang, der in den Bereich des "Privatlebens" fallen kann (z. B. EGMR 28.01.2003, 44647/98, Peck, Rn. 57).

Im Rahmen der durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Achtung des Privatlebens ist Schutzgut unter anderem auch die psychische und physische Integrität des Einzelnen und damit auch die körperliche Unversehrtheit. Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität, welche nicht die von Art. 3 EMRK geforderte Schwere und Intensität erreichen, sind folglich an Art. 8 EMRK zu messen (EGMR 13.05.2008, 52515/99, Juhnke, Rn. 71; VfGH 21.09.2015, E 332/2015).

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen stellen regelmäßig einen Eingriff in das Privatleben dar, weil sie die betroffene Person aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt es von den Umständen des jeweiligen Falles ab, ob es angebracht ist, sich eher auf den Gesichtspunkt des Familienlebens zu konzentrieren als auf den des Privatlebens (EGMR 23.04.2015, 38030/12, Khan, Rn. 38; 05.07.2005, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 59). Die Prüfung am Maßstab des Privatlebens ist jedoch weniger streng als jene am Maßstab des Familienlebens, weshalb letztere in der Praxis im Vordergrund steht (Ewald Wiederin, Schutz der Privatsphäre, in:

Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer [Hg.], Handbuch der Grundrechte VII/1, 2. Aufl., § 10, Rn. 52).

Wenn eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in den Schutzbereich des Privatlebens oder des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreift, ist zu prüfen, ob sie sich auf eine gesetzliche Bestimmung stützt, was im vorliegenden Fall offensichtlich zutrifft, und ob sie Ziele verfolgt, die mit der EMRK in Einklang stehen, wofür hier insbesondere die Verteidigung der Ordnung im Bereich des Fremden- und Asylwesens sowie das wirtschaftliche Wohl des Landes in Betracht kommen.

Es bleibt schließlich noch zu überprüfen, ob diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, das heißt durch ein vorrangiges soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel verhältnismäßig ist (EGMR 02.08.2001, 54273/00, Boultif, Rn. 46; 18.10.2006, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 57f; 16.04.2013, 12020/09, Udeh, Rn. 45; VfGH 29.09.2007, B 1150/07).

In diesem Sinn ordnet auch § 9 Abs. 1 BFA-VG an:

"Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist."

Nach diesem Regelungssystem ist somit anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles eine Interessenabwägung am Maßstab des Art. 8 EMRK durchzuführen. Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme darf nur erlassen werden, wenn die dafür sprechenden öffentlichen Interessen schwerer wiegen als die persönlichen Interessen des Drittstaatsangehörigen und seiner Familie an dessen weiterem Verbleib in Österreich. Bei dieser Interessenabwägung sind folgende Kriterien nach der Methode des beweglichen Systems in einer Gesamtbetrachtung zu bewerten, indem das unterschiedliche Gewicht der einzelnen Kriterien zueinander in eine Beziehung zu setzen und eine wechselseitige Kompensation der einzelnen Gewichte vorzunehmen ist (vgl. EGMR 18.10.2006, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 57f; VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101; 10.11.2015, Ro 2015/19/0001):

die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten;

die seit der Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;

die Aufenthaltsdauer im ausweisenden Staat;

die Staatsangehörigkeit der einzelnen Betroffenen;

die familiäre Situation des Beschwerdeführers und insbesondere gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren, welche die Effektivität eines Familienlebens bei einem Paar belegen;

die Frage, ob der Ehegatte von der Straftat wusste, als die familiäre Beziehung eingegangen wurde;

die Frage, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und welches Alter sie haben;

die Schwierigkeiten, denen der Ehegatte im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers begegnen könnte;

das Wohl der Kinder, insbesondere die Schwierigkeiten, denen die Kinder des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat begegnen könnten;

die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsstaat.

Der Grad der Integration manifestiert sich nach der Rechtsprechung insbesondere in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben und der Beschäftigung (VfGH 29.09.2007, B 1150/07). Diese sowie einige weitere von der Rechtsprechung einzelfallbezogen herausgearbeiteten Kriterien für die Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK werden auch in § 9 Abs. 2 BFA-VG aufgezählt.

Nach der Rechtsprechung des EGMR (EGMR 31.07.2008, 265/07, Darren Omoregie u. a.) stellen die Regeln des Einwanderungsrechtes eine ausreichende gesetzliche Grundlage in Hinblick auf die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dar. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine aufenthaltsbeendende Maßnahme, welche dem öffentlichen Interesse an der effektiven Durchführung der Einwanderungskontrolle dient, nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes kommt der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VfGH 29.09.2007, B 328/07; VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247; 22.01.2013, 2011/18/0012).

Auch bei einem Eingriff in das Privatleben misst die Rechtsprechung im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dem Umstand wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein. Grundsätzlich ist nach negativem Ausgang des Asylverfahrens - infolge des damit einhergehenden Verlustes des vorläufig während des Verfahrens bestehenden Rechts zum Aufenthalt und sofern kein anderweitiges Aufenthaltsrecht besteht - der rechtmäßige Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet wiederherzustellen (VfGH 12.06.2013, U 485/2012; VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247).

Im vorliegenden Fall hat die mit dem angefochtenen Bescheid getroffene Entscheidung die Trennung der beschwerdeführenden Partei von ihrem erwachsenen Bruder zur Folge, der in Österreich aufhältig ist. Daher stellt die aufenthaltsbeendende Maßnahme einen Eingriff in den Schutzbereich des Privatlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK dar. Der Schutzbereich des Familienlebens wird nicht berührt, weil zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit, die über die üblichen Bindungen hinausgehen, nicht bestehen, auch wenn die Verwandten einander gewiss in Beruf und Alltag auf vielfältige Weise mit Rat und Tat zur Seite stehen könnten.

Die Interessenabwägung nach den Gesichtspunkten des § 9 BFA-VG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 52 Abs. 1 GRC, insbesondere der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Asylwesens sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes, führte zu dem Ergebnis, dass die für die aufenthaltsbeendende Maßnahme sprechenden öffentlichen Interessen schwerer wiegen als die persönlichen Interessen der Beteiligten.

Denn die beschwerdeführende Partei verbrachte den Großteil ihres Lebens im Herkunftstaat und reiste erst vor wenigen Monaten in das österreichische Bundesgebiet ein. Sie verfügte zu keinem Zeitpunkt über einen regulären Aufenthaltstitel in Österreich, sondern stützte ihren Aufenthalt vielmehr nur auf den zeitweiligen faktischen Abschiebeschutz aufgrund des gegenständlichen unzulässigen Antrages auf internationalen Schutz.

Eine finanzielle Unterstützung durch den Bruder kann die beschwerdeführende Partei nicht nur in Österreich, sondern auch in Ungarn erhalten. Zudem besteht nach den Schengen-Bestimmungen die Möglichkeit zur - wenn auch eingeschränkten - Fortsetzung des Privatlebens im Rahmen von regelmäßigen Besuchen im Ausmaß von bis zu drei Monaten.

Art. 21 Abs. 1 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) lautet:

"Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einer der Vertragsparteien ausgestellten Aufenthaltstitels sind, können sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments höchstens bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien bewegen, soweit sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a), c) und e) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste der betroffenen Vertragspartei stehen."

§ 31 Abs. 1 Z 3 FPG ordet Folgendes an:

"(1) Fremde halten sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf,

...

3. wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt)

..."

Weiters war zu berücksichtigen, dass die beschwerdeführende Partei strafgerichtlich unbescholten ist. Etwaige Schritte zur Integration in die österreichische Gesellschaft wurden nicht einmal behauptet.

Schwer ins Gewicht fällt jedoch die Missachtung der österreichischen Einreise- und Einwanderungsvorschriften durch die beschwerdeführende Partei. Die Verfahren nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) stellen in Österreich den gesetzlich vorgesehenen Weg für einwanderungswillige Drittstaatsangehörige dar, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen, etwa auch zum Zweck der Familienzusammenführung (vgl. § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG). Gegen die Entscheidung der zuständigen Einwanderungsbehörde stehen letztlich auch noch Rechtsbehelfe an ein Verwaltungsgericht sowie an den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof offen. In einem Verfahren nach den Bestimmungen des NAG sind aber auch die öffentlichen Interessen, insbesondere am wirtschaftlichen Wohl des Landes, entsprechend in die Prüfung einzubeziehen (z. B. Einkünfte, Integrationsvereinbarung, Quotenplatz), wird doch das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht absolut verbürgt, sondern nur unter Gesetzesvorbehalt. Hingegen kann nach der maßgeblichen Rechtsprechung ein allein durch Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken. Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung der illegalen Einwanderer gegenüber den sich rechtstreu verhaltenden Drittstaatsangehörigen führen und den Bemühungen der Europäischen Union zur Bekämpfung der illegalen Sekundärmigration von einem Mitgliedstaat in einen anderen zuwiderlaufen (vgl. EGMR 08.04.2008, 21878/06, Nnyanzi; VfGH 12.06.2010, U 613/10).

Wenn es also letztlich zwar auf der Hand liegt, dass für die Betroffenen ein Aufenthalt der beschwerdeführenden Partei in Österreich und somit in größerer Nähe zu dem angegebenen Familienangehörigen vorteilhafter wäre, so überwiegen bei der Interessensabwägung dennoch klar die Interessen an der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Asylwesens sowie am wirtschaftlichen Wohl des Landes.

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt daher insgesamt zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung von Bestimmungen der GRC oder der EMRK zu befürchten ist.

§ 21 Abs. 6a BFA-VG lautet:

"Unbeschadet des Abs. 7 kann das Bundesverwaltungsgericht über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde, der diese von Gesetz wegen nicht zukommt (§ 17) oder der diese vom Bundesamt aberkannt wurde (§ 18), und über Beschwerden gegen zurückweisende Entscheidungen im Zulassungsverfahren ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung entscheiden."

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Denn das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

Außerlandesbringung, medizinische Versorgung, Mitgliedstaat, real
risk, Rechtsschutzstandard, subsidiärer Schutz, Versorgungslage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W184.2192001.1.00

Zuletzt aktualisiert am

12.02.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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